Was muss ein Drachenkind lernen?
Miranda saß mit Wyveria auf dem Arm in ihrem großen Sessel. Sie zitterte immer noch am ganzen Körper vor Wut, Aufregung und auch vor Angst. Der große Drache war furchteinflößend gewesen – als er vor ihr gestanden hatte, hatte sie es kaum bemerkt, weil sie nur daran gedacht hatte, Wyveria zu schützen, aber jetzt wurde ihr klar, wie gefährlich es gewesen war, ihn mit ihrem Zauberstab zu bedrohen. Wyveria kuschelte sich ganz eng an Miranda und versteckte ihren Kopf unter Mirandas Arm. Miranda streichelte über ihre Schuppen und redete beruhigend auf sie ein, so gut sie es vermochte.
Da klopfte es. Miranda schreckte zusammen, aber es waren nur Draconia und Netti, die sie besuchen wollten. Als Netti Miranda sah, sagte sie „Was ist denn mit Dir los? Du bist ja ganz blass.“
„Es ist etwas Schreckliches geschehen“, antwortete Miranda und begann zu erzählen.
Als sie fertig war, sagte Draconia: „Das klingt ja wirklich furchtbar. Von so einem grimmigen Drachen können wir Wyveria nicht großziehen lassen. Außerdem haben wir das Ei gefunden.“
„Ja, es ist einfach ungerecht“, sagte Netti.
„Natürlich ist es das“, sagte Miranda, „aber die Drachen sind viel stärker und mächtiger als wir.“
„Dann müssen wir ihr eben wirklich alles beibringen, was sie wissen muss. Wir können doch eine richtige Drachenschule gründen“, sagte Netti und lächelte ein wenig.
„Ja, schon, aber was müssen wir ihr denn beibringen?“ Auf diese Frage von Draconia wusste niemand eine Antwort. Keinen von ihnen wusste wirklich etwas über Drachenkinder und was sie normalerweise lernten.
„Am besten fliegen wir erst einmal in die Schule. In der Bibliothek stehen doch bestimmt auch Bücher über Drachen. Da muss doch drinstehen, was Drachenkinder so lernen“, schlug Draconia schließlich vor. Und so machten sie sich auf den Weg.
In der Hexenschule angekommen, fingen Miranda und Draconia damit an, alle Bücher über Drachen aus den Regalen zu sammeln. Dann setzten sie sich an den Tisch und begannen zu lesen. Leider waren keine Bücher über Drachenkinder dabei, aber die beiden hofften, dass eines der Bücher trotzdem ein paar Hinweise enthielt.
Während die beiden fleißig lasen, spielte Netti mit Wyveria. Miranda hatte ihr erzählt, was neulich in der Schule passiert war, und so hatte sie einen alten Bleistift hervorgekramt, den sie in der Hand hielt und vor Wyverias Schnauze hin- und herbewegte.
„Schnapp’ ihn Dir“, sagte sie und versuchte, den Bleistift rechtzeitig wegzuziehen, bevor Wyverias scharfe Zähne ihn packen konnten. Beim ersten Mal gelang es ihr noch gut, beim zweiten Mal war es schon ziemlich knapp und Wyverias Zähne schabten einen kleinen Holzsplitter vom Bleistift ab. Beim dritten Mal dann schnappte Wyveria so schnell zu, dass Netti die Bewegung kaum mit den Augen erkennen konnte. So sehr sie es danach auch noch einmal versuchte, Wyveria war einfach schneller.
Nachdem Wyveria den Bleistift noch ein paar Mal erwischt hatte, biss sie schließlich so fest zu, dass er zerbrach. Genüsslich kaute sie eine Weile auf den Stückchen herum, während Netti freundlich mit ihr schimpfte: „und womit sollen wir jetzt spielen? Oder denkst Du, ich habe meine ganze Tasche voller Bleistifte?“ Wyveria aber legte nur den Kopf schief, schaute Netti an, und nachdem sie den Bleistift endgültig in winzige Splitter zerlegt hatte, stand sie auf. Ihre großen schillernden Augen funkelten Netti an. „Fangen!“, hörte Netti Wyverias Stimme in ihrem Kopf, und schon ging die Jagd los.
Netti war schneller als Wyveria, immerhin hatte diese ja gerade erst Laufen gelernt, aber dafür war Wyveria kleiner und vor allem wendiger. Netti hastete hinter ihr her, doch als sie gerade Wyverias Schwanzspitze packen wollte, schlug diese einen Haken und verschwand unter dem Tisch. Auf der anderen Seite kam sie wieder hervor. Netti rannte um den Tisch herum, aber Wyveria kroch zwischen den Beinen von Mirandas Stuhl hindurch, so dass Netti wieder einen Umweg machen musste.
„He!“, rief Miranda, „muss das sein?“, denn Wyveria war gegen sie gestoßen und hatte sie beim Lesen gestört. Mit einem Seufzer wandte Miranda sich wieder ihrem Buch zu, aber kurz darauf wurde sie schon wieder unterbrochen. Wyveria war erneut um den Tisch herumgesaust und versuchte, wieder unter dem Tisch hindurch zu fliehen, als Netti ihr zu nahe kam. Wyveria änderte plötzlich die Laufrichtung und jagte andersherum wieder um den Tisch, Netti versuchte ihr zu folgen. Dabei rutschte sie ein wenig aus und konnte sich gerade noch an Mirandas Stuhl festhalten. Fast hätte sie ihn mitsamt Miranda umgerissen.
„Jetzt ist es aber genug!“, schimpfte Miranda. „Wir versuchen hier zu arbeiten. Spielt gefälligst irgendwas Leises, sonst können wir uns nicht konzentrieren.“
„Ist gut“, antwortete Netti kleinlaut, und Wyveria guckte ein wenig schuldbewusst. „Komm Wyveria, wir setzen uns hier drüben ans Fenster.“ Netti kletterte auf die Fensterbank, so dass die beiden hinausschauen konnten, aber draußen war es dunkel und es gab nicht viel zu sehen. Nach kurzer Zeit wurde es ihnen langweilig. Netti überlegte, was sie tun sollten, um sich die Zeit zu vertreiben.
„Magst Du Rätsel?“, fragte sie. Bei dem Wort „Rätsel“ schnellte Wyverias Kopf zu Netti herum. „Rätsel?“, wiederholte sie nachdenklich, so als hätte das Wort für sie einen besonderen Klang. „Was ist Rätsel?“
„Rätsel sind, naja, es sind irgendwie Sachen zum Nachdenken. Man muss sie lösen“, versuchte Netti zu erklären. Natürlich wusste sie genau, was ein Rätsel ist, aber sie wusste nicht recht, wie sie es erklären sollte. „Am besten stelle ich Dir einfach eins. Pass auf:
Niemals trinke ich,
Alles fresse ich,
Je mehr ich bekomme,
Je schneller verzehre ich,
Wenn alles gefressen ist,
Dann verhungere ich.
Das ist das Rätsel. Du musst herausfinden, was gemeint ist.“
Wyveria schaute Netti an und ihre Augen schienen sich zu verändern, als würde sie in weite Ferne blicken. Dann legte sie den Kopf auf ihre Tatzen und rührte sich nicht mehr. Eine ganze Weile war alles still, nur ab und zu hörte man, wie Miranda oder Draconia eine Buchseite umblätterten oder enttäuscht ein Buch zur Seite legten, um das nächste zu nehmen. Nach eine Weile fragte Netti „Wyveria? Ist alles in Ordnung?“ Wyverias Antwort in ihrem Kopf klang leise und langsam, als wäre sie ganz weit entfernt: „Rätsel lösen.“ So schaute Netti wieder aus dem Fenster und betrachtete den nächtlichen Sternenhimmel.
Nachdem eine ganze Zeit vergangen war, schnellte Wyverias Kopf plötzlich in die Höhe. Ihre Augen schienen ganz groß zu sein, als sie Netti anschaute und sagte „Feuer!“
„Richtig. Du bist ganz schön klug.“
„Noch ein Rätsel!“, forderte Wyveria.
„Leider weiß ich im Moment keins mehr. Aber ich habe das Rätsel von meiner Tante, die kann mir bestimmt noch mehr Rätsel verraten. Morgen kannst Du wieder eins lösen.“
„Rätsel!“, antwortete Wyveria begeistert, und ihr Schwanz schlug aufgeregt hin und her.
In diesem Moment schob Miranda den Bücherstapel weg, der vor ihr auf dem Tisch lag und sagte „Nichts! Ich habe gar nichts über Drachenkinder gefunden, jedenfalls nichts darüber, wann sie was lernen müssen.“
„Ich auch nicht.“ Draconia klang genauso niedergeschlagen wie Miranda.
Für eine Weile sagte niemand etwas. Dann hatte Draconia eine Idee: „Ich weiß, wie wir es machen können. Wir brauchen doch nur zu überlegen, was ein erwachsener Drache alles kann. Das muss Wyveria dann lernen.“
„Das wir darauf nicht gleich gekommen sind.“ Miranda war ein wenig ärgerlich mit sich, aber doch froh, dass sie nun wussten, wie es weiterging. Sie nahm einen Stift und ein großes Blatt Papier und begann zu schreiben, wobei sie laut vorlas: „Feuer spucken. Fliegen.“
„Sprechen“, schlug Draconia vor.
„Ich kann sprechen!“, hörten sie Wyverias entrüstete Stimme in ihren Köpfen.
„Ja, aber ich meine richtig sprechen. Mit einer Stimme die man auch hört.“
„Blödsinn!“, Wyveria klang etwas mürrisch und drehte ihren Kopf weg.
„Laufen und Schwimmen“, sagte Miranda.
„Und in einem Buch stand, dass sie auch zaubern können“, fügte Draconia hinzu.
„Das ist schon ganz schön viel.“ Miranda schaute skeptisch auf ihre Liste.
„Rätsel!“, sagte Wyveria. „Ich will Rätsel lernen.“
„Rätsel?“, sagte Miranda. „Das habe ich aber nirgends gelesen.“
„Ich auch nicht“, stimmte Draconia zu. „Ich glaube nicht, dass Drachen Rätsel lernen.“
„Rätsel!“, sagte Wyveria mit energischer Stimme in ihren Köpfen.
„In Ordnung“, schlug Netti vor, „Wenn Du fleißig lernst, dann bekommst Du zur Belohnung Rätsel von mir.“
„Gut!“, sagte Wyveria. Dann legte sie ihren Kopf auf ihre Tatzen, rollte ihren Schwanz um den Körper und schlief ein. Vorsichtig nahm Miranda sie auf den Arm und sie machten sich auf den Heimweg. Morgen würden sie mit der Drachenschule beginnen.
Kommentare (2)