Tatsächlich ist dieser (scheinbare) Widerspruch das große Rätsel der Quantenmechanik: Wie kann man die quantenmechanische Überlagerung von Zuständen in Einklang bringen mit Messungen, in denen sich Teilchen nach den Regeln der klassischen Physik verhalten, und deshalb in einem eindeutigen, klassischen Zustand sind? Das ist das berühmte Messproblem der Quantenmechanik, das in ganz unterschiedlicher Weise interpretiert werden kann. Über die Interpretation kann man sich beliebig lange streiten – zum Glück ist für alle praktischen Zwecke klar, was in einer bestimmten Situation passiert.
Ich stelle mich hier deshalb erst einmal auf einen pragmatischen Standpunkt: Führt man eine Messung an einem Quantenobjekts durch, dann beeinflusst diese Messung den Zustand so, dass das Objekt hinterher in dem gemessenen Zustand ist. Klingt kompliziert? Nehmen wir wieder unser Beispiel von oben, ein Teilchen in einem Zustand
a |hier> + b |da>
Wenn ich jetzt gucke, wo das Teilchen tatsächlich ist, dann finde ich es entweder hier oder da (es gibt keine halben Teilchen, die ich messen könnte). Hinterher (also nach der Messung) ist der Zustand also entweder |hier> oder |da>, es ist also entweder a=1 oder b=1 (und der andere Zahlenwert ist Null). Also: Nach einer Messung ist das System in dem Zustand, der zur Messung passt.
Das gilt auch, wenn sich das System in einer Überlagerung aus mehr als zwei Zuständen befindet. Messe ich also bei einem Teilchen im Zustand
a |hier> + b |da> + c | dort>
das Teilchen “hier”, dann ist es hinterher im Zustand |hier>.
Etwas komplizierter wird die Sache, wenn man bei der Messung nur eine Teilinformation bekommt. Schaue ich beispielsweise bei meinem Teilchen, das in der Drei-Zustand-Überlagerung ist, “hier” nach und stelle fest, dass es nicht “hier” ist, dann ist es hinterher in einem Überlagerungszustand aus |da> und |dort>:
b’ |da> + c’ | dort>
Die Zahlen b’ und c’ müssen jetzt (weil ja die Wahrscheinlichkeitsamplitude für den |hier>-Anteil Null ist) wieder 1 ergeben, wenn man sie quadriert und addiert. Dabei ändert sich das Verhältnis der beiden nicht, es ist also b/c=b’/c’. Nehmen wir als Beispiel an, dass vorher die drei Koeffizienten die Werte
hatten (ihr könnt euch schnell überzeugen,dass das ein zulässiger Zustand ist, weil die Summe der Quadrate 1 ergibt), dann haben wir hinterher die Werte
(Wer mag, darf es als kleine Übung gern nachrechnen.)
Die allgemeine Regel für das, was bei einer Messung mit einem Überlagerungszustand passiert, geht also so:
Schreibe den Überlagerungszustand hin. Setze alle Wahrscheinlichkeitsamplituden gleich Null, die nicht zur Messung passen. Passe die übrigen Wahrscheinlichkeitsamplituden so an, dass die Summe ihrer Quadrate immer noch 1 ergibt und dass ihr Verhältnis (oder ihre Verhältnisse) unverändert bleibt.
Bei einer Messung passiert also etwas Seltsames – der Zustand eines Systems ändert sich durch die Messung schlagartig. Das ist bereits die “spukhafte Fernwirkung”, über die sich Einstein so echauffiert hat – stellt euch vor, “hier” wäre genau hier, und “da” wäre bei Alpha Centauri. Wenn ihr das Teilchen jetzt hier entdeckt, dann ändert sich der Zustand bei Alpha Centauri schlagartig, obwohl das ein paar Lichtjahre sind und sich doch keine Signale mit Überlichtgeschwindigkeit ausbreiten dürfen.
Mit einem einzigen Teilchen lässt sich das allerdings nicht ohne weiteres nachweisen – es könnte ja sein, dass wir den Zustand des Teilchens einfach vorher nicht richtig kannten und in Wahrheit war es die ganze Zeit schon hier und nicht da. Um nachzuweisen, dass es diesen seltsamen Quanteneffekt wirklich gibt, braucht man mehrere Teilchen, deren Zustände miteinander gekoppelt werden – das ist die berühmte “Verschränkung”, aber dazu schreibe ich ein andermal mehr.
Die Bedeutung der Wahrscheinlichkeitsamplituden
Bisher waren unsere “Wahrscheinlichkeitsamplituden” a,b und c einfach nur irgendwelche Zahlen. Ich habe mich aber davor gedrückt zu sagen, was sie bedeuten. Der Name “Wahrscheinlichkeitsamplitude” legt bereits nahe, dass sie etwas mit Wahrscheinlichkeiten zu tun haben (sonst wäre es ein wirklich wirklich saublöder Name) und so ist es auch. Die Amplituden selbst sind allerdings nicht die Wahrscheinlichkeiten, sondern ihre Quadrate sind es.Messe ich den Zustand eines Teilchens, so bekomme ich die jeweils möglichen Werte mit der entsprechenden Wahrscheinlichkeit, also im Beispiel oben a² für den Zustand |hier> und b² für den Zustand |da>. Welchen Zustand ich messe, wenn ich nur eine einzige Messung mache, weiß ich natürlich vorher nicht, das entscheidet der Zufall, und bisher ist es noch niemandem gelungen, hinter diesem Zufall ein tieferes Gesetz zu finden. Bei einer Einzelmessung weiß ich also nicht, was rauskommt – es sei denn, eine der Wahrscheinlichkeitsamplituden ist gleich 1 (und die anderen gleich Null), dann ist die Sache klar.
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