Grimbolds Geschichte
Wyverias Drachenprüfung war vorbei, und die meisten Drachen schwangen sich in die Luft und flogen davon. Einer aber flog hinunter zu Miranda und ihren Freundinnen.
„Ich bin Varnia“, stellte die Drachin sich vor. Sie war groß, mit hellen, grünen Schuppen, die im Sonnenlicht glänzten. Varnia drehte ihren Kopf auf ihren Rücken und holte etwas zwischen ihren Flügeln hervor. Als sie den Kopf senkte, sah Miranda ein Drachenkind, kaum größer als Wyveria es direkt nach dem Schlüpfen gewesen war. „Das ist Perlauge, meine Tochter. Sie möchte Dich gern kennenlernen“, sagte Varnia, zu Wyveria gewandt. Varnia setzte Perlauge vorsichtig auf den Boden. Perlauge war ebenfalls grün, noch heller als Varnia, doch das auffallendste an ihr waren ihre Augen, die weißlich waren, aber wie Perlen in allen Farben schimmerten und funkelten.
Wyveria ging zu Perlauge und legte sich hin, so dass ihr Kopf auf gleicher Höhe mit Perlauges Kopf war. Dann schauten sich die beiden tief in die Augen und rührten sich nicht mehr. Anscheinend unterhielten sie sich auf Drachenart miteinander, so, dass nur sie es hören konnten.
Miranda hörte erneut das Schlagen von Drachenschwingen und spürte den Wind von Drachenflügeln. Als sie aufblickte, sah sie Krallenschwinge. „Ich danke dir, dass ich Wyveria behalten darf“, sagte Miranda.
„Du hast die Drachenprüfung bestanden, und Dein Verhalten hat gezeigt, dass sie bei Dir gut aufgehoben ist. Wir vertrauen Dir.“
„Ich glaube, nicht alle Drachen vertrauen mir“, erwiderte Miranda. Nahezu alle Drachen waren inzwischen davongeflogen, doch auf einer der Steinstufen saß immer noch Grimbold und schaute auf die Gruppe hinunter.
Krallenschwinge stieß einen leisen Seufzer aus. „Du musst Grimbold verstehen“, sagte sie, „er hat einen guten Grund, Menschen zu misstrauen, besonders, wenn sie Drachen aufziehen.“ Krallenschwinge wandte den Kopf zu Grimbold und anscheinend rief sie ihn zu sich, denn Grimbold faltete seine Schwingen auseinander und glitt auf den Boden herunter. Er landete direkt vor Miranda und richtete sich zu seiner vollen Größe auf, als wolle er sie einschüchtern, während er auf sie hinunterschaute. Für einen Moment bekam Miranda Angst, doch dann sagte sie sich, dass sie hier bei Krallenschwinge sicher war.
Plötzlich aber senkte Grimbold den Kopf, legte sich auf die Vordertatzen nieder und ließ den Kopf in den Sand sinken, so dass seine und Mirandas Augen auf gleicher Höhe waren. Dann begann er zu erzählen:
„Vor langer Zeit, etwa 150 Jahren, geschah es, dass aus einem Nest am Rand des Drachenlandes, in dem ein Drachenei ausgebrütet wurde, das Drachenei verschwand. Die Drachenmutter war nur kurz weggeflogen, um Futter zu suchen. Niemand konnte sich erklären, wie es dazu kommen konnte, und die Drachen suchten lange im ganzen Drachenland nach dem verlorenen Ei, konnten es aber nicht finden. Einige Wochen später spürten wir, dass irgendwo auf der Welt ein Drachenkind geschlüpft war.“
„Sagtest Du wir?“, fragte Miranda. „Aber das ist doch schon sehr lange her.“
„Ja, aber Drachen werden sehr alt, viel älter als Menschen. Die meisten der Drachen, die Du heute hier gesehen hast, haben auch damals schon gelebt. Wir also spürten, dass ein Drachenkind geschlüpft war, so wie wir es auch bei Wyveria gespürt haben. Eine weitere Suche begann, die lange dauerte und schwierig war, denn immer wieder schien es uns, als würde das Drachenkind vor uns verborgen werden.
Schließlich aber fanden wir das Drachenkind in einer Höhle in den Bergen weit im Norden, doch es war nicht allein. Ein mächtiger Zauberer bewachte es und hinderte uns mit seiner Magie daran, es mitzunehmen. Wir warteten vor der Höhle, lange Zeit, viele Jahre lang, immer in der Hoffnung, wir würden den Drachen eines Tages befreien können.
Dann, eines nachts, geschah es: Aus der Höhle drang ein furchtbarer Lärm zu uns und wir sahen Lichter aufblitzen, so als fände in der Höhle ein gewaltiger Kampf statt. Schließlich ertönte ein entsetzliches Brüllen und der Drache flog aus der Höhle heraus. Inzwischen war er ausgewachsen, doch er war ein furchtbarer Anblick, denn er war vollkommen schwarz, nur seine Augen leuchteten rot, und sein Feuer war kalt wie Eis. Nicht nur seine Schuppen waren schwarz, sondern auch sein Herz, denn er stürzte sich auf uns, die wir dort Wache hielten, und kämpfte mit uns. Seiner Kraft und seinem kalten Feuer vermochten wir nicht stand zu halten, und so besiegte er uns und flog in die Nacht hinaus. Seitdem gibt es auf der Welt einen finsteren und bösen Drachen, und all das geschah nur, weil ein Drache nicht von Wesen seiner Art, sondern von Menschen großgezogen wurde.“
Miranda hatte wie gebannt zugehört, und als sie von dem schwarzen Drachen gehört hatte, hatte sie ein wenig Angst bekommen. Sie begriff nun, warum Grimbold so abweisend zu ihr gewesen war – nicht, weil er selbst böse war, sondern weil er Angst hatte, auch Wyveria könne zu einem bösen Drachen werden. „Ich werde alles tun, um Wyveria zu einem guten Drachen zu erziehen“, versprach sie, und dann wusste sie, was sie sagen musste: „Willst du nicht ab und zu zu uns kommen und nach Wyveria sehen, damit du weißt, dass es ihr gut geht?“
Netti schaute Miranda etwas ängstlich an; der Gedanke, dass Grimbold sie besuchen würde, schien ihr nicht zu gefallen. Doch dann begann der ernste Grimbold plötzlich zu lächeln und er richtete sich auf und schaute auf Miranda hinunter: „Das werde ich tun. Lebe wohl, kleine, mutige Hexe.“ Mit diesen Worten machte er einen Satz und flog davon.
Wyveria und Perlauge schauten sich immer noch in die Augen. Eine ganze Weile verging und Miranda und ihre Freudinnen setzten sich in den Sand. Erst jetzt merkten sie, wie erschöpft sie waren, und nach all der Aufregung war es nicht verwunderlich, dass sie eindösten.
Miranda erwachte, als Wyveria sie anstupste: „Perlauge und ich haben uns zu Ende unterhalten.“
„Worüber habt ihr denn geredet?“, wollte Miranda neugierig wissen, doch Wyveria antwortete nur: „Alles.“ Mehr war aus ihr nicht herauszubekommen.
„Willst du vielleicht noch mit ihr spielen?“, fragte Miranda weiter.
„Nein, dafür ist sie zu klein“, sagte Wyveria.
Varnia hatte zusammen mit Krallenschwinge gewartet. Jetzt nahm sie Perlauge vorsichtig auf, setzte sie auf ihren Rücken und flog ebenfalls davon.
„Ich glaube, wir sollten auch nach Hause fliegen“, sagte Draconia. Damit waren alle einverstanden. Sie stiegen auf ihre Besen und flogen davon. Krallenschwinge flog noch ein wenig neben ihnen her, bis sie schließlich die Grenze des Drachenlandes erreichten und sich verabschieden mussten.
„Vielen Dank für deine Hilfe“, sagte Miranda noch einmal, „und auf Wiedersehen.“
„Wir werden uns bestimmt wiedersehen“, erwiderte Krallenschwinge und dann flog sie zurück in ihre Heimat.
Nachbemerkung: Das war das zweite Miranda-Buch. Morgen fällt die Geschichte leider aus, ab Übermorgen geht es dann weiter.
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