Das Kästchen
Als Miranda am nächsten Abend in der Schule ankam, wurde sie von Draconia schon ungeduldig erwartet.
„Hast Du das Kästchen dabei?“, fragte Draconia aufgeregt. Die anderen Mitschüler bestaunten Miranda und Draconia.
„Seit wann vertragt Ihr euch denn so gut?“, fragte Lucretia verblüfft. „Ich denke, Ihr habt Streit.“
„Streit?“, sagte Miranda und lachte. „Ach das. Das ist doch längst vergessen.“ Und dann ging sie mit Draconia ein Stück zur Seite, um ihr das Kästchen zu zeigen, das natürlich noch genauso aussah wie in der letzten Nacht.
Während des Unterrichts waren beide ziemlich unaufmerksam, denn sie dachten nur an das Kästchen. In der großen Pause sagte Draconia „Komm, wir gehen in die Bibliothek, vielleicht finden wir etwas.“ Aber Miranda bestand darauf, dass sie bis nach der Schule warteten, damit auch Netti dabei sein konnte.
Endlich war es so weit. Als der Unterricht zu Ende war, wartete Netti schon vor der Tür der Hexenschule. Die drei Hexenkinder gingen in die Bibliothek. Sie schauten auf die vielen Hundert oder vielleicht sogar Tausend Bücher in den Regalen und überlegten, wo sie anfangen sollten.
„Bücher mit Zaubersprüchen stehen hier drüben, glaube ich“, sagte Draconia, ging zu einem der Regale und las die Titel auf den Buchrücken. Kurze Zeit später hatte sie zwei Bücher herausgesucht, nämlich „Das große Buch der Öffnungszauber“ und „1001 Hexsprüche für jede Gelegenheit.“
Miranda suchte eine Weile herum, aber sie fand kein Buch mit einem ähnlich vielversprechenden Titel. Stattdessen wandte sie sich einem anderen Regal zu, in dem Bücher über Geschichte standen. Es dauerte nicht lange, und sie hatte ein Buch gefunden, dass über die Hexengeschichte der letzten zweihundert Jahre berichtete. Vielleicht fand sie ja dort einen Hinweis, was es mit dem Kästchen auf sich hatte, denn dass es verzaubert war, war schließlich offensichtlich.
Während die beiden älteren Hexenkinder lasen, langweilte Netti sich, denn da sie nicht lesen konnte, hatte sie nicht besonders viel zu tun. Also schaute sie sich das Kästchen gründlich an.
Von Zeit zu Zeit schaute Draconia von ihren Büchern auf und probierte einen Zauber aus, aber das Kästchen blieb verschlossen. Miranda blätterte ihr Buch durch, bis sie schließlich etwas fand:
„Hört mal, das klingt doch interessant. Vor etwa hundert Jahren hat hier in der Gegend eine Hexe gewohnt, die Medea hieß. Sie soll einen Schatz von unvorstellbarem Wert versteckt haben.“
„Ui“, sagte Netti. „Klingt nicht schlecht. Und auf dem Kästchen ist ein ’M’ drauf. Wenn wir Glück haben, finden wir bald einen unvorstellbaren Schatz“
„Ja, aber der muss schon ziemlich klein sein“, wandte Draconia ein. „Besondere Reichtümer passen sicher nicht in das kleine Kästchen.“
Sie überlegten eine Weile herum, was für ein Schatz im Kästchen Platz haben würde, aber dann wandten sie sich wieder ihren Büchern zu. Draconia las und las, aber sie fand keine weiteren Zaubersprüche.
„Miranda?“, fragte Netti irgendwann. „Stör uns nicht“, sagte Miranda, „wir müssen lesen.“ Netti war still, während die anderen beiden weiter lasen.
„Miranda?“, fragte Netti wieder. „Später!“, sagte Miranda, nun schon etwas unfreundlicher. Also schwieg Netti wieder eine Weile. Schließlich aber konnte sie sich nicht mehr zurückhalten.
„Meint Ihr, dass ein roter Edelstein unvorstellbar wertvoll ist?“ fragte sie. Die anderen beiden schauten verblüfft auf. Zu ihrer Überraschung sahen sie, dass das Kästchen geöffnet vor Netti stand, die neugierig hineinschaute.
„Du hast ja das Kästchen aufgezaubert“, sagte Miranda.
„Ja, schon vor einer ganzen Weile. Aber Ihr wolltet ja nichts von mir wissen.“
„Entschuldigung. Wie hast Du das denn angestellt?“
„Es war ganz einfach. Ich habe mit dem Finger das ’M’ auf dem Deckel nachgezeichnet, und plötzlich war die Kiste auf.“
„Gut gemacht“, lobte Draconia sie. Dann schauten sie alle in das Kästchen hinein. Drinnen lag ein roter funkelnder, kantiger Edelstein mit glatten Flächen auf einem Kissen aus weichem, schwarzen Samt. Neben dem Stein lag ein Zettel. Miranda nahm ihn und las vor: „Wer meinen Schatz finden will, muss zu dem Ort gehen, um den die Welt sich dreht. Doch nur eine Hexe kann ihn sehen.“
Für einen Moment schauten sich alle schweigend an. Dann fragte Netti: „Was soll das denn bedeuten?“
„Vielleicht ist der Nordpol gemeint“, sagte Miranda. „Um den dreht sich doch die Erde.“
„Ja, oder der Südpol“, sagte Draconia.
„Ich hoffe nicht, dass wir bis zum Südpol reisen müssen“, sagte Miranda. „Der ist sehr weit weg. Schon bis zum Nordpol ist es ganz schön weit, glaube ich.“
„Und wieso kann nur eine Hexe den Nordpol sehen?“, wollte Netti wissen. „Das verstehe ich gar nicht. Ich dachte, am Nordpol ist einfach nur viel Eis.“
„Ich glaube, es soll bedeuten, dass nur eine Hexe den Schatz sehen kann. Vielleicht ist er irgendwie unsichtbar und man braucht einen Zauber“, sagte Miranda.
„Aber dann könnte es ein Zauberer auch“, erwiderte Draconia. „Vielleicht muss man durch die Kristallkugel sehen – sowas könne Zauberer nicht.“
„Gute Idee. Auf jeden Fall sollten wir zum Nordpol fliegen und sehen, ob wir den Schatz dort finden können.“ Damit waren alle einverstanden.
Kommentare (2)