Der erste Frost
Es war dunkel und kalt. Miranda wusste nicht, wo sie war, und sie hatte Angst. Dann plötzlich hörte sie Wyverias Stimme in ihrem Kopf, laut und schrill: „Hilfe, Hilfe!“ Aber wo war Wyveria? Miranda tastete umher, denn es war zu dunkel, um etwas zu sehen. Sie wurde immer verzweifelter und dann, mit einem Schlag, wachte sie auf.
‘Nur ein böser Traum!’, dachte sie für einen Moment. doch da hörte sie wieder Wyverias telepathische Rufe: „Hilfe! Es ist so kalt!“ Wyveria lag neben Miranda im Bett, hatte die Augen geschlossen und zitterte am ganzen Körper.
Miranda rüttelte sie vorsichtig an ihrer Schulter. „Wyveria, wach auf, es ist alles in Ordnung!“ Wyveria öffnete die Augen und ihr Kopf ruckte in die Höhe. „Miranda?“
„Ja, ich bin hier. Es ist alles in Ordnung“, sagte Miranda wieder beruhigend.
„Ich habe geträumt“, sagte Wyveria. „Ich war in einem Käfig aus Eis, in einer großen Höhle, und vor mir war ein schwarzer Drache. Er sah mich an, mit bösen Augen, und dann öffnete er seinen Rachen und spuckte kaltes Feuer auf mich, um mich einzufrieren.“
„Aber jetzt ist alles wieder gut“, sagte Miranda. „Grimbold hat uns von so einem Drachen erzählt, als wir im Drachenland waren, weißt Du noch? Vielleicht hast du dich im Traum an diese Geschichte erinnert.“
„Vielleicht.“ Wyveria machte eine Pause. „Mir ist immer noch kalt“, sagte sie dann kläglich. Jetzt erst merkte auch Miranda, wie eisig es im Zimmer war.
„Es ist wirklich kalt hier“, sagte sie und schob den Vorhang am Fenster zur Seite. Draußen waren alle Bäume und das Gras mit Reif überzogen. „So viel Eis da draußen. Dabei haben wir erst November. Der Winter kommt aber früh dieses Jahr.“
„Kalt!“, beschwerte Wyveria sich wieder.
„Warte, ich mach dir eine Wärmflasche.“ Miranda kletterte aus dem Bett, zog sich schnell einen warmen Pullover über, denn es war wirklich kalt in ihrer Hexenstube, und ging zum Herd, um Wasser heißzumachen. Als der Kessel endlich pfiff, füllte sie die Wärmflasche voll. Sie war so heiß, dass Miranda sie kaum anfassen konnte, aber sie wusste ja, dass Wyveria die Hitze liebte. Miranda kletterte wieder in ihr Bett. Wyveria hatte sich unter die Bettdecke verkrochen und ihren Schwanz um sich herumgewickelt.
„Danke“, sagte Wyveria, als Miranda ihr die Wärmflasche unter den Bauch schob. Dann kuschelten sich die beiden aneinander und schliefen wieder ein.
Als sie am Abend aufwachten, dachten sie kaum noch an Wyverias Traum. Kalt aber war es draußen immer noch. Miranda kramte ihre warmen Wintersachen heraus. „Für dich habe ich keine warmen Sachen“, überlegte sie. Sie holte eine Wolldecke aus dem Schrank und legte sie in den Korb an ihrem Besen, damit Wyveria nicht fror. Als sie in der Schule ankamen, war die Kälte aber schnell wieder vergessen, denn Miranda fiel etwas anderes ein: „Heute ist Klassenarbeit“, sagte sie.
„Was ist das denn?“, fragte Wyveria neugierig.
„Die Lehrerin prüft uns, ob wir alles richtig können und gut gelernt haben.“
„So ähnlich wie eine Drachenprüfung?“
„Ja, ein bisschen.“
Da es draußen viel zu kalt für Wyveria war, blieb sie auf ihrem Platz, als die Lehrerin die Klassenarbeit austeilte. Miranda nahm einen Stift, schaute sich die Fragen an und begann zu schreiben.
Wyveria schaute über Mirandas Schulter und las auch.
„ ‘Welche fünf Zutaten braucht man für einen Schlaftrank?’ “, las sie.
„Miranda, ich verstehe nicht, wozu die Klassenarbeit gut ist“, fragte sie telepathisch, so, dass nur Miranda sie hören konnte.
„Die Lehrerin will wissen, ob wir alles gelernt haben.“
„Aha.“ Wyveria machte eine Pause und dachte nach. „Aber wieso? Sie hat es euch doch erklärt.“
„Ja, aber sie will wissen, ob wir es auch behalten haben.“
„Aha.“ Wieder machte Wyveria eine Pause. „Was heißt denn behalten?“
„Na, ob wir es immer noch wissen“, antwortete Miranda etwas ungeduldig, denn sie wollte mit der Arbeit weitermachen
„Aha.“ Wieder gab es eine kleine Pause. „Aber sie hat es euch doch erklärt.“
„Ja.“ Mirandas Stimme war noch ungeduldiger, als sie antwortete. „ Aber wir könnten es ja wieder vergessen haben.“
„Aha.“ Miranda hoffte, dass Wyveria nun Ruhe geben würde, aber nach einem Moment begann sie von neuem. „Miranda, was heißt denn vergessen?“
„Was vergessen heißt? Das ist aber eine blöde Frage. Wenn man etwas nicht mehr weiß, was man mal gewusst hat. Und nun lass mich bitte schreiben.“
„Aha.“ antwortete Wyveria wieder. Dann sagte sie nichts mehr, und Miranda begann, die Zutaten für den Schlaftrank aufzuschreiben. Sie überlegte. Pfefferminzblätter gehörten dazu. Da wurde sie wieder unterbrochen. „Miranda, Drachen vergessen nie etwas.“
„Was soll das heißen, du vergisst nie etwas?“
„Ich kann mich an alles erinnern, was ich erlebt habe.“
„Das gibt es nicht“, sagte Miranda. „Dann sag mir doch die Zutaten für den Schlaftrank.“
„Eichenblätter, Königskrautblätter, im Mondlicht geschöpftes Quellwasser, Bergkristallpulver, Pfefferminzblätter. Soll ich dir auch sagen, wie man ihn zubereitet?“
„Hast du dir das wirklich gemerkt?“ Miranda staunte. „Und was habe ich als erstes zu dir gesagt, als du aus dem Ei geschlüpft bist?“
„Du hast gesagt ‘Hallo Drachenbaby. Ich bin Miranda.’ “
Miranda konnte sich noch gut an den Moment erinnern, als sie Wyveria aufgefangen hatte, damit sie nicht in die Lava fiel, auf der sie das Ei ausgebrütet hatten. „Stimmt, das habe ich gesagt. Kannst du dich wirklich immer an alles erinnern?“
„Natürlich“, antwortete Wyveria.
„Dann hast du deshalb so schnell Lesen gelernt. Du könntest mir ja die ganze Klassenarbeit vorsagen.“
„Soll ich?“, fragte Wyveria.
„Nein, das wäre geschummelt“, sagte Miranda. „Ich versuche es lieber allein.“ Miranda wandte ihren Blick wieder zu ihrer Arbeit, aber da sah sie, dass die Hexenlehrerin vor ihr stand.
„Miranda, was macht ihr zwei da?“ Der Hexenlehrerin war es nicht entgangen, dass Miranda und Wyveria miteinander geredet hatten. Obwohl sie es natürlich nicht hatte hören können, hatte sie gesehen, wie die beiden sich ansahen.
„Äh, ich habe Wyveria erklärt, was eine Klassenarbeit ist, aber sie hat es nicht verstanden, weil Drachen nie etwas vergessen.“
„Ist das so?“, fragte die Lehrerin. „Das nennt man ein photographisches Gedächtnis. Ich wusste nicht, dass Drachen so etwas besitzen. Aber du darfst Miranda nicht die Arbeit vorsagen, denn sie muss die Dinge auch selbst lernen.“
„Ist gut“, sagte Wyveria, diesmal so, dass auch die Lehrerin es hörte.
Miranda wandte sich wieder ihrer Klassenarbeit zu. Als sie überlegte, wie der Zauberspruch lautete, mit dem man die Farbe eines Gegenstandes verändern konnte, fiel ihr etwas ein. „Wyveria“, dachte sie, „wenn ich dir die Zaubersprüche aus meinen Zauberbüchern vorlese, vergisst du die dann auch nie?“
„Natürlich nicht.“
„Das ist toll. Solange du bei mir bist, brauche ich keine Zauberbücher mehr.“
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