Das Drachenei
Für die Hexenkinder begann eine Zeit des Wartens. Reihum hielten sie bei dem Ei Wache – tagsüber wechselte sich Miranda mit Draconia ab, nachts übernahm Netti die erste Wache, bis Miranda und Draconia aus der Schule kamen. Jede Stunde kontrollierten sie die Temperatur, aber bisher war der Wassertropfen noch immer nach einem kurzen Moment verdampft, das Ei hatte also immer noch die richtige Temperatur. Miranda fand es erstaunlich, dass die Lava so lange heiß blieb, aber vielleicht hatte Gneis ihnen ja eine ganz besondere Lavasorte gegeben.
Jedesmal, wenn Miranda wieder an der Reihe war, schaute sie sich das Ei genau an, und jedesmal waren die goldenen Flecken auf der Schale etwas größer als zuvor. Im Pflegebuch stand, dass das Drachenkind erst schlüpfen würde, wenn die ganze Schale golden geworden war, und das konnte noch eine ganze Zeit lang dauern.
Eines Tages, nachdem etwa eine Woche vergangen war, merkte Miranda, dass die Lava nun doch abgekühlt war. Der Wassertropfen, den sie auf die Eischale tropfte, tanzte auf der Schale herum und wurde nur noch sehr langsam kleiner. Miranda hatte längst bis zehn gezählt, aber der Tropfen war immer noch da. Sie überlegte, wie sie die Lava aufheizen sollte. Sie nahm glühende Kohlen aus ihrem Ofen und legte sie auf die Lava, doch die Kohlen strahlten immer noch weniger Hitze aus, als es die Lava tat. So ging es jedenfalls nicht. Miranda überlegte weiter. Dann fiel ihr etwas ein: Wenn Drachen ihre Eier ausbrüteten, dann taten sie es bestimmt mit ihrem Feuer. Gewöhnliches Feuer reichte anscheinend nicht aus, um die Lava genügend aufzuheizen, aber vielleicht war ja Drachenfeuer heiß genug?
Sie kramte eine Weile in ihren Zauberbüchern herum, dann wurde sie endlich fündig. Es gab tatsächlich einen Zauberspruch, mit dem sie Drachenfeuer zaubern konnte. Sie trat neben die Lava-Schale und probierte den Spruch aus. Die Spitze ihres Stabes begann zu leuchten. Schnell wurde das Licht heller und heller, so gleißend, das Miranda nicht hineinsehen konnte. Dann schoss ein gewaltiger Feuerstrahl aus dem Stab und hüllte die Lavaschale und das Drachenei ein. Miranda zuckte vor Schreck zusammen und ließ den Stab beinahe fallen. Schnell beendete sie den Zauber und schaute besorgt auf die Lava. Sie glühte heller als zuvor und strahlte auch wieder viel mehr Hitze aus. Ängstlich ließ Miranda wieder einen Wassertropfen auf das Ei fallen – hatte sie es überhitzt? Doch zum Glück dauerte es einen kleinen Moment, bis der Wassertropfen verdampft war. „Das war knapp“, dachte Miranda erleichtert.
Zwei weitere Wochen vergingen. Die Hexenkinder wechselten sich bei der Ei-Pflege ab, und gelegentlich wurde die Lava wieder neu aufgeheizt. Das einzige, was ansonsten passierte, war, dass die goldenen Flecken langsam immer weiter wuchsen, bis sie das ganze Ei überzogen, das nun golden im Lavalicht schimmerte. Als das letzte Stück der grau-braunen Schale unter dem Gold verschwunden war, hatten sie alle ungeduldig neben dem Ei gesessen und darauf gewartet, dass das Drachenkind schlüpfte, doch nichts war passiert.
Auch das war schon einige Tage her. Es war Morgen, Miranda saß in ihrem Sessel und döste vor sich hin, während sie ab und zu auf die Uhr sah um zu sehen, wie lange es noch dauern würde, bis Draconia kam, um sie abzulösen. Plötzlich hörte sie ein Geräusch. Sie schreckte hoch – da war das Geräusch wieder. Als sie in die Lava-Schale blickte, sah sie, dass das Ei leicht wackelte. Gespannt schaute Miranda auf das Ei. Es wackelte wieder, und Miranda erwartete schon, dass es jetzt aufbrechen würde, doch dann war es wieder still.
Miranda wartete noch einen Moment, dann setzte sie sich wieder in den Sessel. Doch kaum hatte sie das getan, da wackelte das Ei wieder, diesmal noch stärker. Ein feiner Riss, wie ein dünner Bleistiftstrich, durchzog die Schale, dann noch einer, und ein weiterer, bis die ganze Eierschale aussah, als hätte jemand ein Spinnennetz darauf gezeichnet. Miranda hielt vor Spannung den Atem an.
Mit einem Knacken zerbarst die Eierschale in zwei große und viele kleine Bruchstücke. Das Drachenbaby purzelte aus der Schale heraus und wäre beinahe in die Lava gefallen, doch Miranda streckte geistesgegenwärtig ihre Hände aus und fing es auf. Vor Schreck hätte sie es fast wieder fallen lassen, denn das Drachenkind fühlte sich sehr warm an, fast heiß. Ihr Herz klopfte wie wild, als sie auf das Drachenbaby schaute. Es hatte einen schlanken Körper, etwa so lang wie ihr Unterarm, vier Beine, einen langen Schwanz und einen langen Hals, der in einem gehörnten Kopf endete.
Das Drachenbaby drehte sich auf ihrem Arm hin und her, und der Drachenkopf auf dem langen Hals wandte sich Miranda zu. So sah Miranda zum ersten Mal in die Augen eines Drachen. Sie waren groß und dunkel, wie ein tiefer Brunnen, und gleichzeitig schillerten sie in allen Farben. Miranda vergaß alles um sich herum, die ganze Welt schien zu verschwinden, während sie nur noch in diese wundersamen Augen schaute. Sie schienen ihr das schönste zu sein, das sie je gesehen hatte. Ihr dunkles Schillern ließ Miranda spüren, dass sich hinter ihnen eine große Drachenseele verbarg.
Lange saß sie so da, schweigend in die Drachenaugen schauend. Dann sagte sie mit leiser, zärtlicher Stimme: „Hallo Drachenbaby. Ich bin Miranda.“ Ein Moment verging, und zu ihrer Verblüffung hörte Miranda eine leise, weiche Stimme, die sagte „Wyveria.“
„Ist das Dein Name? Wyveria?“, fragte sie.
„Wyveria“, sagte die Stimme wieder. Das Drachenkind hatte seinen Mund nicht bewegt, und Miranda wurde klar, dass sie die Stimme nicht mit den Ohren gehört hatte, sondern dass sie auf irgendeine magische Weise direkt in ihrem Kopf zu ihr sprach.
Miranda setzte sich in ihren Sessel, das Drachenbaby auf dem Schoß. Mit einem Finger strich sie vorsichtig über seine Schuppen. Sie schillerten, fast wie Gold, nur waren sie dunkler. „Du bist ein echter Bronze-Drache, nicht wahr?“, sagte sie. Die Drachenschuppen unter ihrer Hand fühlten sich glatt und hart an, ein wenig wie Fingernägel, nur noch viel glatter. Das Drachenbaby streckte sich unter Mirandas Streicheln, und sie hatte das Gefühl, dass es ihm gefiel. Dann, ganz plötzlich, hörte Miranda wieder die Drachenstimme in ihrem Kopf: „Hunger“ sagte sie.
„Warte, ich hole dir etwas zu essen“, sagte Miranda stand auf und wollte Wyveria auf den Sessel legen, damit sie in die Küche gehen konnte. „Nicht allein!“, schrie die Drachenstimme in ihrem Kopf entsetzt. „Ja, gut“, sagte Miranda und nahm Wyveria auf den Arm. Sie ging mit ihr in die Küche und goss etwas Milch in eine Schale. Wyveria schnupperte an der Milch und drehte dann den Kopf zur Seite. „Hunger!“, klagte ihre Stimme wieder. „Hmm, was könntest Du denn mögen?“, überlegte Miranda. Sie versuchte es mit Brot, dann mit Käse, doch beides wurde nur mit einem verächtlichen Wegdrehen des Kopfes quittiert. Als Miranda Wyveria einen Apfel hinhielt, riss diese ihr Maul auf und stieß ein leises Zischen aus. Dabei sah Miranda ihre Zähne – scharfe, spitze Zähne wie die einer Katze. „Du frisst bestimmt Fleisch“, wurde ihr klar. Sie kramte herum, doch alles was sie fand, war ein Würstchen. „Hier“, sagte sie und hielt Wyveria das Würstchen hin. Wieder riss diese ihr Maul auf, dann schnappte sie nach dem Würstchen und biss ein großes Stück heraus. Sie kaute kurz darauf herum, dann fraß sie das nächste Stück. Es dauerte nicht lange, und das Würstchen war aufgefressen.
„Hunger!“, klagte Wyveria wieder. Miranda suchte weiter in der Küche herum, bis sie eine Dose mit Katzenfutter sah. „Vielleicht magst Du ja das?“, fragte sie und versuchte, die Dose zu öffnen, was mit einem Drachenbaby auf dem Arm gar nicht so einfach war, zumal Wyveria immer stärker herumzappelte. „Sei doch ruhig“, bat Miranda und schob Wyverias Kopf zur Seite, mit dem diese an der halboffenen Dose schnupperte. Als die Dose endlich offen war, hielt sie sie Wyveria hin. Hungrig riss Wyveria ihr kleines Maul auf und begann zu fressen. Es dauerte nicht lange, und die Dose war leer.
„Hunger!“, beschwerte Wyveria sich erneut. „Ich habe aber nichts mehr“, sagte Miranda verzweifelt. Sie ging durch die Küche und überlegte, ob es noch etwas gab, das sie Wyveria anbieten konnte. Da hörte sie ein Geräusch an ihrer Tür. Draconia war gekommen, um die nächste Ei-Wache zu übernehmen. Miranda rannte zur Tür.
„Ist das Baby schon geschlüpft?“, fragte Draconia und klang gleichzeitig aufgeregt und enttäuscht.
„Sie heißt Wyveria“, sagte Miranda und erzählte Draconia kurz, was passiert war. „Hunger!“, unterbrach Wyveria sie wieder. „Hast Du gehört?“ fragte Miranda. „Wir müssen dringend mehr Fleisch besorgen.“
„Was soll ich gehört haben?“, fragte Draconia.
„Wyveria hat ‘Hunger’ gesagt. Hast Du das nicht gehört?“
„Ich höre gar nichts“, antwortete Draconia, gerade als Miranda wieder Wyverias Hungerschrei hörte.
„Anscheinend kann nur ich sie hören“, wunderte sich Miranda. „Wir brauchen auf jeden Fall mehr Fleisch.“
„Am besten fliege ich nach Hause“, sagte Draconia, „Ich glaube, ich habe noch ein Stück Braten.“
Kurze Zeit später war Draconia wieder zurück. Sie trug einen Topf mit einem kleinen Braten darin. Mit einem Messer schnitt sie ein Stück Fleisch ab und hielt es Wyveria hin. Diese aber riss ihr Maul auf und zischte wieder. Dann sah sie Miranda vorwurfsvoll an. „Ich glaube, Du musst sie füttern“, sagte Draconia. Aus Mirandas Hand nahm das Drachenkind das Fleisch gern entgegen. Wyveria fraß noch eine Weile, dann drehte sie plötzlich ihren Kopf zur Seite rollte sich auf Mirandas Arm ein und schloss ihre Augen. Kurz darauf war sie fest eingeschlafen.
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