In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift “Forschung und Lehre” findet sich direkt auf Seite 3 der monatliche Standpunkt. Diesmal geht es um “Die Universität als Anwesenheitsinstitution”. Anlass des Artikels ist ein Beschluss der nordrhein-westfälischen Landesregierung, die es Lehrenden untersagt, die Anwesenheit von Studis in Lehrveranstaltungen zu kontrollieren. Standpunkt-Autor Prof. Rudolf Stichweh meint, genau so gut hätte man gleich die Universitäten als Ganzes abschaffen können.
Erst einmal ein paar Fakten – es geht bei der Regelung nicht um jede Art von Veranstaltung – selbstverständlich kann die Anwesenheit bei einer praktischen Übung, einer Exkursion oder einem Sprachkurs verpflichtend sein, wie wir hier lesen können. O.k., Einzelheiten sind wohl noch zu klären, was etwa Seminare angeht – wenn dort viel diskutiert wird, mag eine Anwesenheitspflicht ja sinnvoll sein. Aber darum geht es Prof. Stichweh nicht – er sieht die Universitäten als Ganzes gefährdet, denn die physische Anwesenheit gehört seiner Ansicht nach zum Kern einer Universität:
Das Lehren und Lernen in der Universität vollzieht sich unter der Bedingung der physischen Anwesenheit aller Beteiligten in ein und demselben Raum wechselseitiger Wahrnehmung,
Wow – so einen Satz würde ich in meinem Kurs zum “Wissenschaftlich Präsentieren” erst mal anmarkern – “in ein und demselben Raum wechselseitiger Wahrnehmung”? Aber gut, manchmal drücken Leute sich ja gern kompliziert aus, gerade an dieser Stelle. Lassen wir das mal so stehen und kümmern uns lieber um das Argument als solches. Warum ist denn die Anwesenheit so wichtig? Dazu erfahren wir:
Man wird diese Stabilität der Universität als Anwesenheitsinstitution so verstehen dürfen, dass es Gründe in der Verfasstheit komplexer intellektueller Lernprozesse gibt, die das Lernen in physischer Anwesenheit aller Beteiligten begünstigen. Es geht vermutlich um die Entwicklung des Arguments in Anwesenheit derjenigen, an die es adressiert ist, um die Möglichkeit der Rückfrage durch diese, um die Interaktion unter denjenigen, die als Lernende beteiligt sind.
Aha – es geht also (vermutlich? Evidenz gibt es also nicht?) erst mal darum, dass es wichtig ist, dass die Studis erleben können, wie ein Argument entwickelt wird. Ja, das klingt plausibel. Obwohl – dazu gibt es doch auch Bücher? Kann man in Büchern keine Argumente entwickeln? Liest Herr Stichweh keine Forschungsartikel oder Bücher, sondern ruft die KollegInnen immer an, um sich die neusten Forschungsergebnisse erklären zu lassen? Anscheinend sit das so, denn später schreibt er:
Die Kompetenz der Lehrenden, in Anwesenheit etwas zu vermitteln, was ohne diese nicht erreichbar ist, wird faktisch bestritten
Es gibt seiner Ansicht nach also tatsächlich (nicht praktisches, denn dafür gilt die Regel ja nicht) Wissen, dass man nur mündlich in einer Vorlesung vermitteln kann? Vielleicht sollte man dann konsequenterweise die Bibliotheken abschaffen?
Aber was ist mit der Nachfrage – in einer Vorlesung kann man doch nachfragen, wenn man etwas nicht verstanden hat, das geht bei einem Buch nicht. Richtig – aber die Realität sieht ja leider anders aus. In den meisten Vorlesungen wird nicht nachgefragt – die Studis hören zu, schreiben eventuell mit (bei mir meist nicht, dazu gibt es Folienkopien zum download einschließlich der von mir in der Vorlesung eingebauten Notizen), und als Dozent muss ich versuchen, an der Reaktion der Studis abzulesen, ob sie etwas verstehen oder nicht. Gerade in Großveranstaltungen mit Hundert oder mehr ZuhörerInnen (solche halte ich im Moment nicht) ist die Hemmschwelle zum Nachfragen so groß, dass es in 90 Minuten meist nur eine Handvoll Fragen gestellt werden – wenn überhaupt. Vielleicht ist das in den Vorlesungen bei Herrn Stichweh ja lobenswert anders und diese sind ein Ort lebhafter Diskussion – dann wären sie aber die große Ausnahme.
Danach schreibt Stichweh über Forschung und Labore – da dort die neue Regelung aber ja nicht greift (logischerweise muss ein Studi, der eine experimentelle Masterarbeit schreibt, auch selbst im Labor stehen…), ist das aber kein Argument, sondern eher eine Ablenkung.
Später schreibt Stichweh dann
Damit tritt eine autodidaktische Universität an die Stelle der Anwesenheitsinstitution
Ich weiß nicht, wie es bei euch war (falls ihr studiert habt) – aber bei mir war das Lernen für die Uni immer im wesentlichen ein autodidaktisches Erlebnis. Klar, es gab Vorlesungen, da bekam man mit, was wichtig war und was nicht, aber das eigentliche Lernen vollzog sich zum großen Teil außerhalb des Hörsaals am Schreibtisch – allein oder mit den KommilitonInnen. Und auch ein Blick in aktuelle Modulbeschreibungen belegt das – der Lernaufwand für eine typische Vorlesung bei uns wird mit 150 Stunden (5 “Leistungspunkte”) angesetzt – davon entfällt weniger als ein Drittel auf die zwei Stunden Vorlesung plus eine Stunde Übung pro Woche.
Meine eigene Erfahrung an der Uni (als Studi, vor laaaanger Zeit) war so, dass ich in den meisten Vorlesungen immer brav anwesend war. Es gab aber auch Ausnahmen – beispielsweise die Quantenmechanik-Vorlesung. Der Prof dort hatte einen – für mich, andere fanden ihn gut – so wirren Vortragsstil, dass ich nach einigen Wochen nicht mehr hingegangen bin und mich lieber mit einem Kumpel in die Cafeteria zurückgezogen habe, um dort das berühmte Lehrbuch von Landau/Lifshitz zu lesen und zu diskutieren. In anderen Vorlesungen war ich teilweise zwar physisch anwesend, hörte aber nur mit halbem Ohr zu. (Auch eine Gefahr der Anwesenheitspflicht – man gerät in versuchung zu denken, man habe allein durch körperliches Da-sein schon etwas geleistet.) Und zu jedem Semesteranfang habe ich mitgeholfen, die neuen Studis zu betreuen und habe meist die ersten ein oder zwei Vorlesungen verpasst – ein Problem war das eigentlich nie. Warum also soll die Anwesenheit so wichtig sein?
Dieser Satz hier lässt aufhorchen:
Vermutlich sollen die Studierenden für andere Engagements freigesetzt werden, was einen prinzipiellen Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Universität dokumentiert.
Hmm – vielleicht geht es eigentlich um etwas ganz anderes bei Stichwehs Verteidigung der Anwesenheitspflicht? Studierende werden freigesetzt für andere Engagements. Da es vermutlich nicht das Ziel der Landesregierung von NRW ist, die Studis zu anderen Tätigkeiten zu verpflichten, bedeutet das doch wohl, dass die Studis selbst entscheiden können, was sie mit ihrer Zeit anfangen. Und da mag es ja gute Gründe geben, nicht zu einer Vorlesung zu kommen – vielleicht muss jemand sein Studium durch abendliches kellnern finanzieren und ist morgens einfach zu müde für den Hörsaal. Oder jemand hat Kinder, die betreut werden müssen. Oder jemand lernt einfach besser aus Büchern als aus Vorlesungen – vielleicht, weil man dort alles zwei Mal lesen kann oder weil dort Argumente oft sauberer formuliert werden können als in frei gesprochenen Vorlesungen (wo man sich ja manchmal auch beim Erklären verhaspelt – ich jedenfalls). Oder weil jemand ein Sprachproblem hat. Oder jemand war am abend vorher schlicht auf der Audimax-Party.
Eigentlich geht hier meiner Ansicht nach um Macht – wenn Vorlesungen verpflichtend sind, dann muss der Dozent oder die Dozentin die Studis nicht überzeugen, dass ein Besuch der Vorlesung sinnvoll ist, die haben ja eh keine Wahl. Ohne Anwesenheitspflicht dagegen konkurriere ich als Dozent mit Skript, Buch oder Lerngruppe und muss mir entsprechend Mühe geben, um die Studis zu überzeugen, tatsächlich zu kommen. Und wenn nach einigen Wochen die Zahl der Studis plötzlich drastisch schrumpft, dann muss ich mich möglicherweise der Tatsache stellen, dass meine Vorlesung nicht ankommt.
Meiner Ansicht nach sollte man Studis wie Erwachsene behandeln, die selbst wissen, was richtig für sie ist und die selbst entscheiden können, welche Lernform die Richtige ist. Deswegen gibt es Skripte oder Bücher für diejenigen, die an meiner Vorlesung nicht teilnehmen können oder wollen (vielleicht passt auch jemandem mein Vortragsstil nicht). Wer nicht kommt, von dem nehme ich an, dass er einen guten Grund dafür hatte (und sei es die Audimax-Party, man ist ja nur einmal jung). Klar, die Erfahrung zeigt, dass trotz aller Skripte und Bücher die Anwesenheit in der Vorlesung hilft, insbesondere dabei, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen und Zusammenhänge herzustellen (das ist in Büchern manchmal nicht so einfach), aber es geht auch ohne – wie übrigens einige Studis in der Vergangenheit bewiesen haben, die nur mit Hilfe von Skript und elektronischer Unterstützung die Prüfung erfolgreich absolviert haben. Vorlesungen sind ein Lehrangebot- nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wem das Angebot nützt, der nimmt es wahr, wer lieber anders lernt, der möge das tun.
Was meint Ihr? Ist eine Anwesenheitspflicht in Frontal-Lehrveranstaltungen sinnvoll? Notwendig? Oder doch überflüssig?
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