Expedition zum Nordpol
Den Rest der Woche waren die drei Hexenkinder mit Vorbereitungen beschäftigt. Draconia hatte herausgefunden, dass es tatsächlich ziemlich weit bis zum Nordpol war.
„Aber wir könnten doch den Schnellzaubertrank nehmen, oder nicht?“, fragte Netti.
„Schon“, sagte Draconia. „Damit schaffen wir es sicher in einer Nacht bis zum Nordpol. Das Problem ist nur, dass die Nacht für uns ja viel länger wäre, und der Trank hat uns ja ganz schön müde gemacht. Also müssten wir trotzdem zwischendurch ausruhen. Ich glaube nicht, dass uns das viel hilft.“
„Schade, dass wir nicht schneller fliegen können, ohne müde zu werden“, sagte Netti enttäuscht.
Miranda schaute sie verblüfft an. „Das ist die Idee!“, rief sie begeistert. „Wir selbst müssen den Trank ja gar nicht nehmen, aber wir tropfen ihn auf unsere Besen. Dann sind die Besen für uns blitzschnell.“
„Fragt sich nur, ob wir sie dann noch lenken können“, überlegt Draconia. „Am besten probieren wir es gleich aus.“
Die drei gingen nach draußen auf die Wiese vor Mirandas Haus. Miranda tropfte als erste etwas vom Schnellzaubertrank auf ihren Besen, und dann stieg sie auf. Sie stieß sich vom Boden ab und der Besen schoss in die Höhe. Fast wäre sie hinten übergekippt, doch sie konnte sich gerade noch festhalten. Vorsichtig geworden, bremste sie den Besen und flog so langsam durch die Luft, wie es ging. Dann beschleunigte sie den Besen, so vorsichtig, wie sie konnte, aber trotzdem kam es ihr vor, als wäre eine Rakete hinten am Besen befestigt. „Huuuu!“, schrie sie, während sie über den Köpfen der anderen hinweg sauste.
Da merkte sie, dass sie mitten auf ihren Baum zuraste. Sie zog den Besen zur Seite, um auszuweichen. Der Baum kam immer näher, und ihr Besen schien sich viel schwerer lenken zu lassen als sonst. Vor ihr wurden die Äste immer größer, aber dann endlich hatte sie sich weit genug in die Kurve gelegt. Mit ihren Füßen streifte sie die Blätter der äußersten Zweige.
Miranda lenkte den Besen höher in die Luft, wo es wenigstens keine Hindernisse gab. Sie flog hin und her, und bekam langsam das Gefühl, dass das Lenken ihr leichter fiel. Erst flog sie Kurven und Kreise, dann wurde sie mutiger und versuchte es mit einer Acht. „Das macht ja Spaß!“, rief sie zu den anderen nach unten.
Dort hatte inzwischen auch Draconia ihren Besen verzaubert. Sie schwang sich in die Luft und dann rasten die beiden Hexenkinder umeinander herum. Sie jagten sich so lange, bis sie vollkommen aus der Puste waren, denn ein wenig anstrengend war das Besen fliegen ja doch. Schließlich landeten sie wieder bei Netti.
„Willst du es nicht auch versuchen?“, fragte Miranda. Netti schaute sie ängstlich an und schüttelte den Kopf. „Ich kann doch noch nicht so gut fliegen“, sagte sie.
„Dann fliegst du bei einem von uns mit“, schlug Miranda vor. Sie stieg noch einmal auf den Besen und Netti kletterte sie hinter sie. „Halt dich gut fest, jetzt geht’s los!“, rief Miranda und stieß sich wieder vom Boden ab. Netti schrie kurz auf, doch als sie merkte, dass sie sicher war und sich gut festhalten konnte, wurde aus dem Schrei ein Jubel. „Das ist wirklich toll! Wir sind bestimmt die schnellsten Hexen der Welt.“ Die beiden flogen noch eine Weile herum, damit Miranda üben konnte, mit einem Passagier auf dem Besen zu lenken. Dann landeten sie wieder.
„So müssten wir es eigentlich bis zum Nordpol schaffen“, sagte Miranda.
Trotzdem würde es ihnen auf keinen Fall gelingen, Hin- und Rückweg in einer Nacht zurückzulegen. Also beschlossen sie zu warten, bis es Wochenende war. In der Zwischenzeit planten sie, was sie alles mitnehmen sollten: Vorräte, warme Kleidung, Zauberstäbe und Kristallkugel, vielleicht auch noch Schlafsäcke. Es wurde eine ziemlich lange Liste.
„Wir brauchen noch Sonnenbrillen“, sagte Netti.
„Sonnenbrillen?“, fragte Draconia völlig verblüfft. „Wozu denn das? Wir fliegen doch nachts. Und am Nordpol ist es doch sowieso kalt und dunkel, oder nicht?“
„Meine Tante hat gesagt, dass es am Nordpol im Sommer immer hell ist, am Tag und in der Nacht. Und sie muss es wissen, sie war schon mal dort.“
„So ein Blödsinn“, sagte Draconia.
„Gar kein Blödsinn!“ Netti war eingeschnappt.
„Lasst uns doch einfach Sonnenbrillen mitnehmen“, sagte Miranda. „Wenn wir sie nicht brauchen, macht es ja nichts. Und wenn Netti recht hat, dann sind wir froh, sie dabei zu haben.“
„Na gut.“ Draconia war schließlich einverstanden, obwohl sie immer noch so klang, als hätte sie noch nie etwas Alberneres gehört.
Endlich war es soweit, der große Flug konnte beginnen. Es war eine klare Nacht, die Sterne funkelten am Himmel, und der Mond ging gerade unter, als sie losflogen. Sie flogen eine Weile über Land, und dann kamen sie ans Meer. Unter ihnen rauschten die Wellen und das dunkle Wasser wogte auf und ab. So flogen sie eine Weile dahin, wobei sie sich mit einem Kompass orientierten, den Miranda mitgenommen hatte. Als sie noch eine Weile weitergeflogen waren, bemerkte Draconia etwas Seltsames.
„Guckt mal, da vorn wird es hell“, rief sie von hinten. „Es kann doch nicht schon Tag werden, es ist doch gerade erst kurz nach Mitternacht.“
„Vielelicht eine Insel mit einer großen Stadt oder so“, überlegte Miranda.
Doch als sie näher kamen, sahen sie tatsächlich, dass die Sonne aufging. „Ich hab’s Euch ja gesagt.“ Netti schaute Draconia triumphierend an.
„Du hattest wirklich recht“, gab Draconia zu. „Entschuldige, dass ich dir nicht geglaubt habe. Aber warum es am Nordpol immer hell sein soll, verstehe ich trotzdem nicht.“
„Weiß ich auch nicht genau. Aber meine Tante hat gesagt, es ist im Sommer immer hell, auch nachts, und im Winter immer dunkel, selbst am Tag.“
„Stellt Euch das vor – immer dunkel. Das muss ja toll sein“, überlegte Draconia.
„Aber auch ganz schön kalt“, meinte Miranda. „Merkt Ihr eigentlich, wie kalt es geworden ist?“ Und tatsächlich. Jetzt, wo Miranda es gesagt hatte, spürten sie alle die Kälte. Sie kramten ihre warmen Mäntel heraus und zogen sie an, was in der Luft auf einem Besen gar nicht so einfach war. Dann setzten sie ihre Sonnenbrillen auf, denn als Hexen waren sie helles Sonnenlicht einfach nicht gewohnt.
So flogen sie weiter und weiter. Nach einer Weile sahen sie unter sich Eisberge, zuerst wenige, dann immer mehr, und schließlich schlossen sich die Eisberge zu einer gewaltigen Eislandschaft zusammen. Es gab nur noch Eis, Eis, Eis, wohin man auch schaute. Es funkelte im Sonnenlicht und selbst durch ihre Sonnenbrillen hindurch fanden sie das Licht ziemlich grell.
Weiter und weiter ging der Flug. Schließlich sagte Draconia: „Es kann nicht mehr weit sein.“
„Wie erkennen wir denn den Nordpol?“, fragte Netti. „Sieht der irgendwie besonders aus?“
Darauf wusste niemand Antwort. Dann sah Draconia, die die schärfsten Augen hatte, etwas am Horizont. „Ich glaube, da steht eine Hütte der so etwas.“ Kurze Zeit später sahen es alle: Eine kleine Hütte stand mitten im Eis, neben ihr war eine große hohe Stange in den Eisboden gesteckt. „Ich glaube, das ist der Nordpol“, meinte Draconia.
„Das ist alles?“ Netti war ziemlich enttäuscht. „Und von einem Schatz ist auch nichts zu sehen.“ Sie landeten direkt neben der Stange. Das Eis um sie herum sah überall gleich aus und es gab keinen Hinweis auf einen Schatz. Miranda kramte ihre Kristallkugel heraus. Sie sprach den passenden Zauberspruch und spähte durch die Kugel. Doch es war nichts zu sehen. „Ich glaube, hier ist kein Schatz“, sagte sie, und nun wurden alle niedergeschlagen.
„Vielleicht muss man mit dem Besen herumfliegen – ’Nur eine Hexe kann ihn sehen’ könnte doch auch bedeuten, dass man durch die Luft fliegen muss“, schlug Miranda schließlich vor. So richtig glauben mochten sie es alle nicht, aber sie versuchten es. Doch auch aus der Luft war nichts zu erkennen. Während sie herumflogen, rief Draconia plötzlich Miranda zu „Schau doch mal jetzt durch die Kugel.“
Miranda wiederholte also ihren Zauberspruch und spähte erneut durch die Hexenkugel. Und da sah sie es: Ein Stück entfernt von der Stange im Boden leuchtete ein Kreuz, das man nur durch die Kugel hindurch sehen konnte. „Das muss es sein“, rief sie aufgeregt. Sie landete mit Netti genau im Mittelpunkt des Kreuzes und schaute zu Boden. Auch Draconia kam hinzu.
„Wir haben Schaufeln vergessen“, sagte Draconia, „So ein Mist.“
„Macht nichts“, antwortete Miranda. Sie nahm ihren Zauberstab und verwandelte sich kurzerhand in einen Eisbären. Dann begann sie, mit ihren großen Tatzen zu graben. Draconia tat es ihr gleich, nur Netti setzte sich auf einen Besen und schaute zu, denn sie war noch zu klein für diesen schwierigen Zauberspruch.
Es dauerte nicht lange und Mirandas Krallen stießen auf etwas, dass nicht aus Eis war. Kurze Zeit später lag ein weiteres Holzkästchen vor ihnen, das genauso aussah wie das erste. Der einzige Unterschied, den sie erkennen konnten, bestand darin, dass auf dieses Kästchen kein Buchstabe gezeichnet war.
Wie schon beim ersten Mal versuchten sie, das Kästchen aufzuzaubern, doch vergebens. Netti schlug vor, wieder mit dem Finger ein „M“ auf den Deckel zu schreiben, doch auch das half nichts. „Kein ’M“’, sagte Draconia, „Ein ’E’!“ Sie versuchte es und das Kästchen sprang auf. Alle schauten neugierig hinein, doch wenn sie erwartet hatten, den Schatz zu finden, so wurden sie enttäuscht. Wieder lag ein Edelstein im Kästchen, diesmal allerdings ein grüner, und daneben ein Zettel: „Wer meinen Schatz finden will, muss zum höchsten Turm der Welt fliegen.“
„Das ist ja eine richtige Schatzjagd“, beschwerte Draconia sich. „Weiß eine von Euch, welches der höchste Turm der Welt ist?“ Aber niemand konnte es sagen. So machten sie sich auf den Rückweg.
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