Zaubern lernen

Als sie sich in der nächsten Nacht wieder in der Schulbibliothek trafen, nahm Draconia als erstes ihre Liste heraus. „So. Schwimmen kannst Du jedenfalls“, sagte sie und machte einen Haken. „Soll ich beim Laufen auch einen Haken machen?“ Als Antwort sprang Wyveria von Mirandas Schoß herunter und rannte durch die Bibliothek, wobei sie mit den Flügeln auf und ab schlug. Sie machte so viel Wind, dass Mirandas Haare ihr ins Gesicht flatterten, als Wyveria an ihr vorbeirannte. Wyveria rannte zweimal im Kreis um den Tisch herum, dann blieb sie stehen.

„In Ordnung“, lachte Draconia und machte einen weiteren Haken. „Feuer spucken, Sprechen, Zaubern und Fliegen. Ich schlage vor, wir versuchen es noch ein wenig mit dem Sprechen.“

„Ich kann sprechen“, maulte Wyveria, wie jedesmal.

„Versuch es doch einfach nochmal“, schlug Miranda vor.

Gehorsam holte das Drachenkind Luft und versuchte, Geräusche zu machen. „Iiiiih“, ertönte es wieder. Wyveria versuchte es erneut. Diesmal klang das „Iiiih“ etwas tiefer, aber es war immer noch derselbe Laut. Nach ein paar weiteren Versuchen wurde es Wyveria zu viel. „Genug“, sagte sie, kniff den Mund zusammen und gab keinen Ton mehr von sich.

Miranda seufzte. „Ich fürchte, mit dem Sprechen wird es im Moment noch nichts. Vielleicht sollten wir mal das Zaubern versuchen, das haben wir noch nie probiert.“

Beim Wort „Zaubern“ war Wyverias Kopf in die Höhe geschnellt. Sie nickte. „Zaubern!“, sagte sie.

„Was soll Wyveria denn zaubern?“, fragte Miranda. „Am besten etwas möglichst einfaches.“

„Der einfachste Zauber ist ein Hexenlicht, oder was meint Ihr?“, fragte Netti. Die anderen stimmten ihr zu, und Netti machte es Wyveria vor. Langsam sagte sie den Zauberspruch auf und schwenkte dabei ihren Zauberstab. Ein kleines Licht erschien wie ein kleiner Stern über der Spitze ihres Stabes und leuchtete hell. „Siehst Du“, sagte sie zu Wyveria, „es geht ganz einfach. Probier mal.“

„Ich gebe Dir meinen Zauberstab“, sagte Miranda und hielt Wyveria ihren Stab hin. Da Wyveria mit ihren Zehen nicht richtig greifen konnte, setzte sie sich auf die Hinterbeine und hielt den Stab zwischen ihren beiden Vordertatzen fest. „Am besten sagst Du den Spruch telepathisch – zu ärgerlich, dass Du nicht sprechen kannst“, schlug Miranda dann vor.

Wyveria gehorchte und sie alle hörten in ihren Köpfen ganz deutlich ihre Stimme den Zauberspruch aufsagen. Leider aber passierte nichts. Wyveria versuchte es noch ein zweites und dann ein drittes Mal, doch es half nichts.

„Meint, Ihr, es ist egal, dass sie den Zauberstab mit beiden Tatzen festhält?“, fragte Netti. Also versuchte Wyveria, den Zauberstab nur in einer Tatze zu halten, so wie eine Hexe mit ihrer Hand. Da sie keinen Daumen hatte, war es ziemlich schwierig, aber schließlich gelang es Miranda, Wyveria den Stab zwischen zwei ihrer Vorderzehen zu klemmen, so dass er etwas schräg in die Höhe ragte. Wyveria versuchte es wieder, aber erneut vergeblich.

„Pause!“, sagte Wyveria.

„Ja, gut, lasst uns eine Pause machen. Ich hab im Moment sowieso keine Idee mehr“, sagte Miranda. Sie war sehr niedergeschlagen, weil der Unterricht mit Wyveria so gar nicht so verlief, wie sie es sich vorgestellt hatte. Wer hätte gedacht, dass es so schwierig sein könnte, einem kleinen Drachen beizubringen, was er wissen musste?

„Rätsel!“, forderte Wyveria.

„Gut“, antwortete Netti, „mal sehen, ob Du das hier herausbekommst. Was hat sechs Beine, läuft aber nur auf vieren?“

Alle begannen nachzudenken. Miranda überlegte eine ganze Weile, welche Tiere wohl sechs Beine hatten. Die einzigen, die ihr einfielen, waren Käfer und Fliegen, aber die hielten beim Laufen nicht zwei davon in die Luft. Während sie noch grübelte, sagte Wyveria plötzlich mit sehr zufriedener Stimme: „Einfaches Rätsel!“

„Hast Du es schon herausbekommen?“, fragte Draconia verblüfft. „Ich habe jedenfalls keine Idee.“

„Ich auch nicht“, gab Miranda zu.

„Ein Pferd, auf dem ein Reiter sitzt“, sagte Wyveria.

„Stimmt“, sagte Miranda verblüfft, „aber darauf wäre ich nie gekommen. Im Rätseln bist Du wirklich nicht zu schlagen.“

„Mehr Rätsel“, sagte Wyveria, aber Miranda widersprach: „Nein, jetzt übst Du wieder Zaubern.“

„Ich hab mir was überlegt“, sagte Netti. „Drachen benutzen doch gar keine Zauberstäbe, oder? Sie könnten sie ja auch gar nicht gut festhalten. Vielleicht geht es besser ohne Zauberstab.“

„Prima Idee“, lobte Miranda. Sie nahm ihren Zauberstab wieder an sich und Wyveria sollte es erneut versuchen. Wieder hörten sie alle ihren Zauberspruch in ihren Köpfen, aber nichts geschah.

„Langsam weiß ich nicht mehr weiter“, gab Miranda zu. „Drachen und Hexen sind einfach zu verschieden. Was machen wir, wenn die Drachenzaubersprüche ganz anders klingen, vielleicht in irgendeiner Drachensprache?“

„Dann haben wir überhaupt keine Chance“, sagte Draconia. Dann hielt sie einen Moment inne. „Wartet mal, wenn Drachenzauber ganz anders sind, vielleicht gehen sie ja nicht nur ohne Zauberstab, sondern auch ohne Zauberspruch.“

„Wie soll das denn gehen?“, fragte Netti verwirrt.

„Weiß ich auch nicht“, sagte Draconia. „Vielleicht muss Wyveria sich den Zauber nur vorstellen oder so.“

„Meinst Du, das funktioniert?“, fragte Miranda skeptisch.

Auch Netti schüttelte traurig den Kopf. Da fiel ihr Blick auf Wyveria. Wyveria hatte ihren Kopf auf die Vordertatzen gelegt und ihre Drachenaugen fest geschlossen. Sie lag still da, nichts an ihr rührte sich und sie schien nicht einmal zu atmen. „Seht doch nur!“, rief Netti aufgeregt, denn plötzlich erschien ein winziges leuchtendes Pünktchen direkt vor Wyverias Nasenspitze. Es war nur schwach zu sehen, aber es war deutlich ein Licht. Nach einem Moment erlosch es, und Wyveria schlug die Augen auf.

„Du hast es geschafft!“, rief Miranda außer sich vor Freude, nahm Wyveria auf den Arm und drückte sie an sich.

„Jetzt wissen wir immerhin, wie es geht“, sagte Draconia, „aber Du musst noch mehr üben. Ich glaube nicht, dass ein so kleines Licht für die Drachenprüfung reicht.“

„Ja, am besten versuchst Du es gleich noch mal“, stimmte Miranda zu.

Sie setzte Wyveria wieder auf den Boden, diese schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihren Zauber. Netti löschte inzwischen das Licht, damit sie Wyverias Zauberlicht besser erkennen konnten.

Es dauerte einen Moment, aber dann konnten sie alle es deutlich sehen: Wieder erschien ein kleiner Lichtfleck vor Wyverias Nase, und da es dunkel war, konnten sie diesmal sehen, dass es ein goldenes Licht war, das sich ein wenig in Wyverias Bronzeschuppen spiegelte. Sehr hell war es allerdings nicht, nicht einmal so hell wie eine Streichholzflamme.

Als es erloschen war, bat Miranda Wyveria, es noch einmal zu versuchen. „Vielleicht stellst Du es Dir mal etwas größer und heller vor“, sagte sie.

„Zaubern ist anstrengend“, murrte Wyveria, aber sie tat, was Miranda verlangt hatte. Das Zauberlicht erschien wieder, aber es war nicht heller als zuvor.

Auch beim nächsten Mal war es nicht größer geworden. „Anstrengend!“, beschwerte Wyveria sich wieder. „Versuch es doch bitte trotzdem noch einmal“, bat Miranda, und Wyveria schloss wieder die Augen.

Wieder warteten die Hexenkinder gespannt. Wyveria lag ruhig vor ihnen und sie starrten auf ihre Nasenspitze, um das Auftauchen des Lichtes nicht zu verpassen. Alles blieb dunkel. Wyveria lag auf dem Boden, hatte wie zuvor die Augen geschlossen, und atmete ruhig, sehr ruhig, dachte Netti, und dann lachte sie: „Sie ist eingeschlafen!“ Auch Miranda und Draconia lachten. „Es war wohl wirklich ziemlich anstrengend für sie“, sagte Draconia.

„Es ist sowieso schon ziemlich spät“, sagte Miranda. „Am besten, wir machen morgen weiter.“ Vorsichtig, um Wyveria nicht zu wecken, nahm sie sie auf den Arm und ging mit ihr nach draußen. Dann verabschiedeten sie sich und flogen alle drei nach Hause.

Kommentare (2)

  1. #1 Christian
    7. April 2020

    Hallo Martin,
    Vielen Dank fürs Weiterschreiben.
    Das schätze ich sehr und freue mich jeden Tag auf ein neues Kapitel.
    Schöne Grüße,
    Christian

  2. #2 MartinB
    7. April 2020

    Ich schreibe ja gar nicht, ich lade nur hoch. Aufgeschrieben habe ich die Abenteuer vor etwa 10 Jahren schon, allerdings nur drei Bücher; Notizen gibt es für deutlich mehr.