Wyveria spricht mit anderen
Nachdem der Schulunterricht zu Ende war, begleitete Draconia Miranda nach Hause. Wie zuvor saß Wyveria auf Mirandas Arm und hatte ihren Schwanz um sie geschlungen. Sie flatterte aufgeregt mit den Flügeln herum, als ein plötzlicher Windstoß sie erfasste. Wyveria wurde ein Stück in die Höhe gezogen und flatterte noch aufgeregter.
„He, lass dass!“, rief Miranda, denn die Sicht war ihr durch die Drachenflügel versperrt. Wyveria aber hörte nicht auf.
„Vorsicht, Miranda!“, hörte sie Draconia rufen. Miranda schob den störenden Drachenflügel zur Seite und erschrak: Sie raste direkt auf einen Baum zu. Miranda legte sich in die Kurve, um den Besen vorbeizulenken. Es gelang ihr, aber die schnelle Wendung hatte Wyveria weiter aus dem Gleichgewicht gebracht, und sie fiel nach unten. Zum Glück wurde sie von ihrem Schwanz gehalten, der ja immer noch um Mirandas Arm gewickelt war, doch nun zerrte ihr ganzes Gewicht an
Miranda und der Besen begann zu trudeln. „Hilfe!“, rief Wyveria in Mirandas Kopf, denn sie konnte sich mit ihrem Schwanz nicht mehr lange halten. Miranda ließ den Besen für einen Moment los und flog freihändig. Sie beugte sich zur Seite, zog Wyveria wieder auf ihren Arm und hielt sie so fest sie konnte, während sie den Besen wieder gerade richtete. Das war gerade noch einmal gut gegangen.
„Du musst vorsichtiger sein, wenn wir fliegen“, sagte sie zu Wyveria. Diese antwortete nicht.
Kurze Zeit später waren sie am Haus angekommen. „Darf ich heute Wyveria füttern?“, fragte Draconia.
„Ich weiß nicht, ob das geht“, sagte Miranda, doch als sie Draconias enttäuschtes Gesicht sah, meinte sie, „wir können es ja versuchen.“
Miranda setzte sich mit Wyveria in ihren Sessel, während Draconia Fleisch aus der Küche holte. Sie schnitt es in kleine Stücke, ging zu Wyveria und hielt ihr ein Stück Fleisch hin. Wyveria beäugte Fleisch und Draconia misstrauisch. „Nimm ruhig“, ermutigte Miranda sie, „Draconia tut dir nichts.“
Wyveria schaute Miranda für einen Moment in die Augen, dann ruckte ihr Kopf herum und sie riss Draconia das Fleischstück aus der Hand. Beim zweiten Mal ging es schon einfacher, sie zögerte kaum noch. Und schließlich ließ sie sich von Draconia genauso füttern wie sonst von Miranda: Kleine Fleischstücke schnappte sie und schluckte sie gleich hinunter, größere Stücke hielt sie zwischen den Vordertatzen und riss selbst mit ihren Zähnen Stückchen davon ab. Schließlich aber schien sie genug zu haben und sie drehte den Kopf zur Seite.
„Ich glaube, sie ist satt“, sagte Draconia und stand auf, um das restliche Fleisch in die Küche zurückzubringen. Da hörte sie eine Stimme, die „Danke“ sagte. „Hast Du das gehört?“, fragte Draconia.
„Was denn?“, fragte Miranda.
„Wyveria hat ‘Danke’ gesagt.“
„Das ist ja toll – ich wusste gar nicht, dass sie auch mit jemandem anders als mit mir sprechen kann. Die Hexenlehrerin hat doch gesagt, Drachen sind telepathisch mit dem ersten, dem sie beim Schlüpfen begegnen.“
„Vielleicht hat sie sich geirrt – ich glaube nicht, dass die Lehrerin sehr viel Erfahrung mit Drachen hat.“
Wyveria hatte das Gespräch der beiden anscheinend mit angehört, jedenfalls war sie ihm mit ihren Augen aufmerksam gefolgt. Jetzt aber begann sie, auf Mirandas Arm herumzuzappeln. Behutsam setzte Miranda sie auf den Boden.
Wyveria machte vorsichtig ein paar Schritte, die immer sicherer wurden. Miranda staunte, wie schnell Wyveria laufen gelernt hatte, und schaute neugierig zu, was Wyveria machte. Als erstes kroch sie unter den Tisch und schaute ihn sich aufmerksam von unten an. Dann ging sie hinüber zum Schrank. Sie steckte ihren Kopf unter den Schrank und nieste, als sie etwas Staub aufwirbelte. Sie ging weiter, auf den Ofen zu. Neferti, die dort lag und vor sich hin döste, öffnete ihre Augen und schaute sie argwöhnisch an. Wyveria machte noch einen Schritt und steckte ihre Schnauze in Neferti’ Futternapf. Das wollte sich die Katze nun doch nicht gefallen lassen. Sie sprang auf und fauchte Wyveria böse an. Wyveria schaute zu Neferti hinüber und blickte ihr in die Augen. Für eine Weile beäugten sich die beiden stumm, dann ging Wyveria zurück zu Miranda.
„Die ist komisch. Die denkt ganz anders als du.“
„Ja, das ist eine Katze, die sind anders als Menschen.“
„Bin ich auch ein Mensch?“
„Nein, Du bist ein Drache.“
„Warum ist dann meine Mutter kein Drache?“
„Doch“, sagte Miranda, „Deine Mutter ist schon ein Drache. Aber ich bin nicht wirklich Deine Mutter.“
Miranda erklärte, dass Wyverias Mutter, die ihr Ei gelegt hatte, nicht mehr da sei. Sie war ein wenig besorgt, dass Wyveria traurig werden würde, aber diese ging ruhig zu ihr und ließ sich auf den Arm nehmen, während Miranda begann, die Geschichte von Medeas Schatz zu erzählen, den sie, Netti und Draconia nach langer Schatzjagd in einem Vulkan gefunden hatten, ohne zu ahnen, dass der Schatz ein Drachenei sein würde. Doch sie war noch nicht sehr weit gekommen, als sie merkte, wie Wyveria auf ihrem Arm immer ruhiger wurde. Kurze Zeit später war sie eingeschlafen.
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