Noch einmal der Schatz
Am nächsten Tag war es noch kälter geworden. Als Miranda nach dem Aufwachen aus dem Fenster schaute, sah sie, dass es geschneit hatte. „Das ist aber wirklich ein früher Winter dieses Jahr“, sagte sie zu Wyveria. Wie schon am Tag zuvor packte sie sich und Wyveria warm ein, bevor sie nach draußen gingen. Wyveria verkroch sich im Besen unter ihre Decke, und Miranda flog los.
Sie war noch dicht an ihrem Haus, als sie am Boden etwas Merkwürdiges sah: „Schau mal, Wyveria, da unten ist der Schnee ganz plattgedrückt.“ Wyveria steckte kurz ihren Kopf unter der Decke hervor und schielte nach unten. „Das muss aber etwas Großes gewesen sein.“
„Das will ich mir ansehen“, sagte Miranda und landete. Der Schnee war tatsächlich plattgetreten und voller verwischter Abdrücke. „Hier muss irgendetwas Großes gewesen sein“, sagte Miranda, „aber es ist seltsam, es führen gar keine Spuren weg von hier.“
„Vielleicht war es ein Flugzeug?“, fragte Wyveria.
„Nein, die brauchen viel mehr Platz zum Landen. Höchstens ein Hubschrauber, aber das wäre schon ein ziemlich großer Hubschrauber, wenn er soviel Schnee plattdrücken würde. Außerdem hätten wir ihn gehört, wenn er hier herumknattert.“
„Mir ist kalt“, sagte Wyveria.
„Ja, wir fliegen gleich los. Ich schaue mich nur noch einen Moment um.“ Miranda ging im Schnee umher und suchte nach deutlicheren Spuren. „Was ist denn das?“, fragte sie plötzlich. Vor ihr im Schnee war ein großer, deutlicher Fußabdruck zu sehen. Er war so lang, dass Miranda sich hätte hineinsetzen können, und er hatte vorn vier Spitzen wie von Krallen. „Das muss ein Drachenfussabdruck sein“, sagte sie nach kurzem Überlegen. „Aber wieso war ein Drache bei uns?“
„Ein Drache?“, fragte Wyveria verwundert. „Warum hat er mich dann nicht besucht?“
„Verstehe ich auch nicht.“
„Lass uns weiterfliegen“, bat Wyveria. „Mir ist kalt. Ich mag keinen Winter.“
Zum Glück waren sie bald in der Schule, wo die Hexenlehrerin gut geheizt hatte. Warum der Winter dieses Jahr so früh kam, konnte die Lehrerin aber auch nicht sagen: „So ist das Wetter eben“, meinte sie nur, als Miranda sie fragte.
Als schließlich der Unterricht zu Ende war, sagte die Hexenlehrerin: „So, Kinder, das war’s für heute. Morgen braucht ihr nicht zu kommen, morgen ist schulfrei.“
„Schulfrei? Toll, dann können wir die ganze Nacht im Schnee spielen“, sagte Draconia. Miranda aber war neugierig: „Wieso fällt denn die Schule aus? Es ist doch kein Feiertag, oder?“
„Nein, ist es nicht. Die Schule muss aber trotzdem ausfallen, denn ich muss dringend für eine Nacht verreisen.“
„Wohin denn?“, fragte Miranda weiter.
„Darum brauchst du dich nicht zu kümmern“, sagte die Hexenlehrerin nur und ging hinaus, als wollte sie verhindern, dass sie noch weiter ausgefragt würde.
„Das ist aber seltsam“, sagte Miranda. „Hast du eine Idee, wohin die Lehrerin verreisen will?“, fragte sie Draconia, aber die zuckte nur mit den Schultern. „Wir gehen jetzt in den Schnee. Kommst du mit?“
„Nein, das geht nicht. Wyveria ist es im Schnee viel zu kalt.“
„Na gut, dann bis übermorgen.“ Die Hexenkinder stiegen auf ihre Besen und flogen los. Als Miranda und Wyveria schon halb zu Hause waren, schrie Wyveria plötzlich entsetzt auf: „Miranda!“, dröhnte es in Mirandas Kopf.
„Was ist denn los?“
„Mein Schatz. Er ist immer noch hinter der Schule. Wir müssen ihn vor der Kälte retten.“
„Du hast recht. Dem Schatz passiert zwar in der Kälte nichts, aber drauf sitzen kannst du jedenfalls nicht, solange das Wetter so schlecht ist.“
Also drehte Miranda um und machte sich auf den Rückweg zur Schule. Zusammen mit Wyveria krabbelte sie hinter das Schulgebäude. „Kalt!“, beschwerte sich Wyveria, als ihre Füße den Schnee berührten.
Auch zwischen dem Schuppen und der der Hexenschule lag viel Schnee, den der scharfe Wind dorthin geweht hatte. „Wo genau ist denn dein Schatz?“, fragte Miranda. Wyveria schaute umher und überlegte. „Es sieht alles ganz anders aus mit soviel Schnee. Außerdem ist mir kalt. Hier etwa, glaube ich.“
Miranda leuchtete mit ihrem Zauberlicht, das sie sich wieder an die Spitze ihres Zauberstabs gesetzt hatte, während Wyveria umherspähte und ab und zu schnüffelte. „Hier“, sagte Wyveria dann und zeigte auf eine kleine Kuhle im Boden, die ganz mit Schnee angefüllt war. Sie begann, mit ihren Vordertatzen zu graben. „Kalt!“, sagte sie erneut.
„Warte, ich helfe dir.“ Miranda half Wyveria, vorsichtig den Schnee zur Seite zu schaufeln, um die Schätze zu bergen. „Hier ist schon mal etwas“, sagte sie und hob eine Goldmünze auf. Dann fand sie auch die anderen Sachen, nur die Kette fehlte. Wyveria nahm die Schätze, die sie bereits gefunden hatten, und setzte sich darauf, während Miranda weiter den Schnee zur Seite schob. Es dauerte noch eine Weile, dann hatte sie die Kette gefunden. „Hier ist sie!“, rief sie. Doch als sie sie aufheben wollte, merkte sie, dass die Kette am Boden festgefroren war. Vorsichtig zog Miranda an der Kette, aber sie konnte sie nicht lösen. „Kannst du es vielleicht mit Feuer versuchen?“, fragte sie Wyveria. Diese antwortete nicht. „Das heißt dann wohl nein“, sagte Miranda und versuchte es weiter. Schließlich fiel ihr etwas ein: Sie holte ihr Taschenmesser heraus und hackte damit vorsichtig ins Eis. Ihre Finger
wurden dabei ganz steif vor Kälte, so dass es gar nicht so leicht war, das Eis aufzuhacken. Außerdem musste sie aufpassen, nicht mit dem Taschenmesser die Kette zu zerkratzen. So dauerte es eine ganze Weile, bis sie die Kette endlich befreit hatte.
„So, das hätten wir. Jetzt aber nichts wie nach Hause“, sagte sie zu Wyveria. Wyveria antwortete nicht. Sie saß immer noch ganz still auf ihren Schätzen ohne sich zu rühren. „Wyveria? Alles in Ordnung?“
Wyveria gab keine Antwort. Miranda bekam es mit der Angst zu tun. War Wyveria eingeschlafen? Schnell krabbelte sie zu ihr hin und schüttelte sie, um sie zu wecken. Wyverias Schuppen fühlten sich eisig an. „Wyveria!“, rief Miranda ängstlich. Dann nahm sie sie vorsichtig auf den Arm und trug sie, so schnell sie konnte, zu ihrem Besen. Sie setzte sie hinein, hüllte sie in ihre Decke und flog mit höchster Geschwindigkeit nach Hause.
Dort angekommen nahm sie Wyveria behutsam aus dem Besen heraus und trug sie in ihre Wohnstube. Wyveria hatte die Augen geschlossen und rührte sich nicht, aber Miranda konnte fühlen, dass sie noch atmete.
„Du bist total unterkühlt“, sagte Miranda, obwohl sie wusste, das Wyveria sie nicht hören konnte. Sie trug sie ins Badezimmer und setzte sie in die Badewanne. Dann machte sie ein Feuer und machte Wasser heiß, so schnell es ging. Damit Wyveria sich nicht verbrannte, füllte sie zuerst nur lauwarmes Wasser in die Badewanne, dann tat sie immer mehr heißes Wasser hinzu. Wyveria rührte sich zunächst nicht, dann aber begann sie am ganzen Körper zu zittern. Miranda hoffte, dass das ein gutes Zeichen war.
Ängstlich wartete sie neben der Wanne und füllte ab und zu heißes Wasser nach. Jetzt war das Wasser schon so heiß, dass Miranda es nicht mehr anfassen konnte, aber sie wusste ja, dass Drachen große Hitze gern mochten. Miranda machte sich Vorwürfe, dass sie nicht gut genug auf Wyveria aufgepasst hatte. „Hoffentlich wacht sie bald auf“, dachte sie. „Warum habe ich sie auch auf dem Boden sitzen lassen? Ich hätte doch den Schatz auch allein suchen können. Und warum habe ich nicht gleich geguckt, ob alles in Ordnung ist, als sie mir nicht geantwortet hat?“ Je mehr Zeit verging, desto elender fühlte Miranda sich. Das einzige, was ihr Hoffnung machte, war, dass Wyveria immer stärker zitterte. Und da – hatte sie nicht gerade einen Flügel bewegt? „Wyveria?“, sagte Miranda.
Da, endlich, schlug Wyveria ihre Augen auf. „Wyveria!“, rief Miranda und wollte ihren Drachen umarmen, doch Wyveria saß bis zum Hals im heißen Wasser. „Geht es dir wieder besser?“
„Kalt! Mir war so kalt!“, beklagte sich Wyveria.
„Aber jetzt bist du wieder ganz warm, nicht wahr?“
„Hmmm“, sagte Wyveria und streckte sich im heißen Wasser aus. Sie schloss noch einen Moment die Augen, dann sagte sie „Jetzt bin ich wieder warm. Aber die Kälte draußen ist doof. Kannst du nicht etwas zaubern, damit ich nicht so friere?“
„Du weißt doch, dass Hexen keine Drachen verzaubern können. Erinnerst du dich noch ans Schwimmen? Da konnten wir dich auch nicht warmzaubern. Wir müssen dich einfach ganz warm einpacken, wenn der Winter so kalt ist. Beim nächsten mal bekommst du eine Wärmflasche in den Besen.“
„Das ist gut“, sagte Wyveria. Nachdem sie sich noch eine Weile aufgewärmt hatte, kletterte sie aus der Wanne und ließ sich von Miranda abtrocknen. Dann setzten sich die beiden an den Ofen, kuschelten sich dort aneinander und schliefen dabei ein.
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