So, hier das nächste Kapitel. Vorher noch ein kleiner Hinweis: Da Kindergeschichten über Hexen wirklich nicht so viel mit Wissenschaft zu tun haben, werden die Kapitel ab morgen zwar hier erscheinen, aber nicht mehr auf der Scienceblog-Startseite. Wenn ihr nichts verpassen wollt, setzt euch einen RSS-feed oder folgt mir auf Twitter (@Drachenblog), da werde ich auch Bescheid sagen, sobald ein neues Kapitel da ist.
Der Hexentrank
Als die drei auf ihre Besen stiegen, um nach Hause zu fliegen, bemerkte Miranda etwas in ihrer Tasche. „Das Notizbuch!“, fiel ihr plötzlich ein. „Wartet mal, das habe ich ganz vergessen, Euch zu zeigen.“
Miranda holte das Notizbuch hervor. Es hatte einen schwarzen Einband, von dem aber auf der Vorderseite die Hälfte fehlte. Als Miranda das Buch aufschlug, sah sie, dass es nass geworden sein musste. Das Buch war mit der Hand beschrieben, aber die Schrift war verwischt und zerlaufen, und auf den meisten Seiten sah sie nichts als große und kleine Tintenkleckse. Enttäsucht blätterte sie von Seite zu Seite. Ab und zu konnte sie einmal ein Wort lesen: „Holzfeuer“, „Spinnenfaden“, „umrühren“, „Steinlöffel“, las sie den anderen vor, wann immer sie etwas entziffern konnte.
„Ich glaube, das sind Rezepte für Hexentränke“, sagte Draconia. „Schade, dass wir sie nicht lesen können, wer weiß, ob nicht ein ganz tolles Rezept dabei ist.“
Miranda blätterte weiter. Je weiter sie kam, desto mehr Worte waren noch zu erkennen. Anscheinend hatten die hinteren Seiten weniger Wasser abbekommen als die vorderen. Ob vielleicht noch weiter hinten die Schrift lesbar wurde? Sie schlug eine der hinteren Seiten auf, aber sie wurde enttäuscht, denn diese Seiten waren leer. Also blätterte sie wieder zurck nach vorn. Etwa in der Mitte des Buches war die letzte Seite, auf der noch etwas zu erkennen war. „Hier kann man noch ziemlich viel von der Schrift lesen“, sagte sie. „ Hier steht ‘…llzaubertrank.’ Darunter steht ‘Ob Mensch oder Ding, dieser Trank macht alles geschw…’. Das Ende des Wortes kann ich nicht lesen, aber der untere Teil der Seite ist noch ganz deutlich. Da stehen die Zutaten: Libellenflügel, klares Wasser, Branntwein, Kleesamen, Efeublätter. Und wie man den Trank zubereitet, steht auch da. Ob wir es versuchen sollen?“
„Und wenn es nun ein gefährlicher Trank ist, der uns in etwas Schreckliches verwandelt?“, fragte Netti etwas ängstlich.
„Welche Worte fangen denn mit ‘geschw’ an?“, überlegte Draconia. „Geschwätzig? Aber das geht nicht, das würde ja nicht bei Dingen funktionieren.“
„Es gibt nur eins, was wir tun können“, sagte Miranda, „wir müssen es ausprobieren.“ Netti schaute immer noch etwas ängstlich, aber die beiden anderen überredeten sie. Sie flogen zu Mirandas Haus, um dort das geheimnisvolle Rezept zu brauen.
Auf einem kleinen Hügel stand ein riesiger Lindenbaum. Mirandas Haus stand direkt unter seinen großen Ästen, so dass es im Sommer schattig und kühl in ihrem Haus war. Die drei stellten ihre Besen am Haus ab und gingen hinein. Das Haus war klein, aber sehr gemütlich. Es gab ein Wohnzimmer mit einem großen Tisch und einem Ofen, neben dem ein großer Sessel stand. Das Ofenrohr war gebogen und führte an der Wand entlang unter dem Hochbett hindurch, in dem Miranda schlief. So hatte sie es beim Schlafen immer schön warm. Eine Tür führte in Mirandas kleine Küche, dahinter lag ihr noch kleineres Badezimmer.
Kurze Zeit später stand Mirandas kleiner Kupferkessel auf dem Ofen. Miranda las aus dem Notizbuch die Anweisungen vor, die Draconia genau befolgte. Netti, die ja noch nicht lesen konnte, schaute ihnen aufmerksam zu und spähte gespannt in den Topf, aus dem sich nach einiger Zeit blauer Rauch erhob. Auch Neferti, Mirandas Katze, hob kurz den Kopf, trollte sich dann aber zu ihrem Lieblingsplatz beim Ofen.
„Als letztes drei Efeublätter in fingernagelgroße Stücke zerschneiden und in den Topf werfen“, las Miranda vor. „Warte, irgendwo hier oben müssten noch getrocknete Efeublätter sein“, sagte Miranda und kramte in den Schubladen mit ihren Zaubertrankzutaten. „Hier sind sie.“ Während Draconia den Trank weiter umrührte, schnitt Miranda die Efeublätter klein und warf sie in den Topf. Es zischte etwas, als sie den Trank berührten. Der blaue Rauch wurde etwas dunkler und sah nun eher violett aus. Draconia rührte noch einmal um und hob den Kessel dann von der Feuerstelle, damit der Trank nicht verkochte.
„Und nun?“, fragte Netti.
„Und nun muss einer von uns den Trank probieren“, sagte Miranda. „Wenn ihr wollt, mache ich es.“
„Bist du sicher?“, fragte Netti, immer noch etwas ängstlich.
„Was soll denn schon passieren?“, antwortete Miranda. „Wenn der Trank gefährlich wäre, würde bestimmt eine Warnung im Buch stehen. Ich trinke auch nur ganz wenig.“
Miranda nahm einen großen Löffel und tauchte ihn vorsichtig in den Kessel. Der Trank im Löffel schimmerte violett. Sie führte den Löffel zum Mund und schnupperte, konnte aber nichts riechen. Nachdem sie noch einen Moment gewartet hatte, bis der Löffel genügend abgekühlt war, öffnete sie ihren Mund, steckte den Löffel hinein und schlürfte den Trank hinunter. Er schmeckte nach nichts. Als sie ihn herunterschluckte, spürte sie ein leises Kribbeln im Bauch, das war alles.
„Ich merke überhaupt nichts“, sagte sie und schaute die beiden anderen an. Aber was war das? Netti öffnete den Mund, doch sie bewegte sich ganz langsam, und dann sagte sie mit einer tiefen Stimme ganz langsam: „Miiiiirrrraaaaannnndaaaaa? Waaaassss iiiiiisssst mmmmmiiiiiit diiiiiiiiiir?“ Miranda konnte sie kaum verstehen, weil sie so seltsam sprach. Miranda war verwirrt. Wieso verhielt Netti sich so seltsam – sie hatte doch gar nichts von dem Trank getrunken?
„Netti? Warum bist du so langsam? Weißt du, was mit ihr los ist?“, wandte sie sich an Draconia. Doch die bewegte sich genauso seltsam. Sie schaute Miranda an und ihre Stimme klang so wie die von Netti, als sie sagte: „Nneeeetttttiiiiii iiiiiiiiissssssst nnnnnnnnniiiiiiiichchchchcht lllllllaaaaaaaaannnnnnnngggggggssssssssaaaaaaaaaammmmm, duuuuuuuuuu biiiiisssssssssst schschschnnnnneeeeelllllll geeeeeeewwwwwwoooooooorrrrrrdeeeeeeennnnnn.“
Miranda schüttelte verwirrt den Kopf. Sie fühlte sich wie immer, die anderen waren es, mit denen etwas nicht stimmte. Da fiel ihr Blick auf den Kessel. Der Zaubertrank köchelte immer noch, und noch immer stieg Rauch aus ihm auf, aber auch der Rauch stieg nur langsam in die Höhe als wäre er träge und müde. Endlich begriff Miranda. Für sie sah es so aus, als hätte die ganze Welt sich verlangsamt, aber in Wahrheit war sie selbst es, die schneller geworden war.
Miranda nahm ihren Bleistift vom Tisch, hielt ihn einen Moment fest und ließ ihn dann los. Tatsächlich, es passierte genau, was sie erwartet hatte: Der Bleistift segelte langsam zu Boden, wie ein fallendes Blatt, und sie hatte überhaupt keine Mühe, ihn wieder aufzufangen.
„Es ist ein Schnellzaubertrank“, sagte sie, wobei sie sich bemühte, langsam zu sprechen, damit die anderen sie verstehen konnten. Sie überlegte, wieviel schneller sie wohl geworden war. „Kommt nach Draußen“, forderte sie Netti und Draconia auf.
Als sie draußen auf der Wiese vor Mirandas Haus standen, sagte sie, wieder ganz langsam, zu Draconia: „Lass uns ein Wettrennen machen.“
„Uuuuunnnssssiiinnnn, duuuuu geeeeewwwwwiiiinnnnnsssssst doooooooochchchchch sssssoooooowiiiiieeeeesssssoooooooo.“
„Aber dann wissen wir, wie schnell mich der Trank wirklich macht. Komm!“ Miranda und Draconia schauten sich an und dann rannten sie los. Natürlich blieb Draconia sofort hinter Miranda zurück, obwohl sie sonst ein wenig schneller rennen konnte als Miranda. Miranda lief noch ein Stück so schnell sie konnte, dann rief sie „Stopp!“ Sie schaute zurück und sah, dass sie fast dreimal so weit gekommen war wie Draconia. „Also bin ich dreimal so schnell geworden!“, sagte sie zufrieden. Während sie zurückging, merkte sie, dass ihr fürchterlich heiß geworden war. Normalerweise kam sie von einem so kurzen Lauf nicht ins Schwitzen – vermutlich lag es also an dem Zaubertrank, dass sie sich so aufgeheizt hatte.
Als sie bei ihrem Haus angekommen war, war Draconia nach drinnen verschwunden. „Duuuu waaaarrrrsssst sssssooooo schnnnneeeeellllll wiiiiiieeee eeeeeiiiiiiinnnnnnn Beeeeeeesssssseeeeeeeeennnnnnn“, sagte Netti.
„Besen?“, fragte Miranda. „Das ist eine tolle Idee. Mal sehen, wie schnell ich mit dem Besen fliegen kann.“ Miranda ging zu ihrem Besen und stieg auf. Da kam Draconia aus dem Haus heraus. Sie bewegte sich ganz normal, nicht mehr langsam, und sagte dann „Ich habe auch von dem Trank genommen.“
„Lass uns mal die Besen ausprobieren“, sagte Miranda. „Wir können jetzt bestimmt superschnell fliegen.“ Beide kletterten auf ihre Besen und starteten. Doch zu Mirandas großer Enttäuschung war sie nicht so schnell, wie gehofft. Der Besen schien nur durch die Luft zu schleichen, als wäre er fürchterlich schwer und träge.
„Schade, und ich hatte gehofft, wir könnten jetzt durch die Gegend rasen.“
„Moment mal“, sagte Draconia. „Ich habe eine Idee.“ Sie verschwand in Mirandas Haus und kam kurz darauf mit einer Kelle voll Zaubertrank wieder. „Im dem Buch stand doch ‘ob Mensch oder Ding’.“ Vorsichtig tropfte sie etwas von dem Zaubertrank erst auf den Stiel und dann auf den Reisig ihres Besens. Sie stieg aus und schwang sich in die Luft.
Miranda beobachtete sie und sah ihr zu, wie sie durch die Luft flog. Sie sah nicht schneller aus als sonst, aber Netti schaute ihr staunend zu. „Willst du nicht auch etwas von dem Trank probieren?“, fragte Miranda sie ganz langsam. Netti schüttelte nur den Kopf. Anscheinend war sie ein wenig ängstlich.
Da landete Draconia wieder. „So fühlt sich das fliegen ganz normal an“, sagte sie. „Eigentlich schade – ich hatte gehofft, der Besen würde viel schneller sein.“
„War er doch auch“, sagte Miranda. „Du hast es nur nicht gemerkt, weil du selbst auch schnell warst.“
„Stimmt“, sagte Draconia. „Ist dir eigentlich auch so heiß?“
„Ja. Das liegt bestimmt an dem Trank. Außerdem bin ich ganz schön müde.“
Sie gingen wieder ins Haus. Drinnen angekommen, schaute Miranda auf die Uhr. Es war gerade einmal eine Stunde her, dass sie den Zaubertrank genommen hatte, aber sie fühlte sich, als wäre sie die ganze Nacht draußen herumgelaufen. Sie gähnte laut.
„Bist du müde?“, fragte Netti. Ihre Stimme klang wieder ganz normal, und jetzt merkte Miranda, dass Draconia durch das Zimmer zu sausen schien. Anscheinend hatte die Wirkung des Zaubertranks nachgelassen.
„Und wie“, sagte Miranda und gähnte wieder. „Ist ja auch kein Wunder, für mich ist ja viel mehr Zeit vergangen als für dich.“ Sie setzte sich in ihren Sessel und schaute Draconia zu, die gerade etwas neues entdeckt hatte: Sie hatte drei von Mirandas Stiften vom Tisch genommen und jonglierte sie durch die Luft. „Damit könntest Du im Zirkus auftreten“, meinte Netti.
Als sie sich einen Moment ausgeruht hatte, stand Miranda auf und füllte den Rest des Zaubertrankes in ein paar Flaschen. „Den können wir bestimmt noch gut gebrauchen“, sagte sie zu Netti. Dann warteten beide, bis der Zaubertrank auch bei Draconia zu wirken aufhörte.
„Ein toller Trank“, sagte Draconia, „aber er macht einen ganz schön müde.“ Sie gähnte genau so heftig wie vorher Miranda. Dann fiel ihr Blick wieder auf das Kästchen, das sie im Keller der Ruine gefunden hatten.
„Sollen wir morgen nach der Schule versuchen, das Kästchen aufzuzaubern?“, fragte sie die anderen.
„Ja, natürlich“, antwortete Miranda. „Ich hoffe nur, wir finden einen passenden Zauber.“
„Gut.“ Draconia gähnte wieder. „Aber jetzt fliege ich nach Hause, Ich bin furchtbar müde.“
„Ich auch“, antwortete Miranda. Sie verabschiedete ihre beiden Freundinnen und machte sich bettfertig, so schnell sie konnte. Es war wirklich eine aufregende Nacht gewesen.
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