Ist Wyveria krank?
Einige Nächte später waren Mirandas Sorgen nicht weniger geworden. Wyveria hatte zwar in der letzten Nacht eine etwas größere Leuchtkugel gezaubert als sonst, aber ihr Lichtzauber war immer noch viel schwächer als der der Hexenkinder. Und wer konnte schon wissen, was für einen schwierigen Zauber Wyveria bei der Drachenprüfung vorführen musste?
So war es nicht verwunderlich, dass Miranda unruhig schlief, sich von einer Seite auf die andere drehte und schlecht träumte. In ihren Träumen war Wyveria verschwunden und sie musste sie suchen. Als sie schließlich aufwachte, dachte sie ‘Zum Glück, nur ein Traum. Wyveria liegt hier bei mir in meinem Bett.’ Doch als sie sich umdrehte, war Wyveria tatsächlich verschwunden. „Wyveria?“, rief Miranda ängstlich, doch es gab keine Antwort. Miranda kletterte aus ihrem Bett, so schnell es ging. Auf der Leiter des Hochbetts sah sie etwas Seltsames: Einen komischer, bräunlich-weißer Fetzen, so groß wie ihre Hand, der ein bisschen aussah wie Papier. Als Miranda ihn hochnahm, um ihn zu untersuchen, merkte sie, dass er sich glatt anfühlte, fast wie ein Fingernagel. „Wyveria?“, fragte Miranda wieder, aber wieder blieb sie ohne Antwort.
Auf dem Boden vor ihrem Sessel lag noch ein weiterer solcher Fetzen, dann sah sie noch einen dritten. Als sie ihn aufhob und wieder spürte, wie glatt er war, dachte sie „Fast wie Wyverias Schuppen“, und dann durchfuhr sie ein Schreck: Wyveria würde doch nicht krank sein? Fielen ihr etwa die Schuppen aus?
Noch ängstlicher als zuvor lief Miranda durchs Zimmer und schaute in alle Winkel, aber Wyveria war nirgends zu sehen. Auch im Badezimmer sah sie zwar weitere der seltsamen Fetzen, aber keine Wyveria – halt, was war das? Unter der Badewanne schaute etwas hervor, etwas langes dünnes. Es war Wyverias Schwanzspitze.
Miranda hockte sich hin und da sah sie Wyveria, die sich unter der Badewanne versteckte, so gut es ging. „Geh weg!“, sagte Wyveria todunglücklich in Mirandas Kopf.
„Aber was hast Du denn?“, fragte Miranda, „Ich will Dir doch nur helfen.“
„Geh weg, niemand soll mich so sehen“, sagte Wyveria.
Miranda schaute genauer hin und sah, dass Wyverias Schuppenhaut sich überall an ihrem Körper ablöste. „Dein Haut fällt ja ab. Das muss ja schrecklich wehtun“, sagte sie entsetzt.
„Es juckt!“, sagte Wyveria zur Antwort.
„Es juckt?“ Obwohl Miranda immer noch nicht verstand, was mit Wyveria vor sich ging, war sie doch erleichtert. „Komm doch heraus, dann kann ich Dir vielleicht helfen, dass das Jucken aufhört.“
„Aber niemand soll mich so sehen“, sagte Wyveria.
„Ich habe Dich doch schon gesehen. Oder machst Du Dir Sorgen wegen der Schule?“
Wyveria nickte.
„Ich rufe nachher die Lehrerin an, dass Du krank bist und dass ich nicht kommen kann. In Ordnung?“ Nach diesem Vorschlag kroch Wyveria langsam unter der Wanne hervor. Als Miranda sie sah, erschrak sie wieder, denn Wyverias Haut löste sich an ihrem ganzen Körper ab und hing in Fetzen herunter.
Miranda nahm sie auf den Arm und ging mit ihr ins Wohnzimmer. Behutsam setzte sie Wyveria auf den Tisch und sah sie genau an. Vorsichtig nahm sie einen der herunterhängenden Fetzen zwischen ihre Finger und schob ihn zur Seite. Darunter kamen neue, glatte Schuppen zum Vorschein, die bronzefarben glänzten und vollkommen heil aussahen.
„Ich glaube, Du häutest Dich nur“, sagte sie. „Schlangen haben auch eine Schuppenhaut, und die müssen auch ab und zu ihre Schuppen wechseln.“
„Ja, aber es juckt“, beklagte sich Wyveria wieder.
Miranda rieb ganz sanft über die alte, sich ablösende Haut. Sie löste sich leicht vom Körper. „Wo juckt es denn besonders?“, fragte sie.
„Am rechten Vorderbein.“
Dort war die alte Schuppenhaut noch ziemlich fest am Körper. Miranda strich mit der Hand über die Haut, dann hatte sie eine Idee. Sie holte Ihren Schwamm aus dem Badezimmer und rieb mit dem Schwamm über die juckende Stelle. Wyveria stieß einen tiefen Seufzer aus. Miranda rieb weiter und nach einer Weile löste sich die alte Haut.
Vorsichtig rieb Miranda weiter oben am Bein, doch plötzlich zuckte Wyveria zusammen. „Hab ich Dir weh getan? Entschuldige.“
„Nein, es kitzelt“, sagte Wyveria.
„Ach so.“ Miranda rieb weiter, und Wyveria zuckte wieder. „Du musst stillhalten, auch wenn es kitzelt“, sagte Miranda, „dann geht es am schnellsten.“ Mit einer Hand hielt sie Wyveria am Rücken fest, damit sie nicht so viel herumzappelte, mit der anderen rieb sie das Bein ab.
Schließlich war die alte Schuppenhaut am Bein komplett abgerieben, und die neuen Schuppen glänzten, noch schöner als die Alten. „Ich glaube, wenn wir fertig sind, wirst Du toll aussehen“, sagte Miranda. Dann machte sie mit dem anderen Vorderbein weiter.
Inzwischen war es draußen ganz dunkel geworden. Miranda erinnerte sich daran, dass sie noch die Hexenlehrerin anrufen musste. Miranda nahm ihre Kristallkugel und stellte sie auf den Tisch. Sie setzte sich davor, rieb an der Kugel und sagte den passenden Zauberspruch. Während sie zauberte, schien sich ein golden leuchtender Nebel im Inneren der Kugel zu bilden, der schließlich die ganze Kugel ausfüllte. Wyveria, die Miranda auf den Tisch gesetzt hatte, schaute neugierig hinein. Der Nebel wirbelte in der Kugel herum, dann wurde sie plötzlich ganz klar und das Gesicht der Hexenlehrerin erschien.
„Hallo Miranda, was ist denn?“, fragte sie.
„Es tut mir sehr Leid“, sagte Miranda, „aber ich fürchte, ich kann nicht in die Schule kommen. Wyveria geht es nicht gut. Sie häutet sich.“
„Sie häutet sich? Ich hoffe, es tut nicht weh.“
„Nein, aber es ist wohl sehr unangenehm und juckt. Ich helfe ihr dabei, die alte Haut loszuwerden.“
„Na gut. Du darfst heute zu Hause bleiben. Aber du musst alles nacharbeiten, was wir heute durchnehmen.“
„Natürlich, das mache ich ganz bestimmt. Vielen Dank und bis morgen.“ Miranda rieb wieder über die Kugel und das Gesicht der Lehrerin verschwand.
Danach ging es weiter mit Wyverias Schuppen. Miranda rieb und rieb die alte Haut ab, und überall dort, wo sie es geschafft hatte, glänzte die neue Schuppenhaut in einem wundervollen Bronzeton. Schließlich war sie an Wyveria Kopf angelangt.
„Mach die Augen zu“, sagte sie schließlich und entfernte dann auch noch die alte Haut von Wyverias schuppigen Augenlidern. Ganz brav hielt Wyveria still. Dann hatten sie es endlich geschafft. Der ganze Boden war übersät mit Wyverias alter, zerfetzter Haut. Miranda begann, sie zusammenzufegen, während Wyveria ihren Kopf in alle Richtungen drehte und zufrieden an sich herunterschaute. „Hunger!“, sagte sie dann. Während sie fraß, sorgte Miranda noch weiter für Ordnung, dann setzte sie sich, ein wenig erschöpft, in den Sessel. Wyveria kletterte auf ihren Schoß, rieb ihren Kopf an Mirandas Kinn und schloss die Augen. Nach kurzer Zeit war sie eingeschlafen.
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