Heute nur ein kurzer Lesetipp (vielleicht sollte ich doch mal twittern, dafür wäre das ja ideal…?): “What reading like a historian can teach us about empathy“. (Leider auf Englisch…) Es geht um unterschiedliche Arten (in den Geisteswissenschaften), einen Text zu lesen. Heutzutage lesen wir ja gern kritisch: Wir suchen nach versteckten Widersprüchen, die in einem Text stecken, und versuchen daraus etwas über die Autorin des Textes herauszufinden. Oder wir suchen nach versteckten Motiven, die hinter einem Text stecken und die zu verteidigen möglicherweise das eigentliche Ziel der Autorin ist. Diese Art zu lesen hat natürlich ihre Berechtigung, gerade wenn es um politische Texte geht. Sie hat aber auch den Nachteil, dass sich die Leserin gleichzeitig zur Richterin über einen Text macht.

Historikerinnen lesen – so zumindest die Aussage des Textes (ich hoffe mal, dass das stimmt, Geschichte ist nicht meine starke Seite) – oft anders und versuchen zunächst, den Text selbst erst mal aus der Sicht der Autorin zu verstehen. Im Text wird die Frage diskutiert, ob diese “empathische” Art zu lesen nicht oft angebrachter wäre und ob harsche Textkritik nicht auch zu einem “lack of charity in public discourse” (deutsch etwa “Mangel an Nachsicht in öffentlichen Debatten”) beiträgt. Gerade in Internetmedien (hatte ich nicht Twitter erwähnt?) kann man das ja oft beobachten, es wird häufig die für die jeweilige Autorin ungünstigste und negativste Lesart einer Aussage angenommen.

Natürlich ist das Ganze eine Gratwanderung – wenn wir rassistische, sexistische oder fremdenfeindliche Äußerungen lesen, ist zu viel “charity” vielleicht auch nicht angezeigt. Man kann über die Aussage des Textes also durchaus geteilter Meinung sein und sicher auch viel diskutieren. So oder so fand ich den Text aber anregend – so richtig bewusst habe ich anscheinend noch nie über unterschiedliche “Lesemodi” nachgedacht.

Kommentare (11)

  1. #1 Markweger
    19. Januar 2019

    Aber ja.
    Und wenn man die Überschwemmung des eigenen Landes mit Moslems und Ethnien aus aller Welt nicht will dann ist das rassistisch und fremdenfeindlich und was weiß ich noch was.
    Das ist doch die eigentliche Botschaft.

  2. #2 rolak
    19. Januar 2019

    Lesemodi

    Neben dem nach einem ‘könntste bitte mal nach Fehlern gucken’ gibts hier eigentlich nur einen: Neugier-getrieben. Alle Texte fangen bei ‘neutral’ an und positionieren sich durch Eigenleistung in ua den Spektren spannend→langweilig, fehlerfrei→fehlerstrotzend, unterhaltsam→Zeitverschwendung, sachlich→Propaganda, Gestoppel→wohlformuliert …

    Selbstverständlich fallen insbesondere sich in die Pupille beißende Groteskfehler auf, ebenso selbstverständlich kommt von vielen Autor*en nach Fehlerlistung die nicht nur unbegründete, sondern auch ziemlich aggressive Beschwerde, man würde ja ausschließlich auf die Fehler achten.

    Doch ja, auch ich unterstelle manchmal (Ab)Sicht der Autor*en – wenn zB eine Frage inklusive Antwort geliefert wird á la ‘willst Du damit etwa sagen, daß <name it>?’ Dann liegt imho sehr nahe, daß die gelieferte Variante als die wahrscheinlichste angesehen wird, also nehme ich sie als Aussage über mich und agiere entsprechend.
    Und klar, wenn von einem Text nicht klar ist, wer aus welchem Kontext wem was zu welchem Zwecke schreiben will, bleibt ohne reichlich Hintergrundwissen nurmehr blasse Spekulation – wie das Hineinversetzen in unbekannte Denkstrukturen unbekannter Autor*en.

  3. #3 MartinB
    19. Januar 2019

    @Markweger
    Ich weiß immer nicht, ob ich das mimimi der Rechten (“hilfe, ich werde als Rassist bezeichnet, dabei will ich doch bloß keine Ausländer in Deutschland”) nun lustig oder traurig finden soll. Irgendwie beides.

    “Das ist doch die eigentliche Botschaft.”
    Aber auf jeden Fall toll, wie man mit hinreichend eingeschränktem Blickfeld alles in einer Richtung interpretieren kann – “if all you’ve got is a hammer…”

  4. #4 Markweger
    19. Januar 2019

    Ich beklage mich doch überhaupt nicht.
    Ich sage doch nur meine Sichtweise.
    Und ja, den Kern der Sache zu sehen kann man als Einschränkung wahrnehmen oder auch nicht.

  5. #5 MartinB
    19. Januar 2019

    “Ich beklage mich doch überhaupt nicht.”
    Na dann ist ja alles gut – dann sind wir uns ja einig, dass man Leute, die von Überschwemmung durch Ausländer reden, als fremdenfeindlich bezeichnen sollte.

  6. #6 Markweger
    19. Januar 2019

    Zuwanderungsfeindlich würde ich sage, jedenfalls was illegale Zuwanderung betrifft.
    Und das ist doch legitim.

  7. #7 MartinB
    19. Januar 2019

    @Markweger
    Wie war das bei Asterix af Korsika? Ich habe nichts gegen Fremde, aber diese Fremden sind nicht von hier…
    Ist aber hier nicht deine Plattform, deswegen wird das auch nicht weiter diskutiert.

  8. #8 user unknown
    https://demystifikation.wordpress.com/2019/01/13/flugbenzinsubvention/
    19. Januar 2019

    Natürlich ist das Ganze eine Gratwanderung – wenn wir rassistische, sexistische oder fremdenfeindliche Äußerungen lesen, ist zu viel “charity” vielleicht auch nicht angezeigt.

    Ob ein Text rassistisch (oder …) ist, ist das Ergebnis einer Interpretation, kann diese also nicht leiten.

  9. #9 Alderamin
    19. Januar 2019

    @Markweger, MartinB

    Gerade heute habe ich einen schönen Kommentar in der Zeit dazu gelesen:

    Das ist seit einigen Jahren in Mode: gesellschaftliche Auffälligkeiten nicht mit politischen Missständen oder struktureller Diskriminierung zu erklären, sondern mit der Zugehörigkeit zu einem vermeintlich rückständigen Glauben. Einem Glauben, der angeblich Schriftgläubigkeit befiehlt, die wiederum zu Gewalttätigkeit aufriefe. Selbst wenn die Mehrheit innerhalb dieser Gruppe nicht religiös ist und nicht praktiziert, meint der Kulturrassist, dass die betreffende Gruppe gewissermaßen unsichtbar mit diesem Glauben kontaminiert ist und unfähig, anders zu sein, als genau so, wie es der Rassist skizziert. Wer das als ausnahmslos gemeinsames Erkennungsmerkmal dieser Gruppe auszumachen glaubt, denkt von sich selbst nicht, dass er Rassist ist, sondern betrachtet sich als kultursensiblen Gesellschaftstheoretiker und Religionskritiker. Fragt man den Rassisten, was in seinen Augen Ideologie ist, wird er eifrig auf diese Gruppe zeigen.

    ’nuff said.

  10. #10 Joseph Kuhn
    Lost in time and letters
    20. Januar 2019

    @ MartinB:

    “vielleicht sollte ich doch mal twittern, dafür wäre das ja ideal…?”

    Dein Text hat ohne die Überschrift 1618 Zeichen. Das ist zuviel für Twitter, also nicht ideal. Oder nur in einem übertragenen Sinn.

    Aber was wollte der Autor MartinB mit seinem Satz wirklich sagen? Ich will darauf mit einer Bemerkung von Norbert Bolz aus dessen Buch “Stop making sense” antworten: “Statt einen ‘Autor’ besser zu ‘verstehen’ als er ‘sich selbst verstanden’ hat, liest man, was dasteht. So eröffnet der Verzicht auf hermeneutischen Sinn die Einsicht in die Materialität der Medien und Signifikanten.”

    Was wiederum dieser Autor damit sagen wollte, ist eine andere Frage. Der Verzicht darauf, zunächst verstehen zu wollen, was ein Autor sagen wollte, und es dann besser verstehen zu wollen, als der Autor selbst, ist schwierig. Das würde sich vielleicht nicht einmal nach einer erfolgreichen “Suche nach der vollkommenen Sprache” (Eco) erübrigen.

    Fazit (= Ergebnis einer Sinnsuche): Der Autor MartinB stellt 280 Zeichen in Aussicht, und scheibt dann doch 1618 Zeichen. Der Autor Markweger würde darin Merkmale der Lügenpresse erkennen, weil er sich nicht darin üben kann, was Norbert Bolz empfiehlt – Stop making sense! – und einfach mal liest, was dasteht.

    Dekonstruktion des Fazits: Ob der Autor dieses Kommentars diesen ernst ganz gemeint hat, kommt darauf an, ob man ihn versteht und ob man ihn besser versteht, als der Autor des Kommentars selbst.

  11. #11 Aginor
    23. Januar 2019

    Interessant zu lesen, danke fürs posten!

    Der Artikel überschneidet sich auf meines Erachtens bemerkenswerte Weise mit diesem hier aus der New York Times, nur dass es in letzterem hauptsächlich um fiktionale Texte geht:

    https://www.nytimes.com/2019/01/08/books/review/edith-wharton-house-of-mirth-anti-semitism.html

    Auch dort wird angeregt, die Sichtweise des Autors mit einzubeziehen, in ihrem historischen Kontext und vor dem Hintergrund der Lebensrealität des Autors und auch der Sprache, die in jener Zeit normal war.

    Für mich war so ein Wendepunkt an dem mir die Wichtigkeit von Kontext bewusst wurde das lesen von verschiedenen Büchern der Genres Fantasy und Science Fiction, aber je nachdem wie genau man hinsehen möchte ist das bei fast jedem Buch so. Der Autor ist ein Kind seiner Zeit.
    Als Beispiel sei Robert E. Howard genannt, aber auch z.B. Goethe. Alleine schon aufgrund der Verwendung von bestimmten “Signalwörtern” würde man einige Werke dieser Autoren heute zerreißen, und auch Unterstellungen verbreiten, die der Intention des Autors möglicherweise zuwiderlaufen würden, einfach weil sich danach durch kulturelle und sprachliche Entwicklung die Regeln verändert haben, was akzeptabel ist und was nicht.

    Auf jeden Fall ein spannendes Thema, ich bin mir zuweilen selbst nicht ganz sicher wo ich stehen soll, das variiert stark.

    Gruß
    Aginor