Erste Flugversuche
Einige Tage waren vergangen. Es war Mittag, und Miranda lag in ihrem Bett und schlief tief und fest. Plötzlich riss ein Schrei sie aus ihrem Schlaf. „Hilfe!“, ertönte es gellend laut in ihrem Kopf. „Was ist denn?“, fragte Miranda schlaftrunken und verstand zuerst gar nicht, wer sie gerufen hatte. Dann schreckte sie hoch: „Wyveria?“, fragte sie ängstlich, „alles in Ordnung?“ Das Drachenkind war nirgends zu sehen. Miranda kletterte aus dem Hochbett herunter und schaute sich um.
Zwei Stühle waren umgefallen, und nun erinnerte Miranda sich, dass sie geträumt hatte, ein Riese würde gegen ihr Haus klopfen und alle Möbel umwerfen. „Ich bin hier oben“, sagte Wyveria kleinlaut. Miranda schaute auf den großen Garderobenschrank, in dem sie ihre Mäntel und warmen Wintersachen aufbewahrte. Oben auf dem Schrank saß Wyveria.
„Wie bis du denn da hinaufgekommen?“, fragte sie verwundert, und plötzlich hüpfte ihr Herz voller Hoffnung. „Bist Du hinaufgeflogen?“
„Nein, gelaufen“, antwortete Wyveria. „Ich will wieder nach unten.“
Miranda holte einen Stuhl und kletterte hinauf. Sie streckte sich nach oben, um Wyveria herunterzuheben, aber als sie versuchte, Wyveria hochzuheben, merkte sie, wie sie ins Wackeln geriet. Schnell setzte sie Wyveria wieder auf den Schrank und hielt sich selbst fest. „Es ist zu hoch, und Du bist zu schwer“, sagte sie dann. „Erzähl mir doch noch einmal genau, wie Du raufgekommen bist, vielleicht kommst Du so auch wieder runter.“
„Ich bin durchs Zimmer gelaufen und habe mit den Flügeln geschlagen, und bin immer schneller gerannt und dann war ich am Schrank und konnte nicht mehr bremsen. Also habe ich, so stark ich konnte, mit den Flügeln geschlagen und bin einfach nach oben gelaufen.“
„Hmmm“, sagte Miranda, „runterlaufen kannst Du so jedenfalls nicht. Aber irgendwie müssen Deine Flügel Dir geholfen haben – sonst kannst Du doch keine senkrechte Wand hochlaufen.“
„Ich will runter!“, sagte Wyveria, nun ein wenig ärgerlich, weil Miranda sich anscheinend mehr Gedanken über das Heraufkommen als das Hinunterkommen machte.
Miranda überlegte wieder. Vielleicht konnte sie ihren Besen nehmen und damit zum Garderobenschrank hinauffliegen? Dort oben war es allerdings ziemlich eng und Miranda war sich nicht sicher, ob sie sich nicht den Kopf anstoßen würde, oder ob der Besen nicht aus dem Gleichgewicht geraten würde, wenn Wyveria zu ihr hinübersprang.
Dann kam ihr ein ganz anderer Gedanke. Vielleicht konnte Wyveria ja selbst herunterkommen. „Kannst Du nicht einfach springen?“, fragte sie.
„Zu hoch!“
„Und wenn Du Deine Flügel ausbreitest? Dann fällst Du doch langsamer, selbst wenn Du noch nicht fliegen kannst.“
„Und wenn es nicht klappt?“ Wyverias Stimme klang besorgt.
„Pass auf. Ich lege einen Stapel aus Kissen und Decken auf den Tisch, in den kannst Du reinspringen. Und bis zum Tisch ist es auch nicht ganz so tief.“ Miranda holte ihre Kissen und ihr dickes Federbett und breitete sie auf dem Tisch aus.
„Wenn Du springst, dann breitest Du die Flügel aus, das müsste Dich eigentlich bremsen“, sagte sie.
Wyverias Kopf schielte über den Rand des Garderobenschranks hinweg nach unten.
„Tief“, sagte sie dann.
„Das schaffst Du bestimmt“, sagte Miranda.
Wyveria schaute noch einmal nach unten, und Miranda sah, dass sie all ihren Mut zusammennahm. Dann machte sie einen Satz nach vorn und breitete ihre Flügel aus. Sie stürzte ein Stück in die Tiefe, doch als die Flügel ganz ausgebreitet waren, bremsten sie ihren Fall. Wyveria sauste durch die Luft, genau auf den Tisch zu. Ihre Flügel trugen sie durch die Luft, und sie war
viel zu schnell, als sie über dem Tisch hinwegglitt. Ihre Füße berührten zwar den Kissenstapel, doch sie riss ihn vom Tisch herunter, flog weiter, über den Tisch hinweg, und raste in Mirandas Sessel, der mit lautem Krachen umfiel. Wyveria kullerte ein Stück durchs Zimmer und blieb dann liegen.
„Ist Dir auch nichts passiert?“, fragte Miranda besorgt. Wyveria rappelte sich wieder hoch und schüttelte sich. Dann schaute sie an ihrem Körper hinunter und breitete vorsichtig ihre Schwingen aus. „Alles in Ordnung“, sagte sie dann.
„Gut.“ Miranda war beruhigt. Dann wurde ihr erst klar, was passiert war. „Du bist geflogen, weißt Du das?“
„Nein, gesprungen.“
„Ohne Deine Flügel hättest Du aber nicht so weit springen können. Es war ein richtiger Gleitflug, wie bei einer Möwe oder einem Segelflugzeug. Deine Flügel sind also doch groß genug, um Dich zu tragen.“
„Hmm“, sagte Wyveria nur, aber Miranda fuhr unbeirrt fort.
„Am besten versuchen wir es gleich nochmal.“
„Nochmal?“
„Ja, natürlich. Es ging doch schon ganz gut. Diesmal schiebe ich den Tisch etwas weiter weg, dann kannst Du genau auf ihm drauf landen. Du musst nur alles genauso machen wie eben.“
„Ich will nicht.“
„Aber Du willst doch Fliegen lernen und die Drachenprüfung bestehen, oder?“
„Na gut“, sagte Wyveria.
„Als erstes musst Du wieder auf den Schrank.“
Wyveria nahm einen Anlauf und rannte dann durchs Zimmer. Sie schlug mit den Flügeln auf und ab, schneller und schneller und rannte auf den Schrank zu. Sie rannte die Schrankwand hinauf, während ihre Flügel sie ein wenig trugen und ihr Halt gaben, und war im Nu oben angekommen.
Miranda staunte, dass Wyveria mit ihren Flügeln tatsächlich eine senkrechte Wand hochlaufen konnte. „Gut gemacht“, lobte sie. Sie schob den Tisch dorthin, wo eben noch der Sessel gestanden hatte, und stapelte Decke und Kissen wieder auf. „Und jetzt los“, sagte sie.
Wieder schaute Wyveria noch einmal nach unten, ein wenig ängstlich, wie Miranda fand, dann machte sie einen Satz in die Luft und breitete die Flügel aus. Sie schwebte und fiel gleichzeitig und sauste durchs Zimmer. Miranda sah, dass sie diesmal noch etwas besser flog als beim ersten Mal. „Klapp die Flügel ein!“, rief sie, als Wyveria schon fast über dem Tisch war, aber noch viel zu hoch. Wyveria gehorchte. Sie landete diesmal auf dem weichen Stapel, doch sie hatte noch so viel Schwung, dass sie mitsamt Decke und Kissen vom Tisch rutschte und auf dem Boden plumpste. Dabei überschlug sie sich noch ein oder zweimal, so dass sie sich in der Decke verhedderte.
„Warte, ich helfe Dir.“ Miranda befreite Wyveria aus ihrem Stoffgefängnis. „Das ging doch schon richtig gut“, sagte sie.
„Kann ich jetzt fliegen?“, fragte Wyveria hoffnungsvoll.
„Nein, richtig fliegen noch nicht, aber zumindest etwas gleiten. Das ist auf jeden Fall besser als gar nichts.“
„Aber jetzt wollen wir wieder schlafen“, sagte Wyveria und kletterte die Leiter ins Hochbett nach oben. Miranda war noch etwas aufgeregt, aber sie kletterte ebenfalls nach oben und legte sich neben Wyveria. Das Drachenkind war im Nu eingeschlafen, aber Miranda lag noch lange wach und dachte an die Drachenprüfung.
Nachbemerkung: Alle, die glauben, dass diese Hexengeschichten nichts mit Wissenschaft zu tun haben, sind hoffentlich spätestens jetzt vom Gegenteil überzeugt: Wyverias Technik an einer senkrechten Wand hochzulaufen, wurde vor einigen Jahren an Vögeln beobachtet und unter dem Namen “Wing-Assisted-Inclined-Running” (WAIR) bekannt. Diese Technik könnte ein Schritt auf dem Weg zur Entwicklung des aktiven Fliegens gewesen sein damals, als sich die Vögel aus Dinosauriern entwickelten.
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