Der Hexenrat
Miranda und Wyveria lagen hinter einem Felsen und beobachteten den Hexenrat. Natürlich war Miranda noch nie bei einem Hexenrat gewesen, und sie hatte sich vorgestellt, er würde ähnlich sein wie der Drachenrat. Die Drachen hatten alle in einer großen Arena gesessen und einander und ihre Anführerin, Krallenschwinge, angeschaut. Bei den Hexen dagegen war alles ganz anders.
Die Hexen hatten viele kleine Lagerfeuer entzündet, und an jedem der Feuer saßen einige der Hexen und redeten leise miteinander. Miranda hoffte, dass bald eine der Hexen zu allen sprechen würde, damit sie etwas verstehen konnte. Zwischen den Lagerfeuern ging eine Hexe herum und machte Haken auf einer Liste.
„Es sind bestimmt über hundert Hexen“, sagte Miranda. Wyveria schwieg für einen Moment. „Hundertdreiundsiebzig“, sagte sie dann.
Die Hexe, die herumging, war anscheinend mit ihrer Liste fertig, denn sie setzte sich an eines der Lagerfeuer. Eine andere Hexe stand auf und Miranda erkannte zu ihrer Überraschung die Hexenlehrerin. War sie die Anführerin der Hexen?
„Liebe Freundinnen“, begann sie, „ich habe euch zum Rat gebeten, denn wir sind in großer Gefahr. Viele von euch haben in den letzten Nächten geträumt, von einem schwarzen Drachen, der in einer Eishöhle liegt.“ Einige der Hexen nickten, andere aber schüttelten den Kopf. „In meinem Traum“, fuhr die Hexenlehrerin fort, „sah ich den Drachen in seiner Eishöhle liegen. Er schien mich genau anzusehen, und seine kalten Augen schienen immer größer zu werden. Dann hörte ich seine Stimme. ‘Gebt mir das Drachenkind,’ sagte er zu mir, ‘gebt mir das Drachenkind Wyveria, oder ich werde eure Welt mit Eis überziehen und ihr werdet ewigen Winter haben.’“
Miranda schaute Wyveria entsetzt an und umarmte sie ängstlich. Wyverias Atem ging schnell und sie sagte „Miranda, ich habe Angst.“
Die Hexenlehrerin sprach weiter. „Ihr alle wisst, dass das Drachenkind Wyveria bei einer Hexe großgezogen wird.“ Sie erzählte den Hexen kurz von Miranda und dem Schatz der Medea und dann von der Drachenprüfung.
„Ich war vor einiger Zeit, als der Winter begann, im Drachenland, um mit den großen Drachen zu sprechen. Einer von ihnen sagte, er habe befürchtet, dass es ein Unheil geben könnte, wenn ein Drachenkind bei Menschen aufwächst. Doch die Drachen haben beschlossen, dass es nun zu spät ist, das Drachenkind ins Drachenland zurückzuholen, denn der Frostdrache wird seine Drohung trotzdem wahrmachen. Die Drachen haben beschlossen, Wyveria und Miranda zu schützen, und haben einen magischen Bannkreis gelegt, der die schlimmste Kälte und die Träume, die der Frostdrache sendet, abhalten kann.“
‘Das hat es also mit dem seltsamen Fünfeck auf sich,’ dachte Miranda. ‘Kein Wunder, dass es darin wärmer war als außerhalb.’
Die Hexenlehrerin fuhr ihre Erzählung fort. „Die Drachen sind in großer Sorge, denn sie können den Frostdrachen nicht bekämpfen. Er lebt auf der Insel Grönland in einer Höhle in den Bergen nordwestlich des Fenrisgletschers, und kein Drache kann dorthinfliegen, ohne zu erfrieren. Ihre Magie ist mächtig, aber Eis ist eines der Dinge, gegen die Drachen nur wenig Macht besitzen.“
Die Hexenlehrerin schwieg für einen Moment. Eine der Hexen sagte: „Dann müssen wir gegen den Frostdrachen kämpfen.“
„Die Drachen sagen, dass das nicht möglich ist“, antwortete die Hexenlehrerin. „Nur ein Drache kann einen Drachen im Kampf besiegen, und der Frostdrache ist sehr sehr mächtig.“
„Aber woher kommt der Frostdrache?“, fragte eine anderer Hexe.
„Vor einhundertfünfzig Jahren stahl ein Zauberer ein Drachenei aus dem Drachenland. Er brütete es aus und belegte den jungen Drachen mit einem Zauber. Wir wissen nicht, wie es ihm gelingen konnte, einen Drachen auf so schreckliche Art zu verzaubern.“ – ‘Ich weiß es aber’, dachte Miranda, ‘er hatte den Zentaurenwein.’ – „Die anderen Drachen versuchten, den jungen Drachen zu befreien, doch er war in einer Höhle gefangen, die vom Zauberer bewacht wurde. Erst nach vielen Jahren entkam der Drache, doch er wandte sich gegen die anderen und bekämpfte sie mit seinem eisigen Atem. Lange Zeit war er verschwunden und man hat nichts von ihm gehört, aber nun ist er wieder da, wir wissen nicht, warum.
Dies ist unsere Gefahr, und es ist nun die Aufgabe des Hexenrates, einen Weg zu suchen, den Drachen zu bekämpfen.“
Mit diesen Worten setzte sich die Hexenlehrerin auf ihren Platz. An den einzelnen Feuern begannen leise Gespräche, aber Miranda konnte nicht hören, was die Hexen sagten. Es war seltsam, dass keine von ihnen so laut sprach, dass alle es hören konnten. Wie sollte auf diese Weise eine Entscheidung getroffen werden?
Die Hexen sprachen miteinander, und von Zeit zu Zeit stand eine von ihnen auf und setzte sich an eines der anderen Feuer. Einige Zeit verging, und Miranda schaute nur noch mit halber Aufmerksamkeit zum Hexenrat. Sie überlegte, ob sie selbst etwas tun konnte, um Wyveria zu beschützen, aber ihr fiel nichts ein.
„Mir wird kalt“, sagte Wyveria plötzlich. Das war nicht überraschend, denn inzwischen saßen sie schon eine ganze Weile hier am Berg und belauschten den Hexenrat. So leise sie konnte, suchte Miranda in ihrer Tasche, holte die Flasche mit dem Warmtrank hervor und gab Wyveria davon zu trinken. „Danke“, sagte Wyveria, als ihr langsam wieder wärmer wurde.
Miranda schaute wieder zu den Hexen hinüber, die immer noch um die Feuer saßen, aber sie bemerkte, dass in den meisten Gruppen nicht mehr gesprochen wurde. Schließlich verstummte auch das letzte Gespräch. Für einen Moment war es ganz still, bis auf das leise Pfeifen des kalten Windes. Dann stand eine alte Hexe auf und sagte „Es ist beschlossen. Wir werden die Macht des Frostdrachen mit einem Wetterzauber zu brechen versuchen. In drei Tagen treffen wir uns wieder und besprechen uns weiter.“
Die alte Wetterhexe nahm ihren Zauberstab heraus und hielt ihn in die Luft. Auch die anderen Hexen holten ihre Zauberstäbe heraus und dann begannen sie alle, einen komplizierten Zauberspruch zu sprechen. Die magischen Worte klangen fast wie ein Gesang, der von einer Hexengruppe zur anderen weitergetragen wurde, bis alle Hexen gleichzeitig murmelten, dann wurde der Zauber wieder leise, bis nur noch die alte Wetterhexe sprach, dann begann es wieder von neuem.
„Komm“, sagte Miranda zu Wyveria, „Ich glaube, wir haben alles gesehen. Wenn der Zauber zu Ende ist, dann brechen sie bestimmt alle auf, und ich möchte nicht erwischt werden.“
Die beiden schlichen vorsichtig den Berghang hinunter bis zum Versteck des Besens. Sie kletterten hinein und machten sich auf den Heimweg. Beide waren sehr nachdenklich und ängstlich. Was wollte der schreckliche Frostdrache von Wyveria? Warum bedrohte er die ganze Welt? Und würde der Wetterzauber der Hexen Erfolg haben?
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