Tut mir Leid, wenn ich mich hier mal kurz aufregen muss, aber das lässt sich leider gerade nicht vermeiden…
Ich lese gerade das Buch “Beyond Weird” von Philipp Ball, in dem es um die Quantenmechanik und ihre Interpretationen geht. Das Buch ist ziemlich gut (nicht zuletzt deshalb, weil da vieles drinsteht, was ich auch immer sage;-)), aber heute morgen habe ich mich über einen Abschnitt doch ziemlich geärgert.
Hier ein Auszug zur Geschichte der QM und der Materiewellen-Theorie von de Broglie:
In 1924 the French physicist and aristocrat Louis de Broglie proposed that quantum particles – then still envisaged as tiny lumps of stuff – might display wave-like properties. His idea was, like so many others in early quantum theory, nothing much more than a hunch. He was generalizing from, indeed inverting, Einstein’s earlier argument that light waves display particle-like behaviour when they manifest as photons with discrete energies.
If light waves can be particle-like, de Broglie said in his doctoral thesis, then might not the entities we’ve previously considered as particles (such as electrons) be wavy? The proposal was controversial and all but dismissed until Einstein suggested, after some reflection, that it was worth heeding after all. ‘It looks completely crazy ,’ he wrote, ‘but it’s a completely sound idea.’
Und hier kurz danach dazu, wie Schrödinger die Schrödingergleichung ersann:
After being given de Broglie’s thesis and challenged to describe wave-like particles in formal terms, he wrote down an expression for how they might behave. It was not quite like an ordinary wave equation of the sort used to describe water waves or sound waves. But it was mathematically very similar.
Why wasn’t it identical? Schrödinger didn’t explain his reason, and it now seems clear that he didn’t exactly have one. He simply wrote down what he thought a wave equation for a particle such as an electron ought to look like.
Es tut mir Leid, aber solche Darstellungen regen mich auf. Nein, Physikerinnen haben nicht einfach mal irgendwie eine Idee, schreiben die auf und freuen sich über einen erfolgreichen Arbeitstag. Nein, de Broglie hat nicht einfach gesagt” was wäre, wenn Elektronen sich auch wie Wellen verhalten würden”, und hat dann diesen Satz zu einer Dissertation aufgeblasen. Und nein, Schrödinger hat nicht einfach irgendeine Gleichung hingeschrieben, so, “wie eine Gleichung für ein Elektron aussehen sollte.”
Gerade im zweiten Fall ist das sehr deutlich. Schrödinger war ja nicht ganz blöd und kannte 1926 natürlich Einsteins spezielle Relativitätstheorie. Schrödingers erster Versuch, eine Gleichung für das Verhalten von Elektronen aufzustellen, war deshalb eine Gleichung, die explizit mit der SRT vereinbar war. Aber dann kam das, was in dieser Art Darstellung immer gern verschwiegen wird: Man stellt nicht einfach mal eine Gleichung auf, so nach Bauchgefühl. Also ja, das tut man schon, aber damit fängt die Arbeit erst an. Denn nachdem die Gleichung aufgestellt ist, tut man das, was Physikerinnen meistens tun: rechnen. (Ein anderes historisch interessantes Beispiel habe ich hier geschildert.) Und als Schrödinger die aufgestellte Gleichung nahm und versuchte, die Konsequenzen daraus zu berechnen, kam leider heraus, dass die Gleichung so nicht stimmen konnte. (Wenn ich es richtig weiß, waren es die Eigenschaften des Wasserstoff-Atoms, die vollkommen falsch herauskamen.) Und deshalb ging die Arbeit dann wieder von Vorn los, Schrödinger ersann eine andere Gleichung, und mit der passte es dann. (Schrödingers erste Gleichung wurde dann kurz danach als Klein-Gordon-Gleichung wiederentdeckt, sie beschreibt das Verhalten von anderen Elementarteilchen wie Pionen.) Schrödingers zweite Gleichung war nicht direkt mit der SRT vereinbar, so eine Gleichung zu erstellen, gelang dann erst Dirac mit der Dirac-Gleichung.
Bei de Broglie war es ähnlich: die Idee “Hey, Elektronen könnten sich doch ein bisschen wie Wellen verhalten”, wurde im Detail untersucht. Insbesondere konnte de Broglie zeigen, dass sich damit viele Eigenschaften des damals gut etablierten Bohrschen Atom-Modells richtig wiedergeben und in gewisser Weise erklären ließen. (Weil stationäre Elektronenwellen auf einem Orbit um den Atomkern geometrisch “passen” mussten, ergab sich zum Beispiel die Quantisierung quasi von selbst.)
Solche vereinfachten Geschichten sind, könnte man meinen, an sich nicht so schlimm, gerade wenn es eigentlich um Physik geht und nicht um deren Geschichte. Sie bringen aber ein großes Problem mit sich: Sie führen dazu, dass Laien denken, Physikerinnen würden tatsächlich so arbeiten, sich einfach mal was ausdenken, und die verrückteste Idee gewinnt dann oft. Und diese Leute glauben dann (logischerweise), dass man einfach nur eine clevere und verrückte Idee haben muss, um die Physik zu revolutionieren. Was dann dazu führt, dass ich wieder einmal seltsame Mails (oder auch Kommentare hier im Blog) von irgendwelchen “Privatgelehrten” bekomme, die glauben, Einstein II zu sein.
Wenn ich drüber nachdenke, gibt es sogar noch ein zweites Problem mit dieser Art Darstellung: Sie suggeriert, dass entscheidende in der Physik sei es, unglaublich clevere Ideen und geniale Intuitionen zu haben. Das wiederum ruft das Bild des “genialen Physikers” (männliche Form mit Absicht gewählt) hervor und schreckt dann vielleicht viele ab, die zwar ein gutes Verständnis haben, sich aber nicht für “genial” halten. Tatsächlich sind in der Wissenschaft aber Fleiß, Durchhaltevermögen und Fachkenntnis viel wichtiger als “Genialität”, um erfolgreich zu sein. (Und “Fleiß” soll jetzt nicht heißen, dass man eine 60-Stunden-Woche braucht, aber das ist eine andere Baustelle…) 99,9% aller Physikerinnen (ja, Männer mitgemeint, eh jetzt wieder irgendjemand in den Kommentaren meint, lustig sein zu sollen) brauchen “Genialität” in ihrer Arbeit nicht – klar, ein paar kreative Ideen sind immer mal gut, aber die Wissenschaft kommt auch so voran.
Also: wenn ihr erzählt, wie in der Physik Entdeckungen gemacht wurden, dann tut es zumindest halbwegs ehrlich: Schreibt, dass neben der (bei großen Umwälzungen ja durchaus wichtigen) Genialität und Intuition auch fleißiges Durchrechen, Überprüfen der Konsequenzen der Theorie und das Sicherstellen, dass die neue Idee auch mit allem, was wir schon wissen, in Einklang steht. Märchen können andere erzählen.
PS: Wie gesagt, ansonsten ist das Buch sehr gut (auch wenn mir manche Erklärungen etwas schwammig vorkommen) und sehr zu empfehlen.
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