Wyverias Schatz
Einige Tage waren vergangen, als Miranda eines abends in ihrer Küche stand, um sich einen Hexentee zu kochen. „Nanu?“, wunderte sie sich. „Wo sind denn die silbernen Löffel geblieben?“ Sie suchte in der Schublade herum, in der die Silberlöffel liegen sollten, mit denen sie den Hexentee umrühren musste, damit er richtig gut schmeckte, aber sie waren verschwunden. „Seltsam. Habe ich sie irgendwohin weggeräumt?“ Miranda konnte sich nicht erinnern, die Löffel weggelegt zu haben, aber sie blieben verschwunden. Miranda suchte noch eine Weile, dann gab sie es auf. Der Hexentee war inzwischen kalt geworden. „Komm, Wyveria, wir müssen zur Schule“, sagte sie und die beiden machten sich auf den Weg.
In der ersten Stunde sollten die Kinder wieder Zaubertränke brauen. Als die Lehrerin das sagte, stand Wyveria von ihrem Stuhl auf und ging zur Tür.
„Nanu, wo willst Du denn hin?“, fragte Miranda.
„Zaubertränke brauen ist doof, weil ich keine Hände habe“, antwortete Wyveria und stolzierte zur Tür hinaus. Miranda schüttelte etwas verwirrt den Kopf und begann dann, die Zutaten für ihren Trank zusammenzusuchen.
Als Miranda in der großen Pause nach draußen ging, saß Wyveria vor der Hexenschule. „Na, was hast Du gemacht?“, fragte Miranda.
„Nichts“, antwortete Wyveria kurz angebunden.
„Ist alles in Ordnung mit Dir?“, wollte Miranda wissen.
„Ja. Lass uns etwas essen.“ Also holte Miranda ihr Pausenbrot und Wyverias Pausenfleisch heraus und die beiden setzten sich auf eine Bank, um zu essen. Dann tobten sie noch eine Weile auf dem Schulhof herum, bis die Pause zu Ende war.
„Welches Fach ist jetzt dran?“, wollte Wyveria wissen.
„Schreiben“, sagte Miranda.
„Schreiben kann ich nicht lernen, ich hab keine Hände. Ich bleibe wieder draußen, bis ihr etwas richtiges lernt.“
„Ist gut“, sagte Miranda, immer noch etwas verwundert, und ging hinein.
Als der Unterricht wieder begann, schaute die Hexenlehrerin streng in die Runde. „Wer von Euch hat die goldene Zauberkugel genommen?“, fragte sie.
„Die große Zauberkugel aus dem Studierzimmer?“, fragte Draconia.
„Ja, genau die. Sie ist verschwunden. Und ein Zauberstab der Klasse Sechs fehlt auch. Hat jemand von Euch die Sachen genommen?“
Alle Kinder schüttelten den Kopf, auch Miranda. Dann aber kam ihr ein Verdacht: Erst fehlten die Silberlöffel bei ihr zu Hause, jetzt auch noch kostbare Gegenstände in der Hexenschule. Sollte etwa Wyveria dahinterstecken? Aber warum würde sie Dinge stehlen?
Miranda überlegte, was sie tun sollte. Musste sie der Hexenlehrerin von ihrem Verdacht erzählen? Aber würde das nicht heißen, Wyveria zu verpetzen? Auf der anderen Seite war es natürlich Unrecht von Wyveria, einfach Dinge zu stehlen.
„Vielleicht hat jemand die Sachen nur versteckt“, sagte Miranda dann. „Wir könnten sie ja suchen.“
„Versteckt, soso?“ Die Hexenlehrerin schaute Miranda streng an. „Weißt du etwas darüber?“
„Nein“, antwortete Miranda, und das war ja auch die Wahrheit. Wissen tat sie schließlich nichts, sie hatte nur einen Verdacht.
„Also gut, wenn ihr alle sagt, dass ihr die Sachen nicht genommen habt, dann suchen wir“, sagte die Hexenlehrerin.
Die Kinder sprangen auf und machten sich auf die Suche nach den Zaubergegenständen. Miranda ging nach draußen, denn dort hatte sie Wyveria ja zuletzt gesehen. „Wyveria, wo bist Du?“, dachte sie so deutlich sie konnte, aber es kam keine Antwort. Miranda ging um die Schule herum. Hinter der Schule stand ein Holzschuppen, in dem die Hexenlehrerin ihre Gartengeräte aufbewahrte. Der Schuppen lehnte sich fast ans Schulgebäude, mit nur einem schmalen Zwischenraum. Als Miranda hinter den Schuppen guckte, kam Wyveria heraus.
„Was machst Du denn hier?“, fragte Miranda.
„Nichts“, antwortete Wyveria wieder und ging davon. „Lass uns reingehen“, sagte sie dann, schaute sich aber immer wieder nach Miranda um.
„Hast Du die Sachen aus der Schule gestohlen?“, fragte Miranda streng. Aber Wyveria antwortete nicht. Miranda bückte sich und zwängte sich hinter den Schuppen.
„Geh da nicht hin“, rief Wyveria telepathisch, und sie klang sehr aufgeregt.
„Warum denn nicht?“
„Weil, ähh, – weil da ganz eklige Spinnen sind.“
„Ich hab doch keine Angst vor Spinnen“, lachte Miranda und krabbelte weiter. Natürlich war es finster, und so nahm sie ihren Zauberstab und zauberte sich ein Hexenlicht. Kaum erstrahlte der Lichtschein an der Spitze ihres Zauberstabs, da sah Miranda auch schon ein Glitzern vor sich. In einer Mulde am Boden lagen ihre Silberlöffel, die Goldkugel und auch der vermisste Zauberstab.
Doch bevor sie nach ihnen greifen konnte, war Wyveria da. Sie riss ihr Maul auf und zischte wütend.
„Das ist mein Schatz. Er gehört mir.“
„Dein Schatz? Die Silberlöffel gehören mir, und die anderen Sachen gehören der Schule. Du kannst sie doch nicht einfach stehlen, um einen Schatz zu haben.“
„Ich bin ein Drache. Ein Drache muss einen Schatz haben“, erklärte Wyveria.
„Warum das denn? Du wolltest doch bisher auch keine Schätze?“
„Ich weiß nicht, aber seit ein paar Tagen denke ich immer nur an Silber, Gold und andere Schätze. Deshalb habe ich die Sachen genommen.“
„Was willst du denn mit dem Schatz? Willst du etwas kaufen?“
„Nein. Ein Drache liegt auf seinem Schatz. Das tut gut – warum, weiß ich nicht.“
„Hmmm. Also von mir aus kannst Du die Silberlöffel behalten, wenn sie dir so wichtig sind, aber die anderen Sachen müssen wir zurückgeben. Die gehören der Schule.“
„Na gut.“ Wyveria guckte schuldbewusst zu Boden und war ganz kleinlaut, als Miranda mit ihr in die Schule und zur Hexenlehrerin ging.
„Ich habe die Sachen wiedergefunden“, sagte Miranda. „Wyveria hatte sie genommen.“
„Wyveria?“, fragte die Hexenlehrerin. „Ach, natürlich, das hätte ich mir denken können. Drachen lieben Schätze, nicht wahr, Wyveria?“ Wyveria nickte. „Aber du darfst keine Schätze nehmen, die dir nicht gehören, auch wenn du ein Drache bist. Ist das klar?“ Die Stimme der Lehrerin klang sehr streng, als sie das sagte, und Wyveria nickte nur.
„Gut. Warte hier.“ Die Hexenlehrerin rief die anderen Schülerinnen zusammen und alle versammelten sich wieder im Klassenraum und setzten sich auf ihre Plätze. „Wyveria hat die vermissten Sachen genommen. Sie ist eben ein Drache, und Drachen werden von Schätzen angezogen.“ Sie ging zu Wyveria hin und griff in ihre Tasche. „Die Goldkugel kann ich dir nicht geben, sie ist zu wertvoll und wir brauchen sie zum Zaubern. Aber hier habe ich etwas für dich.“ Mit diesen Worten legte sie zwei kleine Goldmünzen auf Wyverias Tisch.
„Danke“, sagte Wyveria erstaunt.
„Magst du wirklich so gern Schätze?“, fragte Draconia. „Vielleicht magst du ja auch das hier.“ Draconia ging zu Wyveria und nahm eine silberne Kette mit einem glitzernden Stein daran von ihrem Hals. Auch Esmeralda stand auf. „Es ist zwar kein richtiger Schatz, aber vielleicht magst du meinen Stift? Er ist aus Silber.“ Wyveria schnupperte an Draconias Kette und Esmeraldas Stift. „Schatz!“, sagte sie erfreut, und dann sagte sie „Danke.“
Als die anderen Kinder es hörten, standen noch einige von ihnen auf und legten kleine Schmuckstücke auf Wyverias Tisch. Und so hatte sie schließlich noch eine Brosche, eine silberne Münze und zwei Ringe vor sich liegen. „Schatz!“, sagte Wyveria noch einmal begeistert. „Ich danke euch allen.“ Vorsichtig nahm sie alle Schätze in ihr Maul und verschwand nach Draußen, um sie zu verstecken.
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