Kräfte sind Wechselwirkungen
Tatsächlich ist es besser, das erste Newtonsche Gesetz etwas anders zu interpretieren oder zu formulieren:
Ein isoliertes Objekt, das nicht mit anderen Objekten wechselwirkt, hat eine konstante Geschwindigkeit. Diese Eigenschaften von Objekten nennt man die Trägheit.
Warum ist das eine bessere Formulierung? Weil dadurch klar wird, dass die Geschwindigkeit eines Objekts eine Eigenschaft ist, die zu diesem Objekt gehört. Ändern kann sich die Geschwindigkeit nur durch Wechselwirkungen.
Und diese Wechselwirkungen heißen Kräfte. Eine Kraft ist eine Wechselwirkung zwischen zwei Objekten (wobei in der Physik eins der Objekte auch zum Beispiel ein elektrisches Feld oder etwas ähnlich Abstraktes sein darf). Wenn sich die Geschwindigkeit eines Objekts ändert, dann wissen wir, dass eine Kraft auf das Objekt gewirkt hat, und wir wissen auch, wie groß diese Kraft war. (Wenn es richtig sehe, wird dieses Konzept der Wechselwirkung im aktuellen Schulunterricht stark hervorgehoben. Man muss ja auch mal loben…)
Was man bei der Formulierung der Gesetze also dazusagen muss, ist, dass Kräfte Wechselwirkungen sind. Das steht nicht explizit da. (Obwohl es implizit im dritten Axiom enthalten ist, das sagt: Wenn Objekt A auf Objekt B eine Kraft ausübt, dann übt auch B auf A eine Kraft aus, die gleich groß ist, aber in die entgegengesetzte Richtung zeigt.)
Wenn man dieses Wissen dazunimmt, dann ergibt es durchaus Sinn, die beiden Gesetze zu trennen:
Newton 1: Ohne Wechselwirkungen bleibt die Geschwindigkeit konstant.
Newton 2: Mit Wechselwirkung gibt es eine Beschleunigung, und die Gleichung dafür ist Kraft gleich Masse mal Beschleunigung.
Newton 2 sagt uns dann noch, wie wir die Wechselwirkung (als Kraft) Quantifizieren können. Das ist in gewisser Weise analog zu den Überlegungen vom letzten Mal: Dort hatten wir gesehen, dass die “Größe” eines Objekts für dessen Masse relevant ist und dann haben wir diese Erkenntnis genommen, um “Größe” genauer zu fassen und zu sehen, dass es ums Volumen geht.
Hier ist es ähnlich: Dank Newton 1 wissen wir, dass Wechselwirkungen (Kräfte) einen Einfluss auf die Geschwindigkeit haben (weil die ohne Wechselwirkung konstant bleibt). Und dann nehmen wir das, um den Begriff “Kraft” schärfer zu fassen als Kraft ist Masse mal Beschleunigung.
Warum in dieser Form? Warum nicht einfach “Kraft gleich Beschleunigung”? Weil wir aus dem Alltag wissen, dass wir zum Beschleunigen einer großen Masse mehr tun müssen als zum Beschleunigen einer kleinen Masse, wir wissen also, dass die Masse eingehen muss- um etwas schweres zu beschleunigen, brauchen wir mehr Kraft. Insofern ist es zumindest plausibel, dass die Masse hier als Faktor eingeht.
Plausibel ist zwar ganz nett – aber nicht alles, was plausibel ist, ist auch richtig. Um zu sehen, ob Kraft gleich Masse mal Beschleunigung ist, muss man Experimente machen. Man kann beispielsweise mit einer Feder oder einem Katapult oder etwas Ähnlichem unterschiedlich große Massen beschleunigen und messen wie groß die Beschleunigung ist. Bei einer großen Masse ist sie klein, bei einer kleinen Masse ist sie groß. Man kann auch eine andere Alltagserfahrung nehmen: Wir wissen, dass die Schwerkraft Massen anzieht und dass die Anziehungskraft auf eine doppelt so große Masse auch doppelt so groß ist. Und wir wissen – dank Galilei – dass alle Massen gleich schnell fallen. Wenn also die Masse verdoppelt wird, wird die Kraft verdoppelt. Wenn die Beschleunigung trotzdem gleich bleibt, dann muss die Kraft proportional zur Masse sein.
Anmerkung: Wir haben hier zwei unterschiedliche Begriffe von “Masse” – einmal über die Schwerkraft und einmal über den Faktor im Newtonschen Gesetz. Dass diese beiden zwingend gleich sein müssen (dass also die Schwerkraft proportional zum Faktor im 2. Newtonschen Gesetz ist), war lange Zeit eine unerklärliche Tatsache. Erst Einstein hat erklärt, warum das so sein muss – aber das ist eine ganz andere Geschichte, die ich ein andermal erzählt habe. (Achtung, der Link geht in eine längere Artikelserie, wenn ihr den Text wirklich nachvollziehen wollt, müsst ihr vermutlich am Anfang anfangen.)
Feynman hat in seinen Lectures das Ganze sehr schön knapp auf den Punkt gebracht:
these laws say pay attention to the forces. If an object is accelerating, some agency is at work; find it.
[Frei übersetzt: Diese Gesetze sagen: Achte auf die Kräfte. Wenn ein Objekt beschleunigt, steckt irgendetwas dahinter; finde heraus, was.]
Kraft und Impuls
Eigentlich geht es in diesem Artikel (oder dieser Artikelserie, wozu sich “Die Gleichungen der Physik” anscheinend unvermeidlich entwickelt) ja um Gleichungen. In Gleichungen formuliert lautet das zweite Newton-Gesetz
Kraft = Masse mal Beschleunigung
oder in Formelzeichen (wo man Mal-Zeichen ja meist weglässt)
F = m a
Eigentlich muss man berücksichtigen, dass die Kraft und die Beschleunigung eine Richtung haben (wer mathematisch vornehm sein will, sagt dazu “Vektoren”) – man kann dann kleine Pfeile über die Symbole F und a malen oder sie etwas fett drucken:
F = m a (keine Sorge, zur Interpretation kommen wir gleich)
Es gibt eine eng verwandte Größe in der Mechanik, den Impuls, abgekürzt mit dem Buchstaben p (oder p, wenn ihr deutlich machen wollt, dass der Impuls ne Richtung hat.) Die Definitionsgleichung für den Impuls sieht sehr ähnlich aus zu der der Kraft
p = m v
Sieht doch wirklich fast identisch aus – eine Größe ist gleich Masse eines Objekts mal Geschwindigkeit (beim Impuls) bzw. Beschleunigung (bei der Kraft) des Objekts.
Die Interpretation der Gleichungen ist aber ganz unterschiedlich – und das liegt genau am ersten Newtonschen Gesetz. Weil ein Objekt, das von außen ungestört ist, seine Geschwindigkeit beibehält, ist es sinnvoll, die Geschwindigkeit als eine Eigenschaft anzusehen, die dem Objekt zugeordnet ist. Die Masse eines Objekts ändert sich normalerweise auch nicht beim Bewegen (Raketen, die Treibstoff ausstoßen, sind eine Ausnahme). Also ist auch der Impuls eines Objekts eine Eigenschaft des Objekts – er kann sich ändern, aber nur, wenn etwas passiert, nicht einfach so. (Dass man in der Physik oft lieber dem Impuls als die Geschwindigkeit anguckt, hat etwas mit der Impulserhaltung zu tun, die habe ich z.B. hier erklärt.) Die Gleichung p = m v ist also eine Gleichung, die eine Größe festlegt, die sich auf ein Objekt bezieht, und zwar über zwei andere Größen, die sich ebenfalls auf dieses Objekt beziehen. Es ist eine echte Definitionsgleichung – der Impuls eines Objekts ist immer m v, und letztlich ist es nur eine Vereinfachung der Schreibweise, weil in vielen Gleichungen eben das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit auftaucht. (Jedenfalls ist das so, solange wir in der reinen Mechanik bleiben. Nimmt man elektromagnetische Felder hinzu, dann stellt man fest, dass die auch einen Impuls haben, obwohl es sich ja nicht um materielle Objekte handelt.)
Bei der Kraft ist das ganz anders: Die Gleichung F = m a ist keine Gleichung, die sich nur auf ein Objekt bezieht – sie sagt etwas über die Beschleunigung unseres Objekts, aber für eine Beschleunigung braucht man eben immer eine Wechselwirkung mit etwas anderem. Diese Gleichung beschreibt also die Wechselwirkung, nicht das Objekt, dessen Masse und Beschleunigung wir betrachten. Wenn ihr sie als Definition der Kraft betrachten wollt, dann ist es eine Definition, die eine Wechselwirkung quantitativ beschreibt.
Mehrere Kräfte
Aber auch da ist Vorsicht geboten. Was ist denn zum Beispiel mit dem Fahren auf dem Fahrrad, über das wir oben schon gerätselt haben? Ich fahre mit konstanter Geschwindigkeit, also werde ich nicht beschleunigt, also wirkt keine Kraft?
Doch – es wirken sogar mehrere Kräfte. Auf der einen Seite ist die Reibungskraft, die mich abbremsen würde, auf der anderen Seite die Kraft, die ich auf die Pedale ausübe und die dann auf die Straße übertragen wird, die mich beschleunigen würde. Wenn ich bei konstanter Geschwindigkeit fahre, heben sich diese beiden Kräfte auf.
Das F in der Gleichung F = m a ist also die Gesamtkraft, die auf ein Objekt wirkt. Wenn die Beschleunigung Null ist, heißt das eben nicht zwingend, dass es keine Kräfte gibt, sondern nur, dass sich alle Kräfte aufheben.
Stellt euch als Analogie euer Geld vor. (Das Geld ist hier genau analog zur Geschwindigkeit.) Das erste Newtonsche Gesetz, übertragen aufs Geld, sagt euch: Wenn ihr kein Geld ausgebt oder bekommt (das nennen wir Geldtransfer), ändert sich euer Geldbesitz nicht. Und das zweite Gesetz sagt: Ein Geldtransfer ist definiert als die Änderung eures Geldbesitzes. Wenn ihr 100 Euro ausgebt, hat sich euer Geldbesitz geändert, also gab es einen Geldtransfer. Wenn ihr aber 100 Euro ausgebt, euch gleichzeitig aber jemand 100 Euro Schulden zurückzahlt, hat sich euer Geldbesitz zwar nicht geändert – es gab aber trotzdem zwei Geldtransfers.
Genauso ist es auch bei der Kraft – wenn sich die Beschleunigung nicht ändert, dann heißt das nicht, das überhaupt keine Kräfte wirken (den Fall behandelt das erste Gesetz), sondern nur, dass die Summe aller wirkenden Kräfte Null war. Und genau das ist der Grund, warum meiner Ansicht nach die Formulierung “Das zweite Newtonsche Gesetz ist die Definition der Kraft” ein bisschen irreführend ist.
Und damit klärt sich auch, was mit unserer Nuss vom Anfang passiert ist. Auf die Nuss wirken mehrere Kräfte – einmal die Kraft, mit der wir draufdrücken, dann die Kraft, mit der die Tischplatte die Nuss daran hindert, zu beschleunigen. (Hinzu kommt noch die Schwerkraft, aber die spielt im Moment keine Rolle.) Die Nuss als Ganzes ist damit im Kräftegleichgewicht und bewegt sich nicht. Aber zwischen den beiden Kräften werden die beiden Seiten der Nuss zusammengedrückt, bis die Nuss zerspringt. (Um das ganz genau physikalisch zu beschreiben, müssten wir den Begriff der “Spannung” einführen, aber das mache ich vielleicht ein andermal. Nachtrag: Hat etwas gedauert, aber ich hab’s getan.) Die Nuss war also wirklich nicht kräftefrei, auch wenn die Summe aller Kräfte auf die Nuss gleich Null war.
Tja, wie ihr seht, ist selbst so eine simple Gleichung wie “Kraft ist Masse mal Beschleunigung” durchaus trickreich – und hier steckt ein guter Teil der Schwierigkeit in dem scheinbar harmlosen Wort “ist”. (Dazu habe ich mir früher schon mal Gedanken gemacht – der Text dort ist aber etwas mathematischer als dieser hier und hantiert deutlich mehr mit Formeln..) Wieder einmal zeigt sich, dass die Physik oft kniffliger ist als man denkt.
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