Das Zentaurenfest
Kurze Zeit später waren die Zentauren mit Miranda in ihrem Dorf angekommen und begannen mit den Vorbereitungen für ein Fest. In der Mitte des Dorfplatzes war eine Feuerstelle, in der jetzt ein großes Feuer prasselte, denn es war hier zwar nicht winterkalt, aber die Nacht war kühl. Die Zentauren trugen Tische hinaus und stellten große Schalen darauf, in denen verschiedene Früchte und Gemüse lagen. Sie holten auch große Amphoren – Krüge, in denen sie Getränke aufbewahrten. Miranda schaute aufmerksam zu einem der Krüge und fragte sich, ob darin Zentaurenwein war.
Es dauerte nicht lange, und alle Vorbereitungen waren fertig. Die Zentauren versammelten sich um das Feuer. Natürlich hatten sie keine Stühle, denn sitzen konnten sie mit ihren Pferdekörpern ja nicht, aber einer von ihnen trug einen niedrigen Tisch heran, auf den Miranda sich setzen konnte. Hyppolytas Vater kam zu ihr und sagte „Ich bin Polymedes, und ich danke dir noch einmal für die Rettung meiner Tochter.“
„Ich bin Miranda“, stellte sie sich vor, „und ich habe euch gern geholfen.“
„Wir alle danken dir, Miranda“, sagte der ältere Zentaur mit dem grauen Bart. „Ich bin Cheiron, der Anführer dieses Dorfes. Du hast einen Zentauren gerettet, und dafür wollen wir dich nun ehren.“
Polymedes ging zu einem der großen Tische und brachte Miranda eine Schale, in die er die schönsten Früchte gelegt hatte, die er finden konnte. Dann nahm er einen silbernen Becher und schenkte ihr aus einer der Amphoren ein. Auch die anderen Zentauren nahmen ihre Becher und alle riefen gleichzeitig: „Wir ehren dich, Miranda“, und tranken.
Das Getränk schmeckte köstlich, zumal Miranda inzwischen auch großen Durst hatte, aber es war kein Wein, sondern ein Fruchtsaft. Doch Miranda hatte es ja nicht eilig und deshalb aß und trank sie mit den Zentauren. Hyppolyta stand neben ihr und auch sie bedankte sich immer wieder bei ihr. Sie erzählte, wie sie in Not geraten war:
„Ich wollte eigentlich nur ein bisschen spazieren gehen, und bin den Weg entlang gegangen. Natürlich weiß ich, dass man auf dem Weg vorsichtig sein muss und aufpassen muss, wohin man tritt. Ich ging also dort entlang, aber dann sah ich etwas ganz Schönes: Einen Schmetterling. Er hatte ganz leuchtende Farben, blau mit hellen goldenen Punkten, und in der Mitte waren die Punkte schwarz. Er flatterte direkt vor mir her, und ich streckte die Hand aus. Der Schmetterling setzte sich darauf – hast du schon einmal einen Schmetterling auf der Hand gehabt? Er war ganz leicht, ich konnte ihn kaum spüren. Und dann flog er wieder auf und ich wollte ihm hinterhergehen, und plötzlich passierte es: Mein rechter Hinterhuf rutschte ab und ich schlitterte den Hang hinunter. Ich fiel auf die Seite, genau hier“, sie zeigte auf ihre Flanke und Miranda konnte sehen, dass das dunkelbraune Fell dort aufgescheuert war. „Als ich endlich nicht mehr rutschte, war ich ganz unten am Hang. Ich rief um Hilfe, aber zuerst hörte mich keiner, und deshalb versuchte ich aufzustehen. Es war ziemlich schwierig, aber als ich endlich stand, war es noch schwieriger, vorwärts zu kommen. Und dann machte ich einen falschen Schritt und mein Vorderhuf war eingeklemmt, und ich konnte ihn nicht hinausziehen, weil ich nicht genug Kraft hatte. Und ich hatte solche Angst, dass ich dort für immer stehen bleiben müsste.“ Hyppolyta drehte sich zu Miranda und umarmte sie.
„Ich habe dir wirklich gern geholfen“, sagte Miranda.
Cheiron, der Dorfälteste, schaute sie ernst an. „Aber du bist sicher aus einem bestimmten Grund in unsere Berge gekommen, nicht wahr? Wolltest du etwas von den Zentauren?“
„Ja, eigentlich schon. Wisst Ihr, ich brauche Zentaurenwein.“
Als Miranda das Wort ‘Zentaurenwein’ ausgesprochen hatte, wurde es auf einen Schlag ganz still. Keiner der Zentauren sagte etwas und Miranda fragte sich, ob sie etwas falsch gemacht hatte. Dann sprach wieder Cheiron: „Das ist leider unmöglich. Zentaurenwein darf nicht an Menschen gegeben werden. Das ist ein altes Gesetz der Zentauren.“
„Ich will den Wein ja nicht für mich, ich will meiner Freundin Wyveria helfen. Sie ist ein Drache.“
„Ein Drache! Dann kennst du das Geheimnis des Zentaurenweins?“ Cheirons Stimme klang jetzt ein wenig grimmig.
„Ja, ich weiß, dass man damit Drachen verzaubern kann. Wyveria ist ein Drache, der bei mir wohnt, und ich will ihr helfen, weil es bei uns so kalt ist.“
„Vor langer Zeit, vor mehr als hundert Jahren, war schon einmal ein Mensch hier, der Zentaurenwein haben wollte. Damals gab es das Gesetz noch nicht, und wir gaben ihm den Wein, den er verlangte. Wir erhielten kostbare Geschenke dafür. Doch dann erfuhren wir, dass er den Wein verwendet hatte, um einen Drachen zu verzaubern und ihn böse zu machen. Seitdem gibt es das Gesetz und es ist unumstößlich.“
Miranda hatte gespannt zugehört. Sollte dieser Drache der Frostdrache gewesen sein, von dem ihr Grimbold erzählt hatte? Der Frostdrache war ja vor langer Zeit von einem bösen Zauberer verwandelt worden.
„Aber ich will doch einem Drachen helfen“, sagte Miranda.
„Es tut mir Leid. Ich würde dir gern helfen, aber wir dürfen unsere Gesetze nicht umstoßen, das wäre einfach nicht richtig“, sagte Cheiron. Er klang traurig dabei, aber auch sehr bestimmt.
„Ich werde dir den Wein geben“, sagte Polymedes. Alle Zentauren schauten ihn entsetzt an. „Ich muss es tun. Als sie Hyppolyta gerettet hat, habe ich ihr versprochen, ihr jeden Wunsch zu erfüllen.“
„Aber darfst du mir denn den Wein geben?“, fragte Miranda verwirrt.
„Nein, das darf er nicht“, sagte Cheiron ernst. „Wenn er dir den Wein gibt, dann werden wir ihn aus dem Dorf verstoßen müssen. So will es das Gesetz.“
„Nein, das will ich nicht. Dann muss ich eben ohne den Wein auskommen“, sagte Miranda. „Obwohl ich nicht weiß, was ich mit Wyveria tun soll, wenn es noch kälter wird. Und sie sollte mich doch ins Drachenland begleiten.“ Miranda wurde immer trauriger. Sie hatte so sehr auf den Zentaurenwein gehofft, aber nun konnte sie ihn nicht bekommen.
„Ich gebe dir den Wein“, sagte Polymedes bestimmt. „Ich habe es versprochen, und Versprechen muss man halten, egal was die Folgen sind.“
„Nein, das geht nicht. Ich würde immer ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich dich aus deinem Dorf vertrieben hätte“, antwortete Miranda.
Cheiron hatte den beiden zugehört, dann wandte er sich an einen der anderen Zentauren und flüsterte ihm etwas zu. Kurze Zeit später kam der Zentaur wieder zurück. Er hatte ein kleines Fass in den Händen.
Cheiron nahm das Fass und trat zu Miranda. „Du bist wirklich ein guter und selbstloser Mensch“, sagte er. „Ich kann unser Gesetz nicht brechen, aber wir können es vielleicht umgehen. In diesem Fass ist kein Zentaurenwein, aber Most. Wenn du ein paar Monate wartest, wird sich daraus Wein gebildet haben, und dann kannst du deinen Drachen verzaubern.“
„Ein paar Monate?“, fragte Miranda. Sie wusste nicht, ob sie so lange Zeit hatte, aber trotzdem war es besser als nichts. „Das ist sehr großzügig von dir“, sagte sie. „Ich werde gut auf das Fass aufpassen, damit niemand es stehlen kann.“
Miranda lud das Fass in den Korb in ihrem Besen. Für Neferti wurde es etwas eng, aber der Platz reichte gerade noch. Dann verabschiedete Miranda sich von den Zentauren. Hyppolyta umarmte sie noch einmal zum Abschied, Polymedes und Cheiron gaben ihr die Hand. Sie kletterte sie in ihren Besen, winkte den Zentauren und flog zurück nach Hause.
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