Ein erster Erfolg

In der nächsten Nacht flogen Miranda und ihre Freundinnen mit Wyveria zum See. Der Sommer war bereits zu Ende, und nachts war es zwar noch nicht sehr kalt, aber als sie auf den dunklen See hinaus blickte, begann Netti zu frösteln. „Sieht kalt aus“, sagte sie, während sie sich ihre Badesachen anzogen. Miranda war als erste fertig und ging zum Wasser. Als sie den Fuß hineinsteckte, schrie sie auf: „Sieht nicht nur kalt aus, ist es auch.“

„Ich glaube nicht, dass wir in der Kälte baden können“, sagte Netti.

„Klar können wir.“ Draconia holte ihren Zauberstab hervor und sprach einen Zauberspruch, wobei sie mit dem Stab auf jeden von ihnen deutete. Dann ging sie ans Ufer und in den See hinaus. „Kommt, es fühlt sich überhaupt nicht kalt an.“ Vorsichtig folgten Miranda und Netti ihr, aber sie merkten schnell, dass Draconias Zauberspruch wirkte – das Wasser fühlte sich so warm an, als hätte die Sommersonne den ganzen Tag darauf geschienen.

„Komm, Wyveria“, rief Miranda, und Wyveria trottete gehorsam ins Wasser.

„Kalt!“, sagte sie mürrisch.

„Wieso?“, fragte Netti. „Du hast das Wasser doch warm gezaubert, Draconia, oder nicht? Ich finde es gar nicht kalt.“

„Nein, ich habe nicht das Wasser warm gezaubert – dafür ist der See zu groß, soviel Zauberkraft habe ich nicht. Ich habe nur gezaubert, dass uns im Wasser nicht kalt wird.“

„Kannst Du Wyveria nicht genauso verzaubern?“, fragte Miranda.

„Ich dachte, das hätte ich“, sagte Draconia nachdenklich. Sie wiederholte den Zauberspruch. „Ist es jetzt besser?“

„Kalt!“, beschwerte Wyveria sich erneut.

„Wirkt der Zauber vielleicht nicht bei Drachen?“, überlegte Netti.

„Natürlich!“, rief Miranda. „Der braune Drache hat doch zu mir gesagt, ich könne ihn nicht verzaubern. Vielleicht kann man Drachen nicht verzaubern, weil sie irgendwie gegen Magie geschützt sind.“

„Das ist aber ziemlich unpraktisch für uns“, sagte Netti.

Doch es half alles nichts. Kalt oder nicht, Wyveria musste schwimmen lernen. „Nun komm schon“, ermunterte Miranda sie.

„Ich will Rätsel!“, sagte Wyveria und Miranda seufzte.

„Ist gut“, sagte Netti, „wenn wir eine Weile geschwommen sind, dann bekommst Du ein Rätsel von mir.“ Kaum hatte sie es ausgesprochen, ging Wyveria auch schon vorsichtig ins Wasser hinein.

„Ich zeige Dir jetzt, wie man schwimmt“, sagte Miranda, legte sich ins Wasser und begann mit den Schwimmbewegungen. „Mach es mir einfach nach.“ Wyveria machte einen Satz in das etwas tiefere Wasser und ging sofort unter. Sie strampelte wild mit den Vorderbeinen, aber es half nichts. Draconia stellte sich neben sie und legte ihr die Hände unter den Bauch. „Ich halte Dich, dann kannst Du die Schwimmbewegungen üben.“ Gehorsam versuchte Wyveria, die Vorderbeine nach außen zu drücken, aber es ging nicht. „Geht nicht!“, sagte sie.

„Wieso nicht?“, fragte Miranda. Wyveria machte dieselbe Bewegung noch einmal. „Du kannst ja Deine Vorderbeine gar nicht richtig zur Seite strecken. Wie sollst Du denn da schwimmen?“

„Aber wir wissen doch, dass Drachen schwimmen können“, sagte Netti, „das habt ihr doch gelesen.“

„Stimmt.“ Alle drei dachten eine Weile nach, während Wyveria aus dem Wasser kletterte und sich trocken schüttelte.

„Ich hab’s!“, rief Draconia schließlich. „Wyveria ist doch eher wie ein Tier als wie ein Mensch. Vielleicht muss sie andere Schwimmbewegungen machen, so wie beim Hundepaddeln. Komm, ich zeig’s Dir.“

Ganz brav stieg Wyveria wieder ins Wasser. Draconia paddelte vor ihr im Wasser herum und Wyveria versuchte es nachzumachen, von Miranda gestützt. Diesmal machte es Wyveria keine Schwierigkeiten, ihre Beine richtig zu bewegen, aber als Miranda nach einer Weile vorsichtig ihre Hand unter Wyverias Bauch wegzog, ging diese sofort unter. Schnell hob sie sie wieder an die Oberfläche.

„Ich glaube, Deine Beine sind zu kurz zum Paddeln“, sagte sie schließlich, nachdem Wyveria es wieder und wieder erfolglos versucht hatte. „Da hilft nur üben.“

„Kalt“, sagte Wyveria nur.

„Am besten gehen wir erst einmal ans Ufer, damit Wyveria sich aufwärmen kann. Wenn sie friert, klappt es bestimmt gar nicht.“ Sie trockneten sich und auch Wyveria ab, doch ihr war immer noch kalt. Miranda und Draconia gingen Feuerholz suchen, und kurze Zeit später brannte ein helles kleines Lagerfeuer am Strand. Wyveria stellte sich ganz dicht davor, so dicht, dass Miranda schon Angst hatte, sie würde sich verbrennen. Wyveria breitete ihre Flügel aus und hielt sie dicht an die Flammen. „Warm“, sagte sie zufrieden, und dann „Rätsel!“

„Ist gut“, sagte Netti. „Dieses Rätsel ist aus einer Geschichte, die meine Tante mir einmal vorgelesen hat: Der Schrein ohne Schlüssel, Schloss, Scharnier, birgt einen goldenen Schatz, glaube es mir.“

Wyveria lauschte aufmerksam. Als Netti zu Ende gesprochen hatte, legte sie, wie immer, wenn sie nachdachte, ihren Kopf auf die Vordertatzen und schloss die Augen. Auch Miranda dachte über das Rätsel nach. Meistens war es bei Rätseln so, dass einige Worte des Rätsels ganz genau so gemeint waren, wie sie da standen, andere aber nicht. Miranda überlegte, was für ein goldener Schatz
gemeint sein konnte, aber normale Goldschätze wurden natürlich nie in Truhen aufbewahrt, die man nicht öffnen kann. Doch bevor sie noch weiter überlegen konnte, sagte Wyveria: „Leichtes Rätsel, besonders für einen Drachen.“

„Nicht verraten“, bat Miranda. „Vielleicht komme ich diesmal ja auch wieder selbst drauf.“ Wyveria, zufrieden, dass sie das Rätsel gelöst hatte, schaute die Hexenkinder erwartungsvoll an. „Und was nun?“, fragte sie.

Während die anderen gerätselt hatten, hatte Netti noch einmal über das Schwimmen nachgedacht. „Können eigentlich alle Tiere schwimmen?“ fragte sie.

„Ich glaube schon“, antwortete Draconia.

„Und schwimmen alle Tiere so wie ein Hund?“, fragte sie weiter.

„Nein, nicht alle.“

„Dann müssen wir vielleicht überlegen, welchem Tier Wyveria am ähnlichsten ist – so muss sie dann auch schwimmen.“

„Netti, Du bist wirklich schlau“, lobte Miranda. „Hmm, lass Dich mal ansehen, Du hast einen langen Schwanz und kurze Beine, ein bisschen wie ein Krokodil, findet ihr nicht?“

Wyveria schnaubte entrüstet: „Ich bin ein Drache, kein Krokodil.“

„Weiß ich ja, aber Du siehst einem Krokodil jedenfalls ähnlicher als irgendeinem anderen Tier das ich kenne. Krokodile können doch gut schwimmen, oder?“

„Ja“, rief Draconia, „aber die schwimmen, indem sie mit dem Schwanz schlagen, nicht mit den Beinen. Vielleicht klappt das.“

Alle hatten neue Hoffnung geschöpft und so gingen sie wieder ins Wasser. Natürlich konnten sie Wyveria diesmal nicht vormachen, wie sie schwimmen sollte. So hielt Miranda sie einfach wieder unter dem Bauch und sagte „Schlag mit dem Schwanz.“ Wyveria gehorchte und schoss aus Mirandas Händen heraus nach vorn ins Wasser, wobei ihr Kopf allerdings unterging. „Hilfe!“, rief sie. Miranda stürzte hinter ihr her und versuchte, sie zu greifen, doch plötzlich durchbrach Wyverias Kopf die Wasseroberfläche und sie schwamm auf den See
hinaus.

„Es klappt!“, rief Miranda begeistert.

„Nicht nur mit dem Schwanz, mit dem ganzen Körper“, sagte Wyveria, während sie durch den See sauste, so schnell, dass die anderen sie nicht einholen konnten. Als Wyveria schließlich umdrehte und wieder auf sie zu schwamm, sah Miranda, dass sie tatsächlich ihren ganzen Körper hin und her schlängelte. Kurz vor ihr hielt Wyveria an, indem sie ihre Flügel zum Bremsen ausbreitete. Es gab eine riesige Wasserfontäne, unter der Miranda geduscht wurde. „Iiih!“, schrie sie auf und Wyveria lachte in ihren Köpfen. Dann spreizte sie erneut die Flügel und spritzte Miranda noch einmal nass.

„Na warte!“, rief Miranda und lachte, während sie mit dem Arm aufs Wasser schlug, um sich zu rächen. Doch Wyveria hatte sich inzwischen schon an ihr vorbei geschlängelt.

„Aufgepasst, Wyveria“, rief Draconia und spritzte das Drachenkind nass. Im Nu war eine gigantische Wasserschlacht im Gange, bei der Wyveria meist die Nase vorn hatte, denn sie konnte mit ihren Flügeln mehr Wasser spritzen als die drei anderen zusammen.

Schließlich sagte Netti „ich kann nicht mehr“, und ging ans Ufer. Die anderen folgten ihr. Während sie sich abtrockneten, dachte Miranda noch einmal über das Rätsel nach, aber die Lösung wollte ihr nicht einfallen.

„Ich gebe auf“, sagte sie. „Was ist denn nun diese Truhe mit dem goldenen Schatz?“

„Ein Ei“, antwortete Wyveria.

„Wieso ein Ei?“ Miranda musste einen Moment nachdenken. „Ach so, der goldene Schatz ist das Eigelb, und die Truhe ist das Ei selbst. Das war aber knifflig.“

Müde und hungrig vom Schwimmen, aber sehr zufrieden, machten sie sich auf den Heimweg.