Dass die Raumzeit gekrümmt ist, ist ja gewissermaßen der Kern der Allgemeinen Relativitätstheorie. Im ersten Teil dieses Artikels habe wir allerdings gesehen, dass die Interpretation dieser Aussage nicht unbedingt eindeutig ist – wir können uns den “gekrümmten Raum” auch anders vorstellen, nämlich als ein Feld, das in einem ungekrümmten Raum lebt, aber alle Maßstäbe “in genau gleicher Weise” verzerrt. Eigentlich sollte ich jetzt etwas über die Zeit schreiben, aber das muss noch etwas warten. Ich habe nämlich gerade gemerkt, dass das “in genau gleicher Weise” arg missverständlich ist. (Jedenfalls habe ich gestern gemerkt, dass ich es immer etwas missverstanden habe.) Deshalb gucke ich heute noch etwas genauer hin, was das eigentlich bedeuten soll.
Warnung: Wie so oft, wenn ich versuche, mir physikalische Theorien zu veranschaulichen, habe ich mir die meisten Beispiele und Überlegungen hier selbst zusammengebastelt. Ich übernehme deswegen wie üblich keine Garantie, dass alles stimmt – falls jemand Fehler entdeckt, hinterlasst einen Kommentar. Ansonsten habe ich keine Ahnung, ob diese Überlegungen hier eurer Anschauung auf die Sprünge helfen oder alles nur unnötig verkomplizieren – mir hat der Gedankengang hier jedenfalls ziemlich weitergeholfen.
Schauen wir nochmal auf unsere Platte mit dem Temperaturfeld vom letzten Mal:
Stellt euch vor, ihr seid am “Äquator” (also in der Mitte der Platte im blauen Bereich) und nehmt zwei Kugeln, die ihr genau nach Norden rollt. Wenn ihr das tut, stellt ihr fest, dass sich die beiden Kugeln annähern, weil sich eure Maßstäbe ja auf dem Weg nach Norden wegen der höheren Temperatur verlängern. Im Bild der Kugeloberfläche ist das natürlich vollkommen klar – ich recycle mal ein älteres Bild:
Zwei Kugeln, die am Äquator parallel zueinander nach Norden losrollen, treffen sich schließlich am Nordpol. Auf der Oberfläche einer Kugel gibt es ja keine parallelen Linien, die sich nie schneiden.
Als nächstes bohren wir jeweils ein Loch in die Kugeln und schieben sie auf einem starren Draht, so dass sie auf dem Draht reibungsfrei gleiten können (ich weiß, in der SRT gibt es keine unendlich starren Materialien, wir nehmen erst mal das steifste und festeste Material, das wir bekommen können, meinetwegen Ynkelonium-Terkonit, kurz Ynketerk). Jetzt nehmen wir die ganze Konstruktion (Draht mit Kugeln drauf) und schieben sie kräftig vom Äquator aus nach Norden an. Was wird passieren?
Im Kugel-Bild ist das leicht zu sehen: Die Kugeln näher sich einander an, genau wie vorher – da der Draht starr ist, passiert ihm scheinbar nichts, so dass die Kugeln auf dem Draht nach Innen gleiten. Im Bild mit dem Temperaturfeld bewegen sich die Kugeln senkrecht nach oben im Bild – der Stab aber dehnt sich immer weiter aus, so dass die Kugeln nach innen gleiten. Nach wie vor können wir die beiden Situationen nicht unterscheiden.
Als nächstes machen wir die Sache etwas realistischer: Die Kugeln gleiten nicht mehr ganz reibungsfrei, sondern schubbern auf dem Draht entlang. Dann werden die Kugeln nicht mehr genau ihrer Bahn nach Norden folgen, sondern etwas seitlich abgelenkt, so dass der Abstand zwischen ihnen größer wird als vorher. Umgekehrt üben die Kugeln eine Kraft auf den Draht aus (was diesem nichts macht, weil er ja aus Ynkelonium-Terkonit ist, so dass er sich praktisch nicht verformt.)
Jetzt machen wir die Sache noch etwas realistischer: Der Draht ist aus einem gewöhnlichen Material, beispielsweise Aluminium. Die Kugeln, die auf dem Draht reiben, üben jetzt eine Kraft auf den Draht aus, der diesen daran hindert, sich so auszudehnen, wie er es “eigentlich” tun möchte. Verglichen mit unserem Ynkelonium-Terkonit-Draht wird also der Alu-Draht auf seinem Weg nach Norden etwas kürzer sein, weil die Kugeln ihn am Ausdehnen hindern (jedenfalls in dem Bereich zwischen den Kugeln). Im Extremfall können wir auch sehr schwere Kugeln nehmen und sie am Ende des Drahtes festkleben, dann drücken die Kugeln den Draht richtig zusammen. (Anmerkung: Wenn ihr euch das im Bild der Erdkugel vorstellen wollt, dann geht das vielleicht am besten, wenn ihr annehmt, dass die Kugeln und der Draht auf einer Umlaufbahn um die Erde kreisen – die Bahnen von zwei Satelliten, die anfänglich parallel laufen, kreuzen sich irgendwann, also gibt es zwischen ihnen eine Kraft.)
Wie der Draht oben im Norden ankommt, hängt davon ab, wie schnell wir ihn verschieben – wenn wir ihn sehr langsam nach Norden schieben, dann reicht die Kraft im Draht aus, um die schweren Kugeln wieder nach Außen zu verschieben, schießen wir ihn mit hoher Geschwindigkeit nach Norden, dann klappt das nicht und der Draht wird gestaucht. Wie stark der Draht genau zusammengedrückt wird, hängt natürlich auch von der Steifigkeit des Materials ab, also davon, welche Kraft er dem Zusammendrücken entgegensetzt. Je “weicher” das Material ist, desto stärker lässt es sich zusammendrücken.
Und jetzt denken wir uns die Kugeln auf dem Draht weg und betrachten nur den Draht selbst. Der besteht ja auch aus “Kugeln”, nämlich aus Atomen. Wenn wir den Draht in einem ungekrümmten, flachen Raum (oder in einem Raum mit konstanter Temperatur, je nachdem, welches Bild ihr verwenden wollt) durch die Gegend schieben (hinreichend langsam, damit wir die Beschleunigung der Atome vernachlässigen können, sonst gibt es elastische Wellen im Draht), ist die Kraft, die auf jedes Atom wirkt, gleich Null, die Atome sind alle im Gleichgewichtsabstand.
Beim Bewegen nach Norden auf der heißen Platte ändert sich jetzt der Gleichgewichtsabstand zwischen den Atomen, er wird größer. Schiebe ich den Stab nach Norden, dann folgen die einzelnen Atome zunächst der Bahn nach Norden und würden sich annähern; da sich der Gleichgewichtsabstand zwischen den Atomen ändert, erfahren die Atome eine Kraft nach Außen, der Stab steht also unter Druck.
Solange ich alles hinreichend langsam verschiebe, sorgt diese Kraft dafür, dass die Atome zu jedem Zeitpunkt ihren Gleichgewichtsabstand einnehmen. Schiebe ich den Stab aber sehr schnell, dass hängt es vom Material ab, was passiert: Im Stab aus Ynkelonium-Terkonit ist die Kraft zwischen den Atomen so groß, dass sie ebenfalls immer den Gleichgewichtsabstand haben – dieser Stab dehnt sich also genau entsprechend dem Bild mit den Kreisen von oben. Der Stab aus Aluminium dagegen wird durch die Bewegung der Atome ein wenig gestaucht (zusätzlich gibt es dann noch elastische Wellen im Stab und weitere Komplikationen), er wird also etwas kürzer sein als der Ynketerk-Stab. Und wenn ich mir einfach eine Kette aus Atomen vorstelle, zwischen denen gar keine Kraft wirkt, dann tun die genau das, was auch unsere Kugeln am Anfang getan haben – sie bewegen sich aufeinander zu (und im Extremfall treffen sie sich alle am Nordpol).
Die Aussage, dass sich alle Materialien in unserem Modell “gleich stark dehnen” bedeutet also genau genommen, dass die Gleichgewichtslängen zwischen den Atomen (die den Maßstab für die Objekte unseres Alltags setzt) sich alle gleich dehnen, egal welches Material wir haben. Es bedeutet aber nicht, dass wir diese Dehnung nicht beobachten können – die Effekte der Dehnung sehen wir eben zum Beispiel daran, dass der Alustab unter Druck steht, wenn wir ihn nach Norden schieben. Entscheidend ist der Unterschied zwischen dem Abstand bei der Bewegung freier Teilchen (wie unseren Kugeln) und dem Maßstab, der durch den Gleichgewichtsabstand unserer Atome gesetzt ist.
Wir können die Logik jetzt auf die “echte” Raumkrümmung und die ART übertragen. Am einfachsten ist der Fall eines expandierenden Universums – das habe ich schon vor einiger Zeit ausführlich abgehandelt. Betrachten wir wieder unsere zwei Kugeln, die sich auf einem Draht befinden. Wenn das Universum sich ausdehnt, dann entfernen sich die beiden Kugeln voneinander. Der Draht dagegen behält seine Länge bei (und so lange die Ausdehnung mit konstanter Rate stattfindet, erfährt er auch keine Kraft, wie ich in dem verlinkten Text erklärt habe), die Kugeln wandern also auf dem Draht nach Außen.
Ich kann das Ganze aber auch andersherum ansehen und sagen: Die Ausdehnung des Universums bedeutet in Wahrheit, dass der Gleichgewichtsabstand der Atome kontinuierlich schrumpft. Deswegen schrumpft der Stab, während die Kugeln brav an ihren Plätzen sitzen bleiben und deshalb auf dem Stab nach Außen rutschen. Beide Bilder sind gleichwertig.
Ähnlich lässt sich auch die Wirkung einer Gravitationswelle abhandeln (wie diese Wellen funktionieren, habe ich auch letztes Jahr erklärt). Betrachten wir einen Ring aus unseren Kugeln, auf den (in senkrechter Richtung) eine Gravitationswelle trifft. Dann kann der Ring durch die Welle so verzerrt werden:
Die Kugeln auf dem Ring wandern nach Innen und Außen, und zwar so, dass sich jeweils eine Ellipse ergibt. Auch hier können wir die Kugeln wieder auf Stäbe aus Ynketerk setzen, das sich nicht von den Gravitationswellen beeindrucken lässt. Stellt euch ein Speichenrad aus Stäben vor, bei denen auf den Speichen unsere Kugeln sitzen und gleiten können. Die Kugeln wandern dann – je nach Position – nach innen oder außen, während die Stäbe selbst ihre Länge nicht ändern. Die Stäbe erfahren aber natürlich eine Kraft – genau wie oben bei unserem Temperaturfeld -, denn die Atome der Stäbe würden ja eigentlich auch der gleichen Route folgen wollen wie die Kugeln, sie werden nur durch die Bindungskräfte im Stab daran gehindert.
Betrachten wir einen Stab, auf dem die Kugeln nach Innen gleiten. Da sich die Kugeln aufeinander zu bewegen, ist der Raum zwischen ihnen “geschrumpft” (so wie wir von der Ausdehnung des Raums reden, wenn sich die Kugeln entfernen). Die Atome des Stabes würden sich auch aufeinander zu bewegen, wenn die Bindungskräfte sie nicht hindern würden. Nehmen wir ein reales Material, dann gerät dieses Material unter Druck: Die Atome rücken enger zusammen, aber die Bindungskräfte treiben sie dann wieder auseinander.
Auch hier können wir das Bild umdrehen. Das Gravitationsfeld beeinflusst nicht die Kugeln, sondern den Stab, und vergrößert den Gleichgewichtsabstand der Atome des Stabs. Die Atome sind aber ja zunächst enger zusammen als dieser Gleichgewichtsabstand, also kommt auch hier der Stab unter Druckspannung.
Zumindest für mich veranschaulichen diese Beispiele sehr schön, wie die beiden unterschiedlichen Interpretationen der ART funktionieren. Verwendet man das Bild der Raumkrümmung, dann funktioniert es nur dann, wenn alle kräftefreien Teilchen sich gleich bewegen – wenn einige Teilchen sich anders nach Innen bewegen würden, wenn die Gravitationswelle kommt, als die anderen Teilchen, dann könnte man die Bewegung nicht mehr einfach der gekrümmten Raumzeit zuschreiben, sondern wäre gezwungen, die Kräfte für jedes Teilchen extra zu beschreiben. Das ist genau das berühmte Äquivalenzprinzip der ART, das besagt, dass alle freien Teilchen sich auf Geodäten bewegen, unabhängig von ihrer Masse.
Im Bild der Felder – wo es ja keine Raumkrümmung gibt – folgen die freien Teilchen einfach ihrer geraden Bahn, so wie in der speziellen Relativitätstheorie (oder schon in der klassischen Physik nach Newton – ein kräftefreies Teilchen bewegt sich geradlinig und gleichförmig). Dafür müssen sich aber alle Maßstäbe in gleicher Weise verzerren – das heißt, der Gleichgewichtsabstand zwischen Atomen muss sich für alle Objekte gleich ändern, egal ob Aluminium, Presspappe oder Ynketerk.
Tja, und als nächstes muss ich diese Argumentation nun wirklich irgendwie auf die Zeit übertragen. Leider fehlt mir immer noch eine wirklich gute Anschauung dafür; ich habe ein paar Ideen und Konzepte (und wenn mir nichts besseres einfällt, bekommt ihr die demnächst zu lesen), aber falls jemand eine Anregung hat, bin ich ganz Ohr.
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