Der Schatz wird gefunden
Als sich die vier in der nächsten Nacht trafen, waren sie schon sehr ungeduldig. Eigentlich musste diese Kiste ja die letzte sein, denn die Buchstaben des Namens „Medea“ waren ja nun aufgebraucht. Ungeduldig schauten sie Draconia über die Schulter, als diese das „A“ auf den Kistendeckel schrieb.
Im Inneren der Kiste fanden Sie wieder einen Edelstein, diesmal einen klaren Diamanten. Daneben lag ein Zettel: „In der verborgenen Höhle des Vesuv findest Du meinen Schatz, bewacht von Gneis.“
„Das ist alles?“, fragte Draconia enttäuscht.
„Wieso alles?“, erwiderte Netti. „Da steht doch, dass wir den Schatz dort finden. Also sind wir schon ganz kurz vorm Ziel. Was meint Ihr, was für einen Schatz wir dort finden?“
„Vielleicht noch mehr Edelsteine und Gold und Juwelen?“
„Oder ein besonderer Zauber? Oder ein Zauberbuch?“
Die vier rätselten eine Weile herum. Dann sagte Draconia „Aber wenn wir den Schatz finden wollen, müssen wir erstmal herausfinden, wo dieser Vesuv liegt.“
„Und wer ist eigentlich ‘Gneis’? “, wollte Miranda wissen.
Wie bisher machten sich die Hexenkinder nach dem Schulunterricht auf den Weg in die Bibliothek. Es dauerte eine Weile, aber dann hatten sie alle Informationen gesammelt, die sie benötigten:
„Also, der Vesuv ist ein Vulkan in Italien“, sagte Draconia, die in einem Atlas blätterte.
„Aber das hier ist merkwürdig“, meinte Miranda. „Hier steht, dass Gneis eine besondere Art von Gestein ist. Wie kann denn Gestein einen Schatz bewachen?“
Alle fanden das in der Tat seltsam, aber sie fanden keine Lösung dieses Rätsels. Da sie alle ungeduldig waren, beschlossen sie, sich bereits in der nächsten Nacht auf den Weg zu machen.
Der Weg nach Italien führte sie wieder nach Süden, über das große Gebirge hinweg. Danach flogen sie an der Meeresküste entlang, bis sie vor sich einen großen Vulkankegel erkannten.
„Das muss der Vesuv sein“, sagte Draconia, die sich ein Bild des Berges gut eingeprägt hatte. Sie flogen näher heran und Miranda nahm ihre Kristallkugel heraus und zauberte ihren üblichen Zauber.
Sie flog langsam um den Vulkan herum und schaute dabei durch die Kristallkugel. Eine Stelle an der Seite des Berges leuchtete schwach. „Da ist es“, sagte Miranda. Es war nicht einfach, an der Bergflanke zu landen, denn sie war schräg und der Boden war rau und uneben. Draconias Füße rutschten unter ihr weg, als sie unglücklich auf einem Fels aufkam, der unter ihrem Gewicht wegrutschte. Sie strauchelte, aber konnte sich am Besen festhalten, der immer noch in der Luft schwebte. Miranda und Netti kletterten vorsichtig vom Besen herunter.
Miranda schaute wieder durch die Kristallkugel. „Die leuchtende Stelle ist da vorn.“ Vor ihr lag ein fast senkrechtes Stück Bergwand, von dem das Leuchten ausging. Sie ging darauf zu und legte ihre Hand gegen den Berg, um nach einer Tür oder etwas Ähnlichem zu tasten. Zu ihrer Überraschung aber fuhr ihre Hand durch die Bergwand hindurch. Netti schrie verblüfft auf, denn Mirandas Hand war nicht mehr zu sehen – ihr Arm schien mitten in der Felswand zu enden.
„Alles in Ordnung“, sagte Miranda. „Ich glaube, die Wand ist nicht wirklich, nur eine Illusion.“
„Du meinst, sie ist gar nicht echt?“
„Genau. Ich spüre jedenfalls nichts. Es ist wie ein Bild oder so etwas. Sollen wir hindurchgehen?“
Miranda zauberte ein Hexenlicht, und die drei Hexenkinder traten auf die Felswand zu. Es kostete sie etwas Überwindung, gegen die Felswand zu laufen, die vollkommen echt aussah. Netti schloss die Augen und trat dann durch die Felswand hindurch.
Vor ihnen lag ein langer Gang. Die Luft um sie herum war warm und etwas stickig, und es roch nach Schwefel. Sie gingen vorsichtig den Gang entlang, und waren noch nicht sehr weit gekommen, als sie plötzlich ein Rumpeln hörten. Es klang, als würden große Felsbrocken aufeinander schlagen.
„Wir müssen vorsichtig sein, ich glaube, da vorn ist ein Steinschlag oder so etwas“, sagte Miranda. „Achtet auf die Decke über Euch.“
Die drei schauten sich gründlich um und gingen dann weiter. Es rumpelte erneut. Dann noch einmal. Das Rumpeln erklang sehr regelmäßig – es rumpelte, dann eine Pause, dann wieder rumpeln, dann wieder eine Pause.
„Ein Steinschlag oder so etwas ist das nicht“, sagte Miranda.
„Vielleicht ein Tier oder sowas?“, überlegte Draconia.
„Das muss aber ein Riesentier sein. Seid Ihr sicher, dass wir weitergehen sollen?“ Netti klang etwas ängstlich.
„Natürlich müssen wir weitergehen, aber leise“, sagte Miranda. „Ihr beide könnt ja hier warten. Ich schleiche voraus und gehe nachsehen.“ Mit diesem Vorschlag waren alle einverstanden.
Ganz leise schlich Miranda sich vorwärts. Sie dämpfte ihr Hexenlicht so weit es überhaupt ging. Es schien jetzt so schwach, dass sie gerade noch den Gang und den Boden direkt vor sich sehen konnte.
Sie war noch nicht sehr weit gekommen, als sie einen schwachen, rötlichen Lichtschein vor sich sah. Das Rumpeln war immer lauter geworden, und jetzt hörte sie außerdem noch etwas anderes. In den Pausen zwischen den lauten Krachgeräuschen gab es ein leises Knirschen und Mahlen, so als würde jemand große Steine aneinander reiben.
Auf Zehenspitzen schlich sie weiter und löschte ihr Licht völlig, da der Lichtschein vor ihr jetzt hell genug war, um den Boden des Ganges sehen zu können. Dann erweiterte sich der Gang vor ihr zu einer großen Höhle.
Der Lichtschein kam von einem kleinen Lavasee, der an einer Seite der Höhle lag, doch Miranda beachtete ihn kaum. Ihr Blick wurde gefangengenommen von etwas anderem: Ein gewaltiges Ungeheuer saß auf dem Höhlenboden. Es war größer als ein Elefant und hatte einen runden Kopf mit einem sehr breiten Maul. Das Ungeheuer saß aufrecht auf seinem dicken Hinterteil, die Hinterbeine von sich gestreckt, und schlug mit seinen zwei riesigen Pranken gegen die Höhlenwand. Mit einem lauten Krachen brach ein Stück Fels aus der Wand heraus. Das Ungeheuer steckte es in sein Maul und begann, genüsslich darauf herumzukauen. Daher kamen also die seltsamen Geräusche. Miranda hörte nun noch ein drittes Geräusch: Während das Ungeheuer kaute, stieß es ein leises, sehr tiefes Brummen aus, so, als würde es sich sehr wohl fühlen.
Miranda schaute ihm einen Moment lang zu, dann schlich sie wieder zurück zu den anderen und erzählte ihnen, was sie gesehen hatte.
„Ich glaube nicht, dass wir so ein Ungeheuer besiegen können“, meinte Draconia.
„Meint Ihr etwa, wir sollen mit dem Monster kämpfen?“, fragte Netti besorgt.
„Weiß ich nicht“, sagte Miranda. „Eigentlich sah es ja friedlich aus.“
„Friedlich? So ein Riesenmonster? Hast Du nicht gesagt, sein Maul sei so groß, dass es uns alle mit einem Haps verschlingen könnte?“, rief Netti.
„Schon. Aber eigentlich schien es ganz zufrieden damit, Steine zu fressen.“
„Trotzdem. Ich würde da nicht einfach hereinspazieren. Vielleicht wird es wütend, weil wir es gestört haben.“
Alle überlegten eine Weile, was sie tun sollten. „Ich hab’s!“, sagte Miranda. „Ich verwandele mich in eine Fledermaus und fliege in die Höhle. Wenn das Ungeheuer gefährlich wird, kann ich ihm davonfliegen. Und Fledermäuse gibt es hier in den Höhlen sicher öfter.“
Miranda nahm ihren Zauberstab und verwandelte sich. Als Fledermaus brauchte sie kein Licht, um sich zurechtzufinden, denn Fledermäuse können sich auch in völliger Dunkelheit zurechtfinden, weil sie auch mit ihren Ohren „sehen“ können. Miranda flatterte den Gang entlang. Obwohl sie sich den anderen gegenüber sehr zuversichtlich gezeigt hatte, klopfte ihr Herz heftig, als sie schließlich die große Höhle erreichte.
Das Ungeheuer war gerade wieder dabei, mit seiner Faust gegen die Wand zu schlagen, um weitere Steine herauszubrechen. Als sein Blick auf Miranda fiel, sagte es mit sehr tiefer, brummender Stimme: „Nanu? Wie kommst Du denn hier herein?“ Miranda hatte sich nicht nur in eine Fledermaus verwandelt, sondern auch gezaubert, dass sie selbst als Fledermaus noch sprechen konnte. So antwortete sie mit piepsender Stimme: „Ich habe mich verflogen.“
„Hmmmmm“, brummte das Ungeheuer, „da musst Du dich aber gründlich verflogen haben. Die Höhle ist doch verschlossen. Weißt Du“, fügte es hinzu, beugte sich nach und sprach mit etwas leiserer Stimme, „ich soll hier nämlich einen Schatz bewachen. Deshalb ist der Eingang zu dieser Höhle verschlossen worden. Hat man mir jedenfalls gesagt.“ Das Ungeheuer legte seinen Kopf in beide Hände und schien nachzudenken.
‘Eine bessere Gelegenheit bekomme ich nie,’ dachte Miranda. „Was denn für ein Schatz?“, fragte sie.
„Es ist ein Hexenschatz. Hexen sind so eine Art Menschen, weißt Du. Da war mal eine Hexe hier, die hat mich gebeten, auf ihren Schatz aufzupassen. Ich sollte ihn erst herausgeben, wenn eine andere Hexe kommt und mich danach fragt und mir die Zeichen zeigt. Ist aber schon ziemlich lange her, und bisher ist noch nie eine Hexe hier aufgetaucht. Vermutlich haben die Hexen den Schatz längst vergessen.“
„Ach so. Ja wenn das so ist.“ Miranda nahm ihren ganzen Mut zusammen und verwandelte sich zurück. Das Ungeheuer stieß einen lauten Schrei aus und schreckte zurück. Dabei stieß es gegen die Felswand, so dass es laut durch die ganze Höhle dröhnte.
„Ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte Miranda. „Ich bin eine Hexe, weißt Du, und ich komme wegen des Schatzes.“
„Das hättest Du ja auch gleich sagen können, statt mich so zu erschrecken“ brummte das Ungeheuer.
Miranda hörte Schritte den Gang entlangkommen. Kurz darauf schauten ihre Freundinnen um die Ecke. „Miranda, alles in Ordnung?“, rief Netti. „Wir haben einen fürchterlichen Krach gehört.“
Miranda konnte ihre Freunde beruhigen. Dann wandte sie sich wieder dem Ungeheuer zu. „Ich bin Miranda, und dass sind meine Freundinnen, Netti und Draconia. Wir suchen den Hexenschatz von Medea.“
„Heißt Du Gneis?“, fragte Netti plötzlich.
Das Ungeheuer lachte. „Ja, das ist mein Name. Alle Steintrolle heißen nach einer Gesteinsart.“
„Kannst Du uns den Schatz geben?“, fragte Miranda.
„Nur, wenn Ihr die Erkennungszeichen dabei habt. Es müssen fünf sein.“
„Die Steine!“, rief Draconia. Sie kramte in ihrer Tasche, in der sie die Steine aufbewahrte, und hole sie heraus. Dann ging sie mutig auf den Steintroll zu. Als sie direkt vor ihm stand, um sie ihm zu zeigen, sah sie erst, wie riesig er wirklich war, denn sie reichte ihm nicht einmal bis zur Hüfte. Gneis beugte sich nach vorn und schaute auf Draconias Hand. Langsam streckte er seine riesige Hand aus und berührte die fünf Steine mit der Spitze seines dicken Fingers. Er schloss die Augen und stand einen Moment lang ganz still.
„Das sind sie“, sagte Gneis. „Wartet hier.“ Er stand auf und verschwand durch einen anderen Ausgang der Höhle. Sie hörten seine schweren Schritte leiser werden, dann kamen sie wieder näher.
Als Gneis die Höhle wieder betrat, sahen sie, dass er in einer Hand eine Kiste trug. Zwischen seinen gewaltigen Fingern sah sie winzig aus, aber als er sie auf den Boden stellte, sahen sie, dass sie etwas größer war als die Kästchen, die sie bisher gefunden hatten, ungefähr so groß wie ein Schuhkarton.
„Danke!“, sagte Miranda und schaute sich mit den anderen die Kiste an. Sie war ebenfalls aus Holz. „Mach sie doch auf“, sagte Draconia ungeduldig. „Ich bin schon gespannt, ob Edelsteine drin sind.“
Gneis lachte ein dröhnendes Lachen, das so laut war, dass sich die Hexen die Ohren zuhalten mussten. „Edelsteine!“, rief er.
„Weißt Du denn, was in dem Schatz ist?“, fragte Netti.
„Natürlich weiß ich das, aber ich darf es euch nicht verraten.“
Die vier Hexen scharten sich um die Kiste, die sich aber nicht öffnen ließ. „Bestimmt ist wieder ein Trick dabei.“ sagte Draconia. „Vielleicht nehmen wir sie erst mal mit nach draußen“, meinte Miranda.
„Aber geht nicht zu weit weg vom Vulkan“, sagte Gneis zu ihrer Überraschung. Doch er wollte nicht sagen, warum.
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