Man analysiert also die ganzen Zerfälle und vergleicht sie mit dem, was man nach der gängigen Theorie der Elementarteilchen (dem berühmten Standardmodell) erwartet. Man zieht alles ab, was kein Higgs-zerfall ist und schaut dann, ob das, was übrig bleibt, zu dem passt, was man für das Higgsteilchen erwartet.
Erwarten tut man, dass das Higgsteilchen in alle möglichen anderen Teilchen zerfallen kann. Hier eine Übersichtsgrafik, die die Möglichkeiten zeigt. Auf der x-Achse ist die Masse des Higgs aufgetragen, auf der y-Achse die Wahrscheinlichkeit für den jeweiligen Zerfall. (Achtung, die Skala ist logarithmisch, also beim Lesen etwas aufpassen.)
By TimothyRias – Own work, CC BY-SA 3.0, Link
Inzwischen wissen, wir, dass die Higgs-masse so etwa bei 125GeV liegt (in der Grafik steht GeV/c², aber das c² lässt man meist weg). Bei dieser Masse sollte es mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa 60% in ein paar aus einem bottom-Quark und einem bottom-Antiquark zerfallen. Generell gilt, dass die Wahrscheinlichkeit, in andere Teilchen wie Quarks oder Leptonen (also Elektronen, Myonen, Tauonen) zu zerfallen, um so größer ist, je größer die Masse der Zerfallsteilchen ist. Das liegt schlicht daran, dass (wie wir oben gesehen haben) das Higgs-Teilchen eine Anregung des Higgsfeldes ist, und die Teilchen wechselwirken ja um so stärker mit dem Higgsfeld, je schwerer sie sind. Es ist also sehr unwahrscheinlich, dass ein Higgsbeispielsweise in ein Elektron und ein Positron zerfällt, die sind einfach zu leicht. Falls ihr euch wundert, warum das Higgs nicht in ein top-Quark-Paar (also Top+Antitop) zerfallen kann: Die sind einfach zu schwer, ein Top-Quark ist schwerer als ein Higgs, also passiert das nicht. Zusätzlich kann das Higgs auch in andere Teilchen zerfallen, beispielsweise Phtononen (mit dem griechischen gamma gekennzeichnet) oder Gluonen (g) oder die Teilchen der schwachen Wechselwirkung (W und Z).
Am wahrscheinlichsten ist also der Zerfall eines Higgs in ein Paar aus bottom+antibottom-Quarks. Dieser Prozess ist aber nicht der, den man 2012, bei der Entdeckung des Higgs, herangezogen hat. Der Grund dafür ist schlicht der, dass ein Paar aus bottom und antibottom bei der Kollision von zwei Protonen auch auf diverse andere Arten entstehen kann, die alle viel wahrscheinlicher sind als der Weg über ein Higgs-Teilchen. Die wenigen Zerfälle herauszufiltern, die von einem Higgs stammen, ist deshalb ein ziemlich hoffnugsloses Unterfangen, und man hat damals die Zerfallswege analysiert, bei denen das Higgs in Photonen oder Ws und Zs zerfällt.
Und warum soll man sich – wo wir das Higgs doch längst nachgewiesen haben – für diesen speziellen Zerfall in b+anti-b interessieren? Ganz einfach: Wir wissen ja längst, dass das Standardmodell nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann – es liefert keine Erklärung für die Massen von Neutrinos und passt ja auch nicht mit der Gravitation zusammen (dazu bräuchten wir eine Theorie der Quantengravitation). Außerdem sind die meisten Physikerinnen der Ansicht, dass das Standardmodell zu viele freie Parameter enthält, die man in die Theorie reinstecken muss, als dass es wirklich eine fundamentale Theorie sein kann. (Ob solche Argumente wirklich gut sind, ist ne andere Frage…) So oder so ist es sinnvoll, zu prüfen, ob der Zerfall des Higgs so passiert, wie unsere Theorie es vorhersagt.
Damit das klappt, muss man also einen Weg finden, den Wust aus b+anti-b irgendwie so aufzudröseln, dass man sieht, welche dieser Zerfällt vom Higgs stammen und welche von etwas anderem. Dazu betrachtet man nur solche Fälle, in denen das Higgs-Teilchen nicht allein entsteht, sondern zusammen mit anderen Teilchen, nämlich den Teilchen der schwachen Wechselwirkung (W- und Z-Bosonen). Man betrachtet also einen Prozess, bei dem aus den kollidierenden Protonen z.B. erst ein Z-Boson entsteht, das dann ein Higgs-Teilchen abstrahlt, dabei aber selbst noch erhalten bleibt, bevor es dann ebenfalls zerfällt. Z-Bosonen zerfallen häufig in Paare aus Leptonen – beispielsweise Elektron+Positron, Myon+ Anti-Myon usw. Man sucht jetzt also nach Ereignissen, bei denen neben den Zerfallsprodukten, die man für b+anti-b erwartet, auch noch die Zerfallsprodukte für ein Z-Boson findet. (Genau so geht es mit den W-Bosonen). Diese Ereignisse sind zwar selten, dafür gibt es heir aber nicht so vielen störenden Hintgergrund von anderen Ereignissen, die ähnlich aussehen.
Man untersucht jetzt die Energie der bottom-antibottom-Quarks. Bei einer Energie von 125GeV (der Masse des Higgs) sollten die mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit entstehen, bei kleineren Energien (besonders der des Z-Bosons), sollten sie ebenfalls sehr wahrscheinlich sein. Heraus kommt dann ein Bild wie dieses hier (es gibt auch detailliertere Auswertungen in der Veröffentlichung, die sind aber schwerer zu durchschauen):
Bild aus Phys Lett B 786 (2018), s.u.
Hier seht ihr auf der x-Achse die Energie des bottom-antibottom-Paares aufgetragen, auf der vertikalen Achse die relative Häufigkeit (in etwas abstrusen Einheiten…). Die roten Flächen geben jeweils den erwarteten Anteil des Mechanismus, bei dem aus einem W oder Z (zusammengefasst als V für den Begriff “Vektorboson”) ein Higgs entsteht und das Higgs dann in bottom-antibottom zerfällt. Die grauen Flächen geben einen weiteren sehr großen Anteil an, bei dem zwei solche Vektorbosonen (W und Z) entstehen, von denen eins dann ein bottom-antibottom erzeugt, aber kein Higgs beteiligt ist. Alle anderen Prozesse sind bereits als störender Hintergrund abgezogen. Alle diese Flächen sind also die theoretische Erwartung, die Datenpunkte sind die schwarzen punkte (deren Balken die Fehlergrenzen angeben).
Ihr seht, dass bei der Energie des Higgs im Bereich von 125GeV die rote Fläche sehr groß ist (hier erwartet man einen großen Anteil dieses Prozesses) und dass hier der Beitrag des störenden zwei-Vektorboson-Prozesses klein sein sollte. Die Messpunkte liegen hier genau da, wo man sie erwartet – wäre das Teilchen, das bei 125 GeV entsteht, nicht das Higgsteilchen sondern etwas anderes, müsste man hier eine Abweichung erwarten.
Nicht nur die Leute vom Atlas-Detektor, sondern auch die des CMS-Detektors am CERN haben diesen Prozess gemessen, das CMS-Bild der Daten sieht nahezu gleich aus (und die Gruppen haben sich anscheinend auch abgesprochen, was die Erstellung der Grafiken angeht, denn die benutzen auch dieselben Farben).
Beide Gruppen sind sich also in ihren Ergebnissen einig. Analysiert man die Daten genau, stellt man fest, dass die Häufigkeit des Higgs-Zerfalls sehr gut zur Vorhersage des Standardmodells passt. Abweichungen vom Standardmodell sind auf jeden Fall kleiner als 15-20%.
Wieder einmal hat sich also gezeigt, dass das Standardmodell trotz all seiner theoretische Schwächen sehr gute Vorhersagen machen kann. Neue Physik wurde bei der Analyse der Daten also nicht gefunden – das ist schade, aber auf jeden Fall eine wertvolle Erkenntnis.
Aaboud, Morad, et al. “Observation of H→ bb¯ decays and VH production with the ATLAS detector.” Physics Letters B 786 (2018): 59-86.
Sirunyan, Albert M., et al. “Observation of Higgs boson decay to bottom quarks.” Physical review letters 121.12 (2018): 121801.
Tuchming, Boris. “Long-sought decay of the Higgs boson seen.” (2018), Nature doi.org/10.1038/d41586-018-07405-x
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