Der Eiffelturm
Welcher Turm ist der höchste der Welt? Um dies herauszufinden, hatten sich die Hexen nach der Schule wieder in der Bibliothek verabredet. Miranda und Netti saßen dort und warteten auf Draconia. Netti erzählte, dass ihre Tante, die häufig durch die Welt reiste, ihr leider nicht hatte helfen können. Sie kannte zwar viele Türme überall auf der Welt, aber sie wusste nicht, welcher davon der höchste war. Miranda hatte die Hexenlehrerin gefragt, aber auch die konnte ihre Frage nicht beantworten.
„Ich fürchte, wir müssen wieder mal in den Büchern stöbern“, sagte Miranda. Sie ging die Regale entlang, aber sie fand keine Bücher, die auch nur annähernd so aussahen, als könnte man aus ihnen etwas über Türme lernen.
Da flog die Tür der Bibliothek auf. „Ich hab’s“, rief Draconia begeistert. „Der höchste Turm der Welt ist ganz schön weit weg. Er steht in einem Land, das Dubai heißt.“
„Woher weißt Du das denn?“, fragte Miranda.
„Ganz einfach. Ich habe den Computer im Klassenzimmer benutzt. Damit ging es ganz schnell. Der höchste Turm heißt Burj Khalifa, und er ist über achthundert Meter hoch.“
„Ist das viel?“ Netti konnte mit dieser Zahl nicht viel anfangen.
„Sehr viel sogar“, sagte Draconia. „Stell Dir den höchsten Baum auf dem Hügel mit den drei Bäumen vor. Davon müsstest Du mindestens dreißig übereinanderstapeln, um so hoch zu kommen.“
„Ui, das ist ganz schön hoch. Kein Wunder, dass das der höchste Turm ist, den es je gegeben hat. Fliegen wir bald dorthin?“, fragte Netti ungeduldig.
Aber bei Nettis Worten schüttelte Miranda plötzlich den Kopf. Sie und Draconia sahen sich an und dann sagte Miranda: „Netti, Du bist wirklich schlau. Wir müssen vielleicht gar nicht nach Dubai.“
„Jetzt versteh ich gar nichts mehr“, meinte Netti.
„Es ist doch ganz klar“, erklärte Miranda. „Wir müssen nicht zu dem Turm, der jetzt der höchste auf der Welt ist, sondern zu dem, der der höchste war, als Medea gelebt hat. Die konnte ja nicht wissen, welcher Turm später noch gebaut werden würde.“
„Ach so.“
Damit gingen die drei ins Klassenzimmer. Draconia setzte sich wieder an den Computer und tippte ein paar Fragen ein. Nach kurzer Zeit sagte sie: „Wenn Medea so vor hundert Jahren gelebt hat, dann war der höchste Turm der Welt der Eiffelturm. Der steht in Paris in Frankreich.“
„Wie weit ist es denn nach Paris?“
„Auf jeden Fall nicht so weit wie zum Nordpol“, sagte Miranda begeistert. „Aber ich fürchte, wir müssen trotzdem bis zum Wochenende warten, in einer halben Nacht schaffen wir es nicht, und am Tag sind bestimmt Leute auf dem Turm.“
Einige Nächte später waren sie auf dem Weg nach Paris, einer Stadt in Frankreich. Sie flogen über das Land dahin und Miranda schaute immer wieder auf ihre Karte. Schließlich sagte sie: „Der Fluss unter uns müsste eigentlich direkt bis nach Paris führen.“ So folgten sie dem Flusslauf.
Nach einer Weile sahen sie vor sich ein großes Lichtermeer. Keine von ihnen hatte je eine so große Stadt gesehen. „Ist das die größte Stadt der Welt?“, wollte Netti wissen. Die anderen wussten es nicht, aber sie waren sich einig, das Paris sehr sehr groß war. „Der Eiffelturm liegt an einer Flussbiegung“, sagte Miranda. „Wir können einfach den Fluss entlangfliegen, bis wir ihn sehen.“ Das taten sie auch, und nachdem sie eine ganze Weile über der Stadt geflogen waren, konnten sie den Turm erkennen. Er war sehr hoch und bestand aus vielen Metallstangen, die zusammengenietet waren. Unten war er sehr breit, aber nach oben hin wurde er immer schmaler und endete in einer Spitze. „Dort“, rief Draconia. Aufgeregt flogen sie noch schneller.
Als sie näher kamen und dann in der Luft anhielten, sagte Draconia, „Mist. Da sind Leute auf dem Turm.“
„Aber es ist doch mitten in der Nacht“, sagte Netti. „Ich dachte, normale Menschen schlafen da.“
„Vielleicht ist das in Paris ja anders“, überlegte Miranda. „Lasst uns ein bisschen höher fliegen, sonst sehen sie uns noch.“
So flogen sie langsam über dem Eiffelturm. In ihren dunklen Hexenmänteln waren sie von unten vor dem dunklen Nachthimmel kaum zu erkennen. Jedenfalls scheuten die Leute auf dem Turm zwar umher, aber niemand zeigte auf sie oder rief etwas. Sie schauten von oben auf den Eiffelturm und versuchten, einen Hinweis auf Medeas Schatz zu finden, aber nichts war zu sehen. „Nimm wieder die Kristallkugel“, riet Draconia. Miranda wiederholte den Zauber, der ihr schon am Nordpol gute Dienste geleistet hatte. Und tatsächlich: Ganz oben, fast an der Spitze des Turmes, leuchtete eine der Eisenstangen auf, wenn sie sie durch die Kristallkugel betrachtete. „Ich sehe etwas“, rief sie aufgeregt. „Aber es ist direkt oben am Turm. Wenn wir da landen, sehen uns alle.“
„Vielleicht können wir uns unsichtbar machen“, überlegte Miranda.
„Das wird aber trotzdem schwierig dort oben neben so einer Stange mit dem Besen zu fliegen und das Kästchen zu suchen“, sagte Draconia nachdenklich.
„Ich weiß, was wir machen“, sagte Miranda. „Wir landen dahinten in dem dunklen Park. Netti passt auf unsere Besen auf, und Draconia und ich verwandeln uns in Vögel. Dann macht es nichts, wenn uns die Leute sehen, und als Vögel können wir sicher auch auf so einer Stange landen.“
Gesagt, getan. Kurze Zeit später flogen eine Gans und ein Falke auf den Eiffelturm zu. Als die Leute dort die Vögel herankommen sahen, zeigten sie zum Himmel und riefen durcheinander. Es war ja auch ein ungewöhnlicher Anblick, zwei so verschiedene Vögel einträchtig nebeneinander herfliegen zu sehen. Die beiden Vögel landeten auf der Stange, die Miranda durch die Kristallkugel leuchten gesehen hatte. Ein wenig mulmig war Miranda schon zumute, weil so viele Menschen auf sie zeigten und jede ihrer Bewegungen genau beobachteten, aber sie sagte sich, dass wohl niemand zwei Vögeln etwas tun würde, nur weil sie sich etwas seltsam benahmen.
Mit ihren Schnäbeln suchten die beiden die Stange ab. „Hier ist irgendwas Unsichtbares“, krächzte Draconia – natürlich in der Vogelsprache. Mit ihrem Falkenschnabel pickte sie daran herum. Miranda flog neben sie. Schnell hatten sie ertastet, dass ein kleines, unsichtbares Kästchen am der Stange befestigt war. Es war mit einem Band festgebunden. Miranda breitete ihre Flügel aus und griff das Kästchen, so gut es mit ihren Schwimmfüßen ging, während Draconia mit Krallen und Schnabel das Band zerriss. Kurz darauf hatten sie es geschafft. Miranda breitete ihre Schwingen aus und flog langsam in die Luft. Die Zuschauer betrachteten verblüfft die beiden Vögel, von denen einer jetzt etwas zu tragen schien. Als Miranda sich ein paar Meter vom Turm entfernt hatte, wurde die Kiste plötzlich sichtbar. Zum Glück war es so dunkel, dass niemand von den Menschen es bemerkte. Sie schauten den beiden Vögeln hinterher, die langsam in den Nachthimmel davonflogen.
Als Miranda und Draconia Netti erreicht hatten, landeten sie und verwandelten sich zurück. „Geschafft“, sagte Draconia stolz. Diesmal brauchten sie nur einen Moment, um die Kiste zu öffnen – dass sie ein „D“ auf den Deckel schreiben mussten, war ihnen allen klar. In der Kiste lag wieder ein Edelstein, diesmal von blauer Farbe. Neben ihm lag ein Zettel mit dem nächsten Hinweis: „Die nächste Kiste findest Du in den Nebelbergen an der Spitze des Turmes der schwarzen Burg, die hinter den vier Hügeln steht.“
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