Die Physik wird ja von Formeln dominiert – einfache anschauliche Bildchen oder Überlegungen ohne jede Formel allein reichen nicht aus, um die Welt wirklich korrekt zu verstehen oder Dinge vorherzusagen. Aber ganz ohne solche Anschauungen geht es natürlich auch nicht, denn die Anschauung liefert Ideen, wie man Probleme lösen kann. Und deswegen ist es immer gut, wenn man Formeln auch noch einmal mit Worten beschreibt.
Leider kann das auch schiefgehen – und dann bekommt man Beschreibungen, die anschaulich nicht gut funktionieren, die aber scheinbar das wiedergeben, was die Formeln sagen.
Ein Beispiel dafür ist – zumindest meiner Ansicht nach – das sogenannte “Heisenberg-Bild” in der Quantenmechanik. Ich habe eigentlich nie verstanden, wie man es anschaulich interpretieren soll, denn mit der Erklärung, die in jedem Buch steht, konnte ich nie viel anfangen. Vor kurzem habe ich gemerkt, woran das liegt: Die anschauliche Beschreibung des Heisenbergbilds ist extrem irreführend, wenn nicht sogar schlicht falsch.
WARNUNG Das, was ich in diesem Text über die Interpretation des Heisenbergbilds schreibe, ist wie gesagt meine eigene, persönliche Überlegung. Sie steht im Widerspruch zu dem, was man in den meisten Büchern lesen kann (auch wenn die Formeln und Rechnungen sich nicht ändern), und es ist vermutlich keine gute Idee, wenn ihr das so während eurer Physikprüfung erzählt. Und noch eine zweite Warnung hinterher: Das Heisenbergbild ist ein mathematischer Formalismus aus den Tiefen der Quantenmechanik. Ich habe mir zwar Mühe gegeben, ein bisschen das drumherum zu erklären, aber ich vermute, dass dieser Text nur für diejenigen von euch verständlich ist, die irgendwann mal ein QM-Buch gelesen oder eine Vorlesung besucht haben.
Fangen wir erst mal mit dem Schrödinger-Bild an, das ist das Bild, das die meisten wohl zuerst kennenlernen und das typischerweise auch in populären Darstellungen verwendet wird. Im Schrödingerbild ist das Elektron zu jedem Zeitpunkt in einem bestimmten Zustand, den man mit abkürzt. Der Zustand verändert sich mit der Zeit, und zwar gemäß der berühmten Schrödinger-Gleichung. ( ist dabei nichts anderes als die berühmte Wellenfunktion.)
Formal-mathematisch kann man die zeitliche Entwicklung der Wellenfunktion mit Hilfe des sogenannten “Zeitentwicklungsoperators” beschreiben, den nenne ich U(t). Es gilt also
U(t) macht also aus dem Zustand zur Zeit 0 den Zustand zur Zeit t.
Als Beispiel hier ein Wellenpaket, das ein Elektron an einem Ort zur Zeit 0 repräsentiert. Das Elektron fliegt von links nach rechts, so dass das Wellenpaket sich verschiebt (dabei läuft es etwas auseinander) und später dann an einem anderen Ort lokalisiert ist:
Zustände selbst kann man in der QM nicht beobachten – beobachten kann man nur Messwerte von bestimmten Größen (man kann zum Beispiel den Ort eines Elektrons messen). Da in der QM der Zufall eine wichtige Rolle spielt, kann man den Ort mit Hilfe des Zustands normalerweise nicht eindeutig vorhersagen – man kann nur eine Wahrscheinlichkeit dafür angeben, einen bestimmten Wert zu messen. Insbesondere interessiert man sich für den Erwartungswert – also den Mittelwert einer Messgröße bei vielen Messungen. Für den gilt – wenn man ihn zur Zeit t messen will – die Formel
.
Dabei ist A die mathematische Beschreibung der Messgröße (wie die aussieht, muss uns hier nicht kümmern) und ist der konjugierte Zustand zu (das Konjugieren ist eine mathematische Operation – die hier zu verwenden stellt sicher, dass Messwerte immer reelle Zahlen sind, obwohl die Wellenfunktion komplexe Werte annehmen kann). A hängt dabei meist nicht von der Zeit ab.
Statt einen solchen Erwartungswert zu messen, kann man auch andere Sache mit einem Zustand machen. Stellen wir uns beispielsweise ein Elektron vor, dass auf eine Wand zufliegt und von der reflektiert wird. Auch diese Wirkung der Wand können wir mathematisch beschreiben – wenn die Wand zur Zeit t auf das Elektron wirkt, dann hat es hinterher einen anderen Zustand als vorher (weil es jetzt in eine andere Richtung fliegt). Mathematisch kann man das so beschreiben (W ist der “Wand-Operator” – Operatoren sind mathematische Objekte, die was mit einem Zustand anstellen):
Nach der Reflexion von der Wand ist das Elektron also in einem neuen Zustand. (Ich tue hier so, als ginge die Reflexion unendlich schnell – das ist zwar nicht realistisch, aber als Vereinfachung nützlich.) Graphisch können wir uns das so vorstellen:
(Hinweis: Man kann sich hier fragen, warum die Wechselwirkung mit der Wand nicht schon im Zeitentwicklungoperator mit drin ist. Das ist eine Frage der Bequemlichkeit – man könnte das tun, dann ändert sich der Zeitentwicklungoperator entsprechend. Oft ist es aber nützlich, die “ungestörte” Zeitentwicklung und den Einfluss von zum Beispiel einer Wand (oder einer Messung oder sonst etwas) zu trennen.)
So weit, so gut. Man kann die Gleichungen aber auch etwas anders anschauen. Dazu nehmen wir erstmal die Gleichung von oben für den Erwartungswert:
Jetzt bauen wir in die Gleichung die Tatsache ein, dass sich der Zustand zur Zeit t ja aus dem zur Zeit Null entwickelt hat, wir setzen also den Zeitentwicklungsoperator ein:
Links muss man dabei auch den Operator “konjugieren”, dafür steht das kleine Kreuz oben rechts. (Ich spare mir, die Details zu erklären – wenn ihr ne QM-Vorlesung besucht habt, kennt ihr die, wenn nicht, braucht ihr sie auch nicht zu kennen, um das, was gleich kommt, zu verstehen.)
Als nächstes bastle ich in die Gleichung oben eine Klammer ein:
Oben hatte ich ja gesagt, dass A nicht von der Zeit abhängt. Wir können jetzt aber in dieser Formel die Zeitabhängigkeit vom Zustand auf die Messgröße abwälzen und schreiben.
Dann sieht unsere Formel für den Erwartungswert so aus:
Mathematisch ist das erst mal kein Problem, wie ihr seht, es ist lediglich eine andere Schreibweise. Diese Schreibweise ist gerade das sogenannte “Heisenberg-Bild”.
Wir können dasselbe auch mit unserem Wandoperator machen und definieren und diesen Operator dann auf loslassen:
Dabei habe ich die Gleichungen von oben eingesetzt – U entwickelt den Zustand von der Zeit Null nach t, dann wirkt W drauf und macht aus dem einen Zustand den anderen. Für den Zustand nach Anwendung von W kommt jetzt nicht heraus, sondern es steht noch ein davor. Was bedeutet das?
Um das herauszubekommen, muss man sich angucken, wie der Zeitentwicklungsoperator mathematisch funktioniert. (Zum Beispiel auf der entsprechenden Wiki-Seite, wo ihr die meisten der Formeln hier wiederfinden könnt.) Dann sieht man, dass , angewandt auf einen Zustand zur Zeit t, zurückrechnet auf den entsprechenden Zustand zur Zeit 0. Es ist also
Also: Wenn das rechts von einem konjugierten Zustand steht, dann transportiert es diesen Zustand in der Zeit vorwärts, wenn es aber links von einem Zustand zur Zeit t steht, dann rechnet es den Zustand zurück.
Damit sehen wir jetzt, was nach Anwendung des Wandoperators im Heisenbergbild insgesamt passiert:
Im Heisenbergbild ist es also so, dass man alle Zeitabhängigkeit auf die Operatoren abwälzt – die Zustände selbst haben keine Zeitabhängigkeit. In vielen Büchern wird das sogar so formuliert, dass gesagt wird “Der Zustand im Heisenbergbild ist eingefroren”.
Und genau das ist der Punkt, mit dem ich immer meine Probleme hatte – ich sehe zwar mathematisch leicht ein, wie das Heisenbergbild funktioniert, aber wenn ich ein Elektron betrachte, dass zur Zeit Null in einem Zustand ist, ist es dann wirklich sinnvoll zusagen, dass sich der Zustand nicht ändert? Wenn es zum Beispiel bei t=0 bei Alpha Centauri lokalisiert war und jetzt hier auf der Erde ist, ergibt es dann Sinn zusagen, dass der Zustand des Elektrons immer noch bei Alpha Centauri eingefroren ist? Ist das nicht eine seltsame Verwendung des Begriffs “Zustand”? Mit dieser Art der Formulierung konnte ich nie etwas anfangen und hatte deswegen immer Probleme, mir das Heisenberg-Bild anschaulich zu machen.
Hinzu kommt noch etwas anderes: Wenn ich sage, dass im Heisenberg-Bild den Zustand des Elektrons zu jedem Zeitpunkt beschreibt (weil ja die ganze Zeitabhängigkeit auf die Operatoren abgewälzt wurde), dann ist ein Zustand im Heisenbergbild ganz was anderes als ein Zustand im Schrödingerbild. Eigentlich müsste man dann alles, was man sich im Schrödingerbild für Zustände in der QM überlegt hat, erst mal überprüfen, ob es immer noch gilt.
Aber dankenswerterweise hatte ich neulich eine Idee, wie ich die Formeln anders interpretieren kann und das ganze einen Sinn ergibt – zumindest für mich, meldet euch bitte in den Kommentaren, wenn euch diese Uminterpretation auch etwas nützt, dann weiß ich wenigstens, dass ich nicht allein bin. (Und sagt auch gern, wenn ihr meine Erklärung nicht mögt oder gar für fehlerhaft haltet, denn wie gesagt garantiere ich für nichts….)
Dazu nehme ich das Schrödingerbild beim Wort. beschreibt den Zustand des Elektrons zur Zeit t, Punkt, egal was der olle Heisenberg dazu sagt (wobei die Formulierung mit den “eingefrorenen Zuständen” sicherlich nicht von Heisenberg stammt…).
Wenn ich das so annehme, was tut dann das Heisenbergbild? Da taucht ja in den Formeln immer nur auf, nie . Das Heisenbergbild rechnet also alles, was es rechnet, so um, dass es sich immer auf den Anfangszustand bezieht. Schaut noch einmal auf die Formel für den Erwartungswert:
Was das A tut ist, dass es zunächst mit dem Zeitentwicklungsoperator aus dem Anfangszustand den aktuellen berechnet, dann darauf A wie im Schrödingerbild anwendet, und dann den neuen Zustand wieder zum Anfang zurücktransportiert (Ich kann den konjugierten Zeitentwicklungsoperator ja auch nach rechts wirken lassen und damit den Zustand wieder zurückrechnen.)
Genauso funktioniert es mit dem Wandoperator im Heisenbergbild:
Der transportiert ebenfalls erst den Zustand zeitlich nach t, dann wird der Zustand zu der Zeit an der Wand reflektiert, und dann wird in der Zeit zurückgerechnet. Der Wandoperator rechnet also den fiktiven Zustand aus – den Zustand, den das Elektron zur Zeit 0 hätte haben müssen, wenn es zur Zeit t im Zustand ist und sich in diesen Zustand entwickelt hätte, ohne dass die Wand da wäre:
Im Heisenbergbild sind die Zustände nicht “eingefroren” – stattdessen betrachte man einfach nur immer den Zustand, der zur Zeit t=0 hätte vorliegen müssen, damit sich aus diesem der aktuelle Zustand entwickelt (so wie eben bei der Wandreflexion). (Wie oben gesagt bekommen wir beim Zurückrechnen hier einen anderen Zustand als wir tatsächlich zur Zeit Null hatten, weil wir den Einfluss des Wandoperators nicht mit in der Zeitentwicklung berücksichtigt haben.)
Damit sieht man auch, warum das Heisenbergbild praktisch sein kann: Interessiert man sich für eine bestimmte Messgröße, dann kann man im Heisenbergbild ein für alle Mal das A(t) ausrechnen und dann auf unterschiedliche Anfangszustände anwenden- die ganze Zeitentwicklung hat man damit schon erledigt. So macht man es zum Beispiel auch in der Quantenfeldtheorie, die gern (in der “kanonischen Formulierung”) im Heisenbergbild formuliert wird.
Ich weiß nicht, wer zum ersten Mal die Formulierung mit den “eingefrorenen Zuständen” aufgebracht hat – aber meiner Ansicht nach ist sie eher verwirrend als hilfreich, und man sollte lieber sagen, dass das Heisenbergbild immer auf (eventuell fiktive) Anfangszustände zurückrechnet.
Ich habe das mit dem Heisenbergbild auch beim physicsforum zu diskutieren versucht – dort stieß meine Idee auf wenig Begeisterung. Insofern übernehme ich keine Haftung, dass das hier für irgendwen außer mir Sinn ergibt.
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