In unserer Diskussion neulich zum Thema des “Erhabenen” ging es nebenbei auch kurz um Karl Popper und sein wissenschaftstheoretisches Konzept der Falsifizierbarkeit. Ich hatte dort kurz angeführt, dass das Konzept philosophisch als überholt gilt, das aber nicht weiter ausgeführt. Ich nehme ds aber mal zum Anlass, etwas über Falsifizierbarkeit nachzudenken.

Nun bin ich – mit lediglich ein paar Semestern Philosophie als geplantes Nebenfach, so kurz nach der letzten Eiszeit – sicherlich keine belesene Philosophie-Expertin (und ich gebe zu, dass ich mich auch gern schnell mal bei Wikipedia schlau lese, was diese oder jene Philosophin so gesagt hat). Wer also hier eine Analyse der Popperschen Idee der Falsifizierbarkeit im Lichte der Feyerabendschen Ideen unter besonderer Berücksichtigung von Poincares Wissenschaftstheorie oder etwas Ähnliches erwartet, wird leider enttäuscht werden. (Womit ich nicht sage, dass so eine Analyse uninteressant oder nutzlos wäre – es geht hier nicht um Philosophie-bashing (im Gegenteil), sondern darum, zu sehen, dass ein philosophisch umstrittenes Konzept im Alltag durchaus nützlich sein kann.)

Die Idee der Falsifizierbarkeit ist ja erst einmal recht einfach: Man soll Theorien und Hypothesen so aufstellen und formulieren, dass sie sich auch auf irgendeine Weise widerlegen lassen. Nur Experimente (oder andere Untersuchungen), die dies zumindest prinzipiell leisten können, können als eine Überprüfung der Hypothese angesehen werden.

Die Idee dahinter hat Brecht im Stück “Leben des Galilei” sehr schön zusammengefasst (es geht um die Beobachtung der Sonnenflecken):

Meine Absicht ist nicht, zu beweisen, daß ich bisher recht gehabt habe, sondern: herauszufinden, ob. Ich sage: laßt alle Hoffnung fahren, ihr, die ihr in die Beobachtung eintretet. Vielleicht sind es Dünste, vielleicht sind es Flecken, aber bevor wir Flecken annehmen, welche uns gelegen kämen, wollen wir lieber annehmen, daß es Fischschwänze sind. Ja, wir werden alles, alles noch einmal in Frage stellen. Und wir werden nicht mit Siebenmeilenstiefeln vorwärtsgehen, sondern im Schneckentempo. Und was wir heute finden, werden wir morgen von der Tafel streichen und erst wieder anschreiben, wenn wir es noch einmal gefunden haben. Und was wir zu finden wünschen, das werden wir, gefunden, mit besonderem Mißtrauen ansehen. Also werden wir an die Beobachtung der Sonne herangehen mit dem unerbittlichen Entschluß, den S t i l l s t a n d der Erde nachzuweisen! Und erst wenn wir gescheitert sind, vollständig und hoffnungslos geschlagen und unsere Wunden leckend, in traurigster Verfassung, werden wir zu fragen anfangen, ob wir nicht doch recht gehabt haben und die Erde sich dreht!

Soweit die Idee. Aber auch ohne vertiefte Kenntnis der philosophischen Literatur kann man leicht einsehen, dass das mit der Falsifizierbarkeit nicht immer so leicht ist, wie es auf den ersten Blick aussieht.

Natürlich gibt es manche Theorien, die prinzipiell unwiderlegbar sind – um die müssen wir uns tatsächlich nicht kümmern. Wen ich zum Beispiel behaupte, dass das Universum in Wahrheit vor drei Minuten erschaffen wurde, aber mit allen Bestandteilen eben genau da, wo sie vor drei Minuten waren (einschließlich unserer Erinnerungen etc.), dann lässt sich dieses Universum in keiner Weise von unserem unterscheiden. Die Behauptung ist also unwiderlegbar. Solche Theorien sind also eindeutig nicht wissenschaftlich.

Schwieriger wird es bei Theorien, die tatsächlich konkrete Vorhersagen machen. Ein einzelne Beobachtung, die einer solchen Theorie widerspricht, lässt sich oft mit Hilfe von Zusatzannahmen erklären. Ein Beispiel hierfür ist die Entdeckung der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, unabhängig von der Orientierung des Messaufbaus auf der Erde. Dies widersprach der damals (so um 1880) vorherrschenden Theorie, nach der sich Licht ähnlich wie eine Schallwelle in einem Äther ausbreitet. Die Theorie wurde damals aber nicht sofort verworfen – vielmehr überlegte man, ob es nicht andere Erklärungen geben könnte, beispielsweise, dass die Erde den Äther mit sich mitzieht, so dass Objekte auf der Erde immer relativ zum Äther ruhen. (Ein anderes – allerdings teilweise fiktives – Beispiel findet ihr hier.) Ein noch anderes Beispiel ist Hahnemanns lange Liste all der Dinge, die Homöopathie unwirksam machen sollen – hier kann man ahnen, wie bei jeder misslungenen Behandlung ein weiteres Element zur Liste hinzugefügt wurde.

Analysiert man empirisch, wie sich neue Theorien durchgesetzt haben, so ist auch da das Poppersche Falsifikations-Kriterium nicht immer erfüllt – neue Theorien stehen oft auch mit einigen Experimenten in Widerspruch, was oft daran liegt, dass in einer ersten Theorie noch nicht alle Effekte enthalten sind. In der Anfangszeit der Quantenmechanik konnte man beispielsweise zwar die Spektrallinien des Wasserstoff-Atoms erklären, nicht aber deren Aufspaltung in der sogenannten Feinstruktur (ich verweise auf die englische Seite, weil die deutlich ausführlicher ist). Erst als man auch relativistische und andere Effekte berücksichtigte, ließen sich die Spektrallinien im Detail verstehen. Streng genommen war damit nach Popper die Quantenmechanik in ihrer Anfangszeit genau so falsifiziert wie das alte Bohrsche Atommodell – es gab Beobachtungen, die der Theorie widersprachen, das sollte es eigentlich gewesen sein.

Ähnlich war es mit der Newtonschen Mechanik – auch die besten Berechnungen des 19. Jahrhunderts konnten die berühmte Periheldrehung des Merkur nicht vollständig erklären. (In vielen populärwissenschaftlichen Büchern steht, dass es nach Newton gar keine Periheldrehung geben dürfte, das ist aber falsch, weil der Einfluss der anderen Planeten eine Rolle spielt. Nur ein Teil der Periheldrehung kommt durch Effekte der Allgemeinen Relativitätstheorie zu Stande.) Natürlich suchte man aktiv nach Erklärungen (beispielsweise dem Planeten Vulkan), aber niemand kam auf die Idee, wegen dieser Unstimmigkeit gleich die ganze Theorie zu entsorgen.

Und das ist auch ganz richtig so. Eine Theorie ist um so besser, je mehr Beobachtungen sie mit möglichst wenig Annahmen erklären kann. Ein simples richtig-falsch ist gerade in der Physik nicht angemessen, und auch heute rechnen wir die meisten Probleme ohne Skrupel mit der falschen Newtonschen Theorie.

Wikipedia schreibt zur Kritik an Popper

In beiden Bereichen [Wissenschaftstheorie und Praxis] bestehen nach wie vor induktivistisch-empirizistische Bestätigungspositionen, heute gemeinhin mit bayesianistischen Wahrscheinlichkeitstheorien der Induktion verbunden, die allerdings häufig in der Terminologie Poppers umformuliert vertreten werden.

In dem Verweis auf Bayes kommt mathematisch das zum Ausdruck, was ich eben schon gesagt habe: Eine Theorie, die durch zahlreiche Beobachtungen gut bestätigt ist, wird durch einzelne unerklärbare Phänomene nicht gleich widerlegt – es ist wahrscheinlicher, dass das unerklärte Phänomen doch noch eine plausible Erklärung findet als dass gleich die ganze Theorie Mist ist. (Trotzdem wird natürlich aktiv nach der Erklärung ungelöster Fragen gesucht, wie beispielsweise bei der berühmten Pioneer-Anomalie, die lange zeit Rätsel aufgab.)

Ihr seht also, dass das strikte Poppersche Kriterium “Eine Beobachtung, die der Theorie widerspricht, macht die Theorie zunichte” nicht unbedingt so einfach umzusetzen ist. Wendet man das Poppersche Kriterium auf sich selbst an (was natürlich problematisch ist, weil die Philosophie selbst keine empirische Wissenschaft ist), dann ist das Kriterium also falsifiziert.

Aber: Wissenschaft besteht ja vor allem in der täglichen Arbeit im Labor oder am Computer. Und da leistet die Idee der Falsifikation manchmal durchaus gute Dienste. Jürgen hat neulich ja auch gezeigt, wie sehr wir dazu neigen, unsere Ideen lieber zu bestätigen als zu widerlegen. Und um sich davor zu schützen, ist es hilfreich, die Idee der Falsifizierbarkeit immer im Hinterkopf zu haben.

Statt also noch weiter theoretisch zu überlegen, was es mit der Falsifizierbarkeit auf sich hat, schauen wir einfach mal ein paar Beispiele aus meiner täglichen Forschungspraxis an und gucken, in wie weit sich das Konzept “Falsifizierbarkeit” hier niederschlägt. (Dabei ist natürlich extreme Vorsicht geboten: Ich analysiere hier meine eigenen Denkprozesse, zum Teil auch solche, die schon länger zurückliegen – es ist also durchaus möglich, dass ich hier einer gewissen Selbsttäuschung unterliege.)

Vor etwas mehr als 10 Jahren habe ich mich ziemlich intensiv mit der Simulation von Spanprozessen beschäftigt, also der Frage, was in einem Werkstoff passiert, wenn man ihn bohrt, fräst oder dreht (nein, nicht einfach rumdrehen, sondern Drehen auf einer Drehbank und dabei mit einem Werkzeug Material abheben). Mich interessierten – ich kann  meine Herkunft als Theoretikerin eben nicht leugnen – vor allem grundlegende Fragen: Welche Materialeigenschaften haben welchen Einfluss auf den Prozess. Irgendwann fiel mir auf, dass man in der Literatur nichts zu der Frage findet, wie genau die Wärmeausdehnung eigentlich so einen Prozess beeinflusst – immerhin werden die Materialien ganz schön warm, da schien es mir auf den ersten Blick plausibel, dass eine ungleichmäßige Wärmeausdehnung Spannungen erzeugt, die auch den Prozess beeinflussen. Vor allem war es so, dass in meinen Simulationen die entstehenden Späne deutlich stärker gekrümmt waren als man das im Experiment beobachtet – andere Simulationen in der Literatur zeigten ein ähnliches Phänomen. Konnte das an der Wärmeausdehnung liegen?

Das Schöne an Computersimulationen ist ja, dass man so etwas leicht überprüfen kann – in einem Experiment kann man die Wärmeausdehnung eines Materials nicht mal eben schnell an- oder ausknipsen, in der Simulation aber schon. Und siehe da – egal ob ich die Ausdehnung ein- oder ausschaltete, die Späne sahen am Ende nahezu gleich aus. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätte ich jetzt eine interessante Arbeitshypothese gehabt (die Spanbildung hängt auch von der Wärmeausdehnung ab) – aber so war es eben nicht. Idee falsifiziert, und dann lieber andere Dinge angeguckt.

Aber  so ganz einfach ist es mit dem Falsifizieren nicht immer, wie man an diesem Beispiel hier sieht: Ich simuliere mal wieder die Spannung in Wärmedämmschichten und überlege, welchen Einfluss zum Beispiel die Festigkeit eines der beteiligten Materialien haben sollte. Wie immer bei solchen Simulationen ist es sinnvoll, sich erst mal zu fragen, was man erwartet. Ich überlege also zum Beispiel “Aha, wenn man die Festigkeit der Haftvermittlerschicht herabsetzt, sollte sie die darüberliegende Wärmedämmschicht weniger unter Spannung setzen, also sollte deren Spannung abnehmen.” Dann stelle ich fest, dass das – zumindest in bestimmten Situationen- nicht so ist. Meine Idee ist damit falsifiziert.

Oder auch nicht? Natürlich ist es immer eine gute Idee, zu verstehen, warum die eigene Intuition in die Irre gegangen ist – ich habe mir also die verschiedenen Rechnungen nochmal genau angeguckt und im Detail ausgewertet. Ich hatte übersehen, dass es noch eine weitere Schicht gibt, deren Spannungen der Haftvermittlerschicht entgegenwirken. Wenn diese weitere Schicht hinreichend dick ist, dann erzeugt sie große Spannungen – eine Haftvermittlerschicht mit höherer Festigkeit kann dem mehr entgegensetzen und reduziert die Spannungen deshalb wieder.

Meine ursprüngliche Idee war also richtig, aber sie galt eben nur in bestimmten Fällen. Habe ich die Idee jetzt falsifiziert oder verifiziert? Immerhin brauchte ich eine zusätzliche Überlegung, die ich auf die alte Hypothese draufsatteln musste, um sie zu retten – ist das nicht eigentlich etwas, das man nicht tun sollte (widerlegte Hypothesen durch Zusatzüberlegungen retten, statt sie aufzugeben)? Offensichtlich nicht – denn die beiden Ideen fügten sich nahtlos zusammen – jedes der Materialien hat einen Einfluss auf die Wärmedämmschicht, die beiden Einflüsse sind entgegengesetzt und die jeweilige Schichtdicke entscheidet, wer gewinnt.

So etwas passiert oft: Eine ursprüngliche Idee wird durch Überprüfen streng genommen falsifiziert, wird aber durch zusätzliche Argumente und Überlegungen doch noch gerettet. Das ist dann in Ordnung, wenn man nicht für jede neue Beobachtung eine neue Hypothese dazupacken muss (so wie bei Hahnemann), sondern das ganze sich im Rahmen hält. Wenn ich für jede Spannungssimulation neue oder andere Argumente brauche, um die Beobachtung an meine Hypothese anzupassen, dann taugt das natürlich wenig – wenn ich aber mit einigen wenigen Annahmen, die sich erst in ihrer Gesamtheit entwickeln müssen, am Ende eine große Zahl von Beobachtungen erklären kann, dann ist es durchaus in Ordnung, dass ich zwischendurch zu einfache Hypothesen hatte, die als Gesamterklärung nicht ausreichen und widerlegt wurden, die aber als Bestandteil der Erklärung dazugehören. (Anders als beim Entwickeln fundamental neuer Theorien habe ich natürlich hier den Vorteil, dass der generelle theoretische Rahmen, in dem ich mich bewege, gut bekannt und erforscht ist.)

Generell sollen wir ja auch unsere Überlegungen so planen, dass wir versuchen, unsere Hypothese zu widerlegen. Aber nicht immer ist die Grenze zwischen Falsifizieren wollen und bestätigen wollen klar: Diesen Sommer habe ich mit einer Kollegin (ja, generisches Femininum) zusammen eine Idee entwickelt, wie man die mikroskopische Struktur einer mit einem speziellen Verfahren hergestellten Schicht erklären kann. Mit etwas Überlegung und Dank fleißiger Literaturrecherche (die nicht ich gemacht habe, muahaha),  fanden wir eine mögliche Erklärung, die für einen Teil der Strukturen funktionierte und insbesondere erklären konnte, warum wir dort eine dreizählige Symmetrie beobachteten. Das allein ist natürlich allenfalls ne Hypothese – jetzt ging es darum, die zu überprüfen.

Unter anderen Herstellparametern sah die Schicht anders aus, er ergab sich dann nämlich eine vierzählige Symmetrie. Mit Hilfe einer Messung für die Kristallorientierung ergab sich diese vierzählige Symmetrie direkt aus unserer Überlegung. Zusätzlich konnte unsere Überlegung etwas über die Winkel in dieser Struktur vorhersagen (die wir bisher nicht so genau angeguckt hatten) – quantitativ messen lassen sich die zwar nur schwer, aber qualitativ passten auch die Winkel zu dem, was wir uns überlegt haben.

Hier kann man jetzt streiten, ob wir wirklich eine echte Falsifizierung versucht haben. Hätte es bei der vierzähligen Symmetrie nicht gepasst, hätten wir unsere Theorie ja nicht unbedingt gleich verworfen, sondern wohl auch eine Begründung gesucht, warum der Mechanismus nur bei bestimmten Bedingungen so abläuft, bei anderen nicht. (Das wäre natürlich möglich, die Welt ist ja nicht immer einfach…) War das nun echte Falsifizierung? Oder eher ein Versuch, eine Theorie zu bestätigen? Schwer zu entscheiden – immerhin war die Überprüfung der zweiten Struktur geeignet, den Gültigkeitsbereich der Theorie, die wir für die Schichtbildung hatten, einzuschränken. Konzeptionell hilft der Gedanke “Hmm, wenn das jetzt nicht passt, dann hat unsere Idee ein Problem” auf jeden Fall weiter, um schnell zu sehen, an welcher Stelle man gucken muss.

Auch beim Planen der Forschung hilft die Idee der Falsifikation durchaus weiter – leider fällt mir gerade kein passendes Beispiel aus meiner eigenen Praxis ein, deswegen halte ich es hier mal allgemein. Wenn wir nach aktueller Arbeitshypothese erwarten, dass unter einer bestimmten Versuchsbedingung X passiert, dann ist es immer gut, sich schon vorher zu fragen: “Was würde ich tun, wenn ich nicht X beobachte, sondern etwas anderes? Würde ich das als Problem oder Widerlegung meiner Arbeitshypothese betrachten, oder könnte ich das auch im Rahmen meiner Hypothese problemlos erklären?” Und falls letzteres der Fall ist, dann kann man sich das Experiment möglicherweise gleich sparen und lieber etwas anderes tun.

An diesen Beispielen aus dem Forschungsalltag sieht man vor allem eins: Die Trennung zwischen Falsifikation und dem Versuch, eine Theorie zu bestätigen, ist nicht so scharf, wie man vielleicht rein theoretisch denken könnte. Manchmal reicht ein Ergebnis aus, um mich davon zu überzeugen, dass eine Idee nichts taugt (wie die mit der Wärmeleitung bei der Zerspanung), manchmal führt die Falsifikation dazu, dass man seine anfängliche Hypothese erweitern und zusätzliche Annahmen einführen muss, manchmal klappt auch alles, die Falsifikation scheitert – mit anderen Worten, die Hypothese wird erst einmal bestätigt. (So wie Gelilei es im Theaterstück – wirklich etwas theatralisch – ausgedrückt hat.)

Wenn wir noch einmal auf den Satz oben von Wikipedia zurückkommen – habe ich nun echt falsifiziert (bzw. es versucht)? Oder habe ich eher induktiv-empiristisch bestätigt und lediglich (im Sinne von Bayes Wahrscheinlichkeitstheorem) die Wahrscheinlichkeit angepasst, mit der ich eine Hypothese für wahr halte?

Ehrlich gesagt tue ich mich schwer mit dieser Frage. Empirisch ist sie kaum zu beantworten, weil die Grenzen ja letztlich fließend sind – wann ist eine Theorie so unwahrscheinlich geworden oder braucht so viele weitere Annahmen, dass sie als falsifiziert gelten kann? Und – noch schwieriger – wie sollte man empirisch herausfinden, was tatsächlich in mir vorging und welche Gedanken ich genau verfolgt habe?

Auch introspektiv lässt sich die Frage kaum klären – ganz abgesehen davon, dass das natürlich eine rein subjektive Selbstwahrnehmung ist. Ich denke oft an das Konzept “Falsifikation”, gerade wenn ich neue Experimente oder Simulationen plane, um eine Hypothese auf den Prüfstand zu stellen. Aber ob ich da eigentlich doch bestätigen will und das Ganze nur nach Popper umformuliere, so wie es bei Wiki steht, oder ob ich wirklich zu falsifizieren versuche – wie will man das entscheiden? Vermutlich ist sogar beides richtig – immerhin ist unser Bewusstsein und Verstand kein monolithischer Block, sondern besteht aus unterschiedlichen und widerstreitenden Aspekten (oft “Agenten” genannt, was aber nix mit Geheimdiensten zu tun hat). Gut möglich also, dass es da den Falsifizierungs-Agenten gibt, der gern Dinge kaputtmacht (und eigentlich liebe ich es, argumentativ Dinge zu zerlegen), und auch den Bestätigungs-Agenten, der an meiner aktuellen Hypothese hängt und diese gern untermauert sehen würde.

Wissenschaft, das darf man nie vergessen, wird von Menschen gemacht – und die haben widerstreitende Gefühle und sind sich über die Hintergründe ihrer Gedanken oft selbst nicht im Klaren. Insofern ist es dann auch nicht verwunderlich, dass die Frage “Falsifizieren oder Bestätigen” sich nicht eindeutig klären lässt.

Klar ist aber, dass das Konzept der Falsifizierung nützlich ist – schlicht deswegen, weil es in einem Wort eine Überlegung auf den Punkt bringt und einen daran erinnert, dass man immer kritisch prüfen muss, ob man die aktuelle Lieblingshypothese gerade wirklich ernsthaft prüft oder sich eher nur bestätigend auf die Schulter klopfen will, ohne es ernst mit der Überprüfung zu meinen. So berechtigt die philosophische Kritik an Popper also auch sein mag – praxistauglich ist seine Idee auf jeden Fall. Und auch wenn gute Wissenschaftlerinnen sicher auch vor Popper versucht haben, ihre Überlegungen zu falsifizieren, gebührt Popper doch der Verdienst, das Konzept sauber formuliert und auf den Punkt gebracht zu haben.

Kommentare (25)

  1. #1 Volker Birk
    https://blog.fdik.org
    19. September 2015

    Da bleibe ich lieber im logischen Empirismus. Das eigentliche Problem hier ist nämlich der Wahrheitsanspruch; denselben hast Du zwar immer nur zwischen den Zeilen geschrieben, aber darum geht es die ganze Zeit: ob Du recht mit einer Theorie hast oder nicht – sprich, ob sie wahr ist, mit der Realität übereinstimmt.

    Solche Probleme macht der logische Empirismus nicht: eine Theorie ist gut, wenn sie funktioniert. Warum sie funktioniert, ist dabei völlig gleichgültig. Sie muss es nur tun, muss – ganz pragmatisch – brauchbare Vorhersagen ermöglichen, die dann auch mit neuer Empirie übereinstimmen. Und man lässt eine Theorie fallen, wenn sie das nicht tut, und ersetzt sie für Fälle, wo es bessere Theorie gibt.

    Insofern ist Newtonsche Mechanik eben gerade nicht falsch: für viele Fälle funktioniert sie ja nach wie vor hervorragend. Für andere Fälle funktioniert Relativitätstheorie.

    Und entsprechend wendet man weiter beide an.

  2. #2 Sim
    19. September 2015

    Es ist ja auch eine Frage der Perspektive.

    Wenn wir zwei Personen haben, nennen wir sie Amanda und Betina. Und Amande stellt eine These X auf und Betina die Antithese zu X also deren Negation, Y.

    Dann versucht Amanda X zu verifizieren indem sie versucht X zu falsifizieren also Y zu verifizieren

    Und genau das versucht ja auch Betina. Diese wiederrum versucht Y zu falsifizieren was das gleiche ist wie X zu verifizieren.

    Aber das versucht ja bereits Amanda…

  3. #3 Sockenschuss
    19. September 2015

    Das war gut. Danke.
    Und der Kommenntar zu “Erhabenem” etc. war auch sehr gut und wichtig, auch weil ich derlei sinnfreies Sprachgewirr selbst nicht unkommentiert stehenlassen kann. Denn sonst glaubt noch irgendjemand, das wäre Philosophie, und dann haben wir den klassischen Salat.
    Und jedem, der dem weitverbreiteten Eindruck entgegenwirkt, Philosophie sei doch eh nur geschwätz, weil irgendein Möchtegernphilosoph den Rand nicht halten kann, gebührt Dank.
    In dem Sinne: bitte weiter so, MartinB. Es warten noch viele pseudointellektuelle Ergüsse darauf, sauber auseinandergenommen zu werden.

  4. #4 BreitSide
    Beim Deich
    19. September 2015

    Eine Weisheit zu Popper aus meiner Studienzeit:

    “Liegt der Popper tot im Keller,
    War der Punker eben schneller” 😉

    Sehr schöner Artikel. Wissenschaft ist halt doch nicht ganz so leicht, wie ich immer dachte…:-)

  5. #5 misterx
    20. September 2015

    +1 logischer Positivismus, hat die Wissenschaft voran gebracht. Ob Äthertheorie, Äquivalenzprinzip, Quantenmechanik, Feldtheorie, Eichtheorie, Stringtheorie oder sogar Computerwissenschaften. Leider wurde er später diskreditiert und Popper hat ihn aus politischen gründen nicht akzepiert. Auch mit Carnap’s Elemination der Metaphysik wäre man einigen leuten auf die Füße getretten. Das sieht man ja heutzutage immer wieder, wenn Leute sagen das Philosophie nutzlos ist. Dabei meinen sie eigentlich nur die Metaphysik. Das ist auch das Problem. So lange die Philosophie sich nicht von der inhaltsleeren Metaphysik befreit kann sie unmöglich mit der modernen Physik zusammenarbeit.

  6. #6 Herbert Wehner
    20. September 2015

    Der Sumpf der Wissenschafts-Religion

    Was ist Deine Motivation für die Beschäftigung mit einer Wissenschaft?
    Bist Du auf Anerkennung aus? Ist es Gier nach Wohlstand? Gar die Suche nach der Wahrheit?
    Das Wichtigste jedoch hast Du längst vergessen: Was man Dich gelehrt hat sind bloß Modell-Vorstellungen einer als objektiv-existierend angenommenen Wirklichkeit.

    Eine Kritik an Popper’s “Falsifikierbarkeit” wäre insofern berechtigt, daß eine Bestätigung der Voraussagen einer Theorie noch nichts über deren Richtigkeit aussagt, und somit eine Theorie erst dann falsifiziert wäre, sobald ihre Widerlegung gelungen sei. (Was diese Methodik höchst unerfreulich macht)

    Wir müssen einen Schritt weiter gehen, in die “wissenschaftliche Praxis”.
    Beim ersten Lesen Ihres Aufsatzes war ich etwas erstaunt über Ihre Aussage, daß Sie keine “Philosophin” seien. Auch Ihre Bemerkungen zur Erwärmung eines Werkstückes bei spanender Bearbeitung sind noch kein Vordringen in die Gefilde der harten Lebens-Wirklichkeit.

    Denn für diese Wirklichkeit ist die Falsifikation in meiner Auffassung erforderlich.
    Sind z.B. Impfungen so unbedenklich, wie es der kommerzielle Wissenschafts-Betrieb propagiert? Das gleiche gilt für gentechnische Manipulationen, Umgang mit radioaktiven Stoffen, Pestiziden, und vieles mehr.
    Ich unterstelle hiermit, daß Falsifikation in all diesen Bereichen überwiegend vorsätzlich aus unehrenwerten Beweggründen unterlassen wird.

    Und somit spräche wohl nichts dagegen, diesen Sumpf trockenzulegen; einer “Wissenschaft”, die in Gestalt einer Religion daherwandelt, um die Leute über ihre wahren Beweggründe zu blenden.

  7. #7 MartinB
    20. September 2015

    @Voklker und misterx
    Über logischen Empirismus habe ich ja nichts geschrieben – weder positiv noch negativ. Mir ging es hier darum zu zeigen, dass ein Konzept, das in letzter Konsequenz nicht vollkommen tragfähig ist, trotzdem in der Praxis gute Dienste leistet, und dass man es durchaus auch der Philosophie zu verdanken hat, dann man das Konzept im Alltag schnel begrifflich fassen kann.

    @Sim
    Mist, das wollte ich eigentlich irgendwo geschrieben haben, hatte es aber vergessen. Man kann in vielen Fällen sicher argumentieren, dass das, was von der Nullhypothese abweicht, das ist, was es zu falsifizieren gilt – aber ganz klar ist das nicht immer.

    @BreitSide
    Boah, bist du alt… (Ich hatte mit Poppern in der Schule zu tun. O-Ton eines Popper-Gesprächs “Fahrradfahren ist prolo” “Find ich nicht” “Doch, wenn das Fahrrad unter 1000 Mark kostet schon.”)

    @HerbertWehner
    “Das Wichtigste jedoch hast Du längst vergessen”
    Nein, darüber habe ich sogar diverse Artikel geschrieben…

    “Denn für diese Wirklichkeit ist die Falsifikation in meiner Auffassung erforderlich.”
    Ja, und mein Artikel zeigt ja, dass das Konzept so einfach nicht ist.

    “Sind z.B. Impfungen so unbedenklich, wie es der kommerzielle Wissenschafts-Betrieb propagiert? ”
    Och nö, nicht auch noch Impfgegner-Quatsch. Der ist lebensgefährlich.

    “Ich unterstelle hiermit, daß Falsifikation in all diesen Bereichen überwiegend vorsätzlich aus unehrenwerten Beweggründen unterlassen wird.”
    Wie sagt man so schön: Was ohne Argumente behauptet wird, kann man auch ohne Argumente ignorieren. Ich unterstelle hiermit, dass du deine Kommentare schreibst, weil du von der antiwissenschafts-Mafia, die uns in die Steinzeit zurückbringen will, dafür bezahlt wirst. Deswegen spräche auch nichts dagegen, deine Kommentare hier trockenzulegen…

  8. #8 Joseph Kuhn
    20. September 2015

    Popper unterscheidet in der “Logik der Forschung” zwischen der Falsifizierbarkeit als einem “Kriterium des empirischen Charakters von Satzsystemen” und der faktischen Falsifikation einer Theorie (Logik der Forschung, Tübingen 1976, S. 54). Die Falsifizierbarkeit als Abgrenzungskriterium dafür, was als empirische Theorie gelten darf, ergibt sich für ihn aus der logischen Unmöglichkeit, Theorien mit Allsätzen induktiv aus der Beobachtung aufzubauen, wie es das Programm des logischen Positivismus vorsah. “Bekanntlich berechtigen uns noch so viele Beobachtungen von weißen Schwänen nicht zu dem Satz, dass alle Schwäne weiß sind.” (ebda. S. 3). Die empirische Verifikation eines allgemeinen Satzes ist unmöglich, dagegen kann ein schwarzer Schwan den allgemeinen Satz falsifizieren. Voraussetzung für die faktische Falsifizierung ist, dass die Beobachtung als ein zur Prüfung der Theorie geeigneter Basissatz anerkannt wird. Unter welchen Bedingungen das der Fall ist und auch was die formale Falsifikation einer Theorie konkret bedeutet, ist eine eigene Geschichte, so naiv, dass jede theoriewidrige Beobachtung die Theorie von Grund auf falsifiziert und man von vorn anfangen muss, war Popper natürlich nicht. Was man aber sagen kann ist, dass die Theoriendynamik in vielen Wissenschaften nicht nach dem Popperschen Schema verläuft, sondern anderen Regeln folgt.

  9. #9 Stefan
    20. September 2015

    @MartinB: Das ist echt mühsam. Jedesmal die selbe Diskussion mit euch ExperimentalphysikerInnen. 😉

    “Ihr seht also, dass das strikte Poppersche Kriterium “Eine Beobachtung, die der Theorie widerspricht, macht die Theorie zunichte” nicht unbedingt so einfach umzusetzen ist. Wendet man das Poppersche Kriterium auf sich selbst an (was natürlich problematisch ist, weil die Philosophie selbst keine empirische Wissenschaft ist), dann ist das Kriterium also falsifiziert.”

    Wo bitte, hat Popper das so formuliert? Das ist schlicht nonsense. Es bringt auch nichts anekdotenmäßige Zitate herauszugreifen. Sondern man muss sich die ausformulierte Theorie der Falsifikation anschauen.

    Popper war strikter Gegner der so genannten Sofort-Falsifikation, wie sie hier dargestellt wird. Er war strikter Befürworter der System-Falsifikation.

    1. Eine Theorie kann _niemals_ widerlegt werden. Es können immer nur Aussagen, Sätze aus einer Theorie widerlegt werden. Theorien sind per Definition Poppers unwiderlegbar. Eine Theorie ist aber nur dann wissenschaftlich, wenn daraus falsifizierbare Sätze abgeleitet werden können.

    2. Eine Theorie (die schon gar nicht, s.o., aber auch deren Sätze) kann eben nicht simpel durch eine Beobachtung widerlegt werden – weil die Beobachtung selbst ein Satz aus einer Theorie ist. Eine Beobachtung ist ja nicht immanent entstehendes “wahres” “Wissen” in unseren Köpfen, sondern ist selbst nur vermutetes Wissen (=> Aussage) aus Schlußfolgerungen unserer sinnlichen Wahrnehmung. Wir haben also Theorien, wie wir etwas wahrnehmen. Das wird offensichtlich, wenn wir lange Zahlen aus Messungen von Radioteleskopen vor uns sehen und daraus eine Beobachtung konstruieren.

    Wir haben also nun ein System aus Theorien und Sätzen daraus. Wenn in diesem System nun ein Widerspruch auftritt, weil die Sätze aus diesen Theorien nicht übereinstimmen, dann gibt es eine System-Falsifikation.

    Nun kann der Satz aus der Theorie falsch sein – aber es kann eben auch die Beobachtung (die ja auch nur ein Satz aus einer Theorie ist, wie wir etwas wahrnehmen) falsch sein. Oder aber beide sind falsch und müssen neu formuliert werden.

    Auf keinen Fall ist die Theorie falsifiziert. Diese verkürzte Falsifikations-Theorie ist schlichtwegs falsch und wird auch immer wieder – offenbar auch in Wissenschaftskreisen – falsch wiedergegeben.

    Ganz im Gegenteil, es ist durchaus üblich – und so auch von Popper extra benannt – dass dann so genannte Ad-hoc-Hypothesen entstehen. Diese müssen aber falsifizierbarer sein, als der ursprüngliche Satz aus der Theorie. Denn: Sie müssen nicht nur das erklären können, was der Satz erklären wollte, sondern auch erklären, warum der ursprüngliche Satz scheiterte.

    Und noch mehr: Popper war es stets bewusst, dass der Wissen-schafende Prozess komplex ist und das wenn ein Satz einer Theorie widerlegt ist, an der Theorie oftmals trotzdem festgehalten wird und immer auf neuen versucht wird, neue Sätze aus der Theorie zu bilden. Andererseits Theorien in Vergessenheit geraten, wenn einmal ein Satz daraus widerlegt wurde und dann Jahrzehnte später Sätze aus der Theorie neu formuliert werden.

    Das war Popper durchaus bewusst, der war ja nicht nur Philosoph, sondern auch Physiker. All das gehört zum Wissenschaftsprozess dazu – der Punkt ist: (System-) Falsifikation ist keine Handlungsanleitung, sondern es ist ein bewusst werden, wie neue Erkenntnis entsteht. und durch dieses Bewusst werden, wie der Prozess entsteht, soll wissen schaffen effektiver gestaltet werden.

  10. #10 Physiker
    20. September 2015

    “[…] Ihr seht also, dass das strikte Poppersche Kriterium “Eine Beobachtung, die der Theorie widerspricht, macht die Theorie zunichte” nicht unbedingt so einfach umzusetzen ist. ”

    Das ist übersimplifiziert und falsch. Die Kriterien die Popper aufgestellt hat berücksichtigen natürlich die Problematik noch offener/unverstandener Sachverhalte. Um das festzustellen reicht ein Blick in den Wikipedia-Artikel zum Falsifikationismus:
    “Widersprechen anerkannte Basissätze einer Theorie, so sind sie nur dann Grundlage für deren Falsifikation, wenn sie gleichzeitig eine falsifizierende Hypothese bewähren. (LdF, 63)”

  11. #11 MartinB
    20. September 2015

    @Stefan und Jürgen
    Ja, ich habe hier vieles verkürzt und vereinfacht dargestellt. Es ging mir ja gerade nicht darum, Popper philosophisch im Einzelnen zu diskutieren, wie ja auch im zweiten Absatz sehr deutlich formuliert, sondern darum, die einfache Idee der Falsifizierbarkeit unter verschiedenen Bedingungen im Alltagsleben der Wissenschaftlerin zu beleuchten. Und meine Schlussfolgerung ist ja genau die auch deines letzten Satzes: Das Konzept hilft, sich bewusst zu machen, wie man klugerweise vorgehen sollte.

  12. #12 MartinB
    20. September 2015

    @Physiker
    ““Widersprechen anerkannte Basissätze einer Theorie, so sind sie nur dann Grundlage für deren Falsifikation, wenn sie gleichzeitig eine falsifizierende Hypothese bewähren.”
    Sorry, der Satz ist mir zu hoch. Was sind in diesem Zusammenhang “anerkannte Basissätze” und was ist eine “falsifizierende Hypothese”?

    @alle
    Um es nochmal ganz klar zu sagen: Die Falsifikation wird sehr häufig in der Wissenschaft in der einfachen Weise aufgefasst, wie ich sie hier dargestellt habe. (z.B. von feynman “If it disagrees with experiment, it is wrong”.)
    Es ging mir hier darum, genau das ein bisschen aus dem Alltag heraus zu beleuchten.

  13. #13 Joseph Kuhn
    20. September 2015

    @ Herbert Wehner:

    “Wissenschaft, die in Gestalt einer Religion daherwandelt”, gibt es natürlich, gerade in vermarktungsnahen Feldern wie der Pharmaforschung. Was wir darüber wissen, verdanken wir aber vor allem kritischen Wissenschaftler/innen, nicht Wissenschaftskritiker/innen oder Anhänger/innen einer “Die Natur ist gut-Religion”. Impfungen, Gentechnik, den Umgang mit radioaktiven Stoffen oder Pestiziden in einem Atemzug zu nennen, setzt ideologische Duftmarken, argumentieren kann man so nicht.

  14. #14 Joseph Kuhn
    20. September 2015

    @ MartinB:

    Falls ich mit “Jürgen” gemeint bin: Mein Kommentar war nur als ergänzender Hinweis gedacht, nicht als Kritik an Deiner Argumentation, die ich völlig richtig finde. Dass man Popper oft zu einfach darstellt, hat vermutlich mit der Eingängigkeit des Falsifikationskonzepts zu tun, für dessen Verständnis ja Wikipedia in der Tat ausreicht. Dabei würde es sich durchaus lohnen, in der “Logik der Forschung” zu schmökern, es gibt darin z.B. interessante Passagen zur Frage der Bewährung von Theorien – und übrigens auch ein ganzes Kapitel zur Quantentheorie (das ich aber weder verstehe noch beurteilen kann, was davon heute noch relevant ist).

  15. #15 Physiker
    20. September 2015

    “Was sind in diesem Zusammenhang “anerkannte Basissätze” und was ist eine “falsifizierende Hypothese”?”
    Das steht auch im zitierten Wikipedia-Artikel:
    “Diese falsifizierende Hypothese ist die Beschreibung eines Effekts, der die falsifizierenden Basissätze erklärt (und zwar, da diese Hypothese gleichzeitig bewährt werden muss, nicht ad hoc).”
    Basissätze sind im wesentlichen Es-gibt-Sätze.

    Den zitierten Satz interpretiere ich so, dass es gemäss Popper zum Falsifizieren eben nicht ausreicht ein Gegenbeispiel zu finden, sondern dass es auch einer alternativen Erklärung bedarf.

    Aber sowohl Joseph Kuhn als auch Stefan haben ja bereits dieses naive Verständnis von Falsifikation kritisiert – genauer: die Zuschreibung dieses naiven Verständnisses an Karl Popper: “strikte Poppersche Kriterium”.

    Wenn ein Grossteil der Wissenschaftler und Ikonen wie Feynman Falsifikation angeblich oder tatsächlich auch so simplifiziert verstanden haben, dann finde ich das mindestens bedenklich.

  16. #16 MartinB
    20. September 2015

    @Joseph
    Sory für den Namenspatzer.

    @Physiker
    “Den zitierten Satz interpretiere ich so, dass es gemäss Popper zum Falsifizieren eben nicht ausreicht ein Gegenbeispiel zu finden, sondern dass es auch einer alternativen Erklärung bedarf.”
    So hatte ich ihn auch verstanden, aber vermutet, dass das nicht gemeint sein kann – denn das ist schlicht falsch.
    Ich muss nicht zwingend schon eine Erklärung B haben um zu sehen, dass A experimentell widerlegt ist. Jedenfalls funktioniert Wissenschaft in der Praxis nicht so. Bei meinen beliebten Schichtsystemen gibt es z.B. eine Beobachtung, die ich nicht durch meine Simulationen erklären kann. Ich habe verschiedene Ideen gehabt, woran das liegen könnte, aber ich habe diese Erklärungen alle verworfen, weil sie sich nicht bestätigen ließen. Ich weiß immer noch ncht, woher der Effekt kommt.

  17. #17 BreitSide
    Beim Deich
    20. September 2015

    @MartinB: “Boah, bist du alt…” Jup :seufz:

  18. #18 Herbert Wehner
    20. September 2015

    @Joseph Kuhn

    Recht vielen Dank für Ihre erhellenden Differenzierungen, Herr Doktor.
    Zitat (Über dieses Blog): “Jenseits dieser Grenzen werden Drachen wohnen”.

    Ergeht es Ihnen auch so? Beim Verlassen Ihrer bekannten Welt das Unbekannte für bedrohlich zu halten, oder zumindest für etwas mit unbekannter Kräften behaftetes?

    Warum ich diese Frage stelle? –
    Ich möchte darauf hinweisen, daß es genau das ist was mit einem geschiet, der seine bekannte Welt verläßt und nun ganz “typisch” (verzeihen Sie dieses Wort) reagiert.
    Ich bin weder Agent einer “Wissenschafts-Mafia” noch setze ich “ideologische Duftmarken”.

    Derartige Reaktionen sind in meiner Interpretation eine Reaktion auf die Schwierigkeiten, sich seiner Verantwortung bewußt zu werden UND dann entsprechend zu Handeln. Und diese Handlungen müssen weit hinein-reichen ins unbekannte Land.

    – @MartinB
    Denoch allen Respekt, für Ihren Mut, sich auf dieses Abenteuer einzulassen.

  19. #19 MartinB
    20. September 2015

    @Herbert
    ” Beim Verlassen Ihrer bekannten Welt das Unbekannte für bedrohlich zu halten, oder zumindest für etwas mit unbekannter Kräften behaftetes?”
    Nein, deswegen heißt der Blog ja HIER wohnen Drachen.

  20. #20 Joseph Kuhn
    20. September 2015

    @ MartinB, @ Physiker:

    “Widersprechen anerkannte Basissätze einer Theorie, so sind sie nur dann Grundlage für deren Falsifikation, wenn sie gleichzeitig eine falsifizierende Hypothese bewähren.”

    Der Satz steht in “meiner” Ausgabe auf Seite 55 (Abschnitt 22) und dort in einem Zusammenhang, in sich dem Popper – genau wie im Blogbeitrag argumentiert wird – gegen einen zu schematischen Falsifizierungsautomatismus wendet: “widersprechen also der Theorie nur einzelne Basissätze, so werden wir sie deshalb noch nicht als falsifiziert betrachten. Das tun wir vielmehr erst dann, (…) wenn eine (…) empirische Hypothese von niedrigerer Allgemeinheitsstufe, die der Theorie widerspricht, aufgestellt wird und sich bewährt.” (ebda, Seite 54). Popper will vermeiden, dass Theorien aus nicht stichhaltigen Gründen bzw. Beobachtungen, die man nicht gut interpretieren kann, verworfen werden. Die Formulierung mit der Allgemeinheitsstufe verweist auf Ableitungszusammenhänge von Sätzen.

    Kommentar #12: “Basissätze” sind Sätze, die sich aus einer Theorie ableiten lassen und bestimmte, für den Zusammenhang mit der Theorie relevante Eigenschaften haben.

    @ Herbert Wehner:

    Ob man beim Verlassen einer bekannten Welt das Unbekannte für bedrohlich hält oder nicht, ist eine empirische Frage. Es kommt auf die Bedingungen an. Gute Forschung ist immer das Verlassen einer bekannten Welt, sonst käme nichts Neues dabei heraus. Dass Kritik an herrschenden Lehrmeinungen bedrohlich sein kann, ist allerdings nichts Neues.

  21. #21 Spritkopf
    21. September 2015

    @Herbert Wehner

    Ergeht es Ihnen auch so? Beim Verlassen Ihrer bekannten Welt das Unbekannte für bedrohlich zu halten, oder zumindest für etwas mit unbekannter Kräften behaftetes?

    Das hat schon was Ironisches, dass jemand, der selbst sehr deutlich Verschwörungstheorien zugeneigt ist, einen solchen Satz ausspricht. Projektion?

    noch setze ich “ideologische Duftmarken”.

    Neiiin! Wie kann nur jemand auf solch einen Gedanken kommen?

  22. #22 Name auf Verlangen entfernt
    Nürnberg
    21. September 2015

    “In vielen populärwissenschaftlichen Büchern steht, dass es nach Newton gar keine Periheldrehung geben dürfte, das ist aber falsch, weil der Einfluss der anderen Planeten eine Rolle spielt. Nur ein Teil der Periheldrehung kommt durch Effekte der Allgemeinen Relativitätstheorie zu Stande.”

    Hört, hört!

  23. #23 MartinB
    21. September 2015

    @MT
    Ist Ihnen das neu? Dann sind Sie ja nie sehr tief in die Physik vorgedrungen, in echten Physikbüchern steht das schon korrekt drin…

  24. #24 Dr. Webbaer
    21. September 2015

    Popper war wohl “etwas” i.p.. Falsifikationsimus zentriert, ehrlich geschrieben ist dem Schreiber dieser Zeilen unklar, was Popper genau mit dem Kritischen Rationalismus meint, schlecht lesen sich Poppers Ausführungen für ihn nicht.

    Korrekt bleibt natürlich, dass Theorien beschreiben, erklären und die Vorhersage erlauben, wobei bereits eine dieser drei Fähigkeiten der Theorien wissenschaftlich Sinn machen kann.
    Naturwissenschaft (oder Wissenschaft generell) ist eine Veranstaltung der Primaten oder ‘von Menschen gemacht’.

    Die empirische Adäquatheit einer naturwissenschaftlichen Theorie bleibt natürlich “nett”.

    MFG und für den WebLog-Eintrag dankend,
    Dr. W

  25. #25 Dr. Webbaer
    21. September 2015

    Bonuskommentar:

    Natürlich gibt es manche Theorien, die prinzipiell unwiderlegbar sind – um die müssen wir uns tatsächlich nicht kümmern. Wen[n] ich zum Beispiel behaupte, dass das Universum in Wahrheit vor drei Minuten erschaffen wurde, aber mit allen Bestandteilen eben genau da, wo sie vor drei Minuten waren (einschließlich unserer Erinnerungen etc.), dann lässt sich dieses Universum in keiner Weise von unserem unterscheiden. Die Behauptung ist also unwiderlegbar. Solche Theorien sind also eindeutig nicht wissenschaftlich.

    Lässt sich die Urknall-Theorie widerlegen? Wäre sie im Nein-Fall ‘unwissenschaftlich’?
    Ist die MUH unwissenschaftlich?
    Trägt die Metaphysik einen unwissenschaftlichen Kern oder bildet gar diesen?
    Ist die Argumentation einiger, insbes. der von strenggläubigen Juden, die behaupten, dass die Welt vor ca. 6.000 Jahren (vgl. : ‘drei Minuten’) sozusagen gebootet worden ist, mit all ihren Beleglagen, die erkennende Subjekte feststellen könnten und zu einem Teil bereits festgestellt und physikalisch theoretisiert haben, unwissenschaftlich?
    Liegt bspw. Philip K. Dick mit seinen (seinerzeit: vielleicht) neuartigen Weltbildern ganz abseits des Wissenschaftlichen?

    MFG
    Dr. W