Letztes Jahr im März habe ich von einer Arbeit erzählt, in der der Vorfahr der Plazentalia (alle Säugetiere außer den Beuteltieren, dem Schnabeltier und dem Schnabeligel) rekonstruiert wurde. Dabei ging es insbesondere um die Frage, wann der letzte gemeinsame Vorfahre aller Plazentalia lebte. Das paper kam zu dem Schluss, dass dieser Vorfahr erst nach der Kreidezeit, also dem Ende der Dino-Zeit, gelebt hat. Eine neue Arbeit allerdings zweifelt daran ein wenig, um es vorsichtig auszudrücken.
Das Original-paper von O’Leary et al. (erschienen bei Science) hat einen Stammbaum (ein Kladogramm) erstellt, das auf der Analyse von 86 teils lebenden, teils fossilen Arten beruhte. (Details dazu findet ihr in meinem Artikel vom März, siehe den Link oben.) Diesen Stammbaum zu erstellen und darauf basieren dRückschlüsse auf den letzten gemeinsamen Vorfahren der Plazentalia zu ziehen ist sicher eine gute Leistung und macht den eigentlichen kern der Arbeit aus, an dem es auch keinen Zweifel gibt, auch wenn Kladogramme immer mit einer gewissen Unsicherheit behaftet sind. (Wie Kladogramme funktionieren habe ich ja schon vor Ewigkeiten erklärt…)
Allerdings zog das paper noch einen weiteren Schluss, nämlich eben den, dass der gemeinsame Vorfahre aller Plazentalia nach dem Ende der Kreidezeit gelebt hatte. Wie genau man zu diesem Schluss kam, war für mich nicht nachzuvollziehen, und ich schrieb damals:
Leider muss ich zugeben, dass mir weder aus dem paper noch aus anderen Artikeln genau klar wurde, wie die Zeit für diesen Punkt genau festgelegt wurde – warum kann der gemeinsame Vorfahr nicht schon in der Kreidezeit gelebt haben, so dass sich bereits dort die ersten Untergruppen der Placentalia bildeten?
Und genau um dieses Problem geht es hier. Denn vorgestern ist bei “biology letters” eine Arbeit von dos Reis et al. erschienen, deren Titel eigentlich schon alles sagt: “Neither phylogenomic nor palaeontological data support a Palaeogene origin of placental mammals” [Grob übersetzt: “Weder phylogenomische (sagt man das im Deutschen so??) noch paläontologische Daten belegen einen Ursprung der Plazentalia im Paläogen”]
Die Autoren werfen O’Leary et al. einen wirklich simplen Fehler vor, nämlich den, dass sie den zeitpunkt, zu dem das älteste bekannte Fossil eines Plazenta-Säugetiers gelebt hat, mit dem gleichsetzen, zu dem der letzte gemeinsame Vorfahr aller Plazentalia gelebt hat. In den etwas bissigen Worten aus der Arbeit:
O’Leary et al. [8] recognize that ‘Ghost lineage estimates are minimum divergence dates and may underestimate the timing of actual splits’, but they subsequently abandoned this premise and accepted their fossil-based minimum-age constraints as though they were divergence times ancestor. … However, in attempting to date a clade, this exercise is akin to estimating the age of a mother by using the age of her oldest child. [Hervorhebung von mir]
[O’Leary et al. [8] erkennen zwar an, dass ‘Schätzungen von “ghost lineages” minimale Zeiten für die Aufspaltung [gemeint ist: Von evolutionären Linien] liefern und die tatsächliche zeit einer Aufspaltung unterschätzen können’, aber sie vergessen dann diese Tatsache und akzeptieren ihre auf Fossilien basierenden minimalen Werte des Alters als wären sie die Zeiten der Aufspaltung. Beim Versuch, das Alter einer Klade zu bestimmen, ist das etwa so, als würde man das Alter einer Mutter abschätzen, in dem man das ihres ältesten Kindes verwendet. [Hervorhebung von mir]]
(Meine Übersetzung ist etwas holprig, wörtliches übersetzen von Wissenschaftsenglisch finde ich immer sehr schwierig, weil die englische Wissenschaftssparche meist etwas kompakter ist als die deutsche und weil ich oft auch gerade im Bereich Biologie nicht die richtigen deutschen Fachausdrücke parat habe.)
Mit “ghost lineage” (“Geisterlinie”) ist der Teil eines Stammbaums gemeint, für den man keine Fossilien hat, in diesem Fall also die Lücke zwischen dem letzten bekannten gemeinsamen Vorfahren von Plazentalia und Beuteltieren und dem ersten Plazenta-Säugetier.
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