Auf der Suche
Als Miranda aufwachte, war es noch nicht einmal Mittag. Sie versuchte, wieder einzuschlafen, aber sie merkte, wie sie immer unruhiger wurde. Vorsichtig drehte sie sich zu Wyveria um, die neben ihr lag und sie anschaute. „Kannst du auch nicht mehr schlafen?“
„Nein.“
„Gut, dann lass uns aufbrechen.“
Die beiden kletterten aus dem Bett und aßen noch etwas. Miranda füllte zwei große Wärmflaschen mit heißem Wasser, die sie in Wyverias Korb legte, damit sie es so warm wie möglich hatte. Dann gab sie Wyveria einen Schluck des Warmtranks und die beiden flogen los.
Es dauerte nicht lange, und sie erreichten die Stelle, an der der Zauber der Drachen endete. Vor ihnen erstreckte sich eine Landschaft, die völlig unter Schnee begraben war. Nur einige der größten Straßen waren vom Schnee freigeräumt worden, aber trotzdem war nahezu niemand unterwegs, denn es war einfach zu kalt.
Der Schnee lag so hoch, dass nur die Kronen der Bäume aus ihm herausragten, und sie sahen ein Haus, das zur Hälfte unter dem Schnee begraben war. Die Hausbewohner hatten ihre Türen freigeschaufelt, so dass man eine Schneetreppe hinuntergehen musste, um ins Haus zu kommen. Aus dem Schornstein kam dicker Qualm.
„Der Winter ist noch schlimmer, als ich ihn mir vorgestellt habe“, sagte Miranda.
„Ja, es ist gut, dass wir zum Frostdrachen fliegen.“
„Ich hoffe nur, wir schaffen es“, sagte Miranda
„Selbst wenn wir es nicht schaffen, dann bin ich ja bei ihm, und er braucht nicht mehr die Welt einzufrieren.“
Miranda spürte, wie die Angst ihr die Kehle zuschnürte. Was würde der Frostdrache mit Wyveria machen? Und was würde aus ihr selbst werden, wenn sie den Frostdrachen nicht besiegen konnten? Sie drehte sich noch einmal um. Inzwischen flog sie so hoch, dass sie ganz weit hinter sich ihren kleinen Wohnhügel erkennen konnte. ‘Ob ich es jemals wiedersehe?’, fragte sie sich besorgt. Dann aber fiel ihr Blick auf Wyveria, die sich fast völlig unter ihren Decken verkrochen hatte, so dass nur ihre Nasenspitze herausschaute, und plötzlich fasste sie wieder neuen Mut. ‘Immerhin ist sie ein Drache,’ dachte Miranda, ‘und vielleicht gelingt es uns ja gemeinsam, den Frostdrachen zu besiegen.’
So wandte sie sich wieder nach vorn und flog weiter über die verschneite Welt.
Miranda hatte auf der Karte nachgesehen, wo der Fenris-Gletscher lag, in dessen Nähe der Frostdrache hausen sollte. Sie wusste, dass sie über das Meer fliegen musste, immer weiter nach Norden zu einer gewaltigen Insel. Doch sie sah unter sich kein Meer, sondern nur eine große, glatte Eisfläche. Miranda wunderte sich, dann erschrak sie: „Wyveria, das ganze Meer ist zugefroren!“
Wyveria steckte ihren Kopf aus dem Besen heraus und schaute lange nach unten. Sie sagte nichts, und nach einer Weile verschwand ihr Kopf wieder unter der Decke.
So flogen sie schweigend immer weiter und weiter, während es um sie herum immer dunkler wurde, bis sie durch tiefe Nacht flogen. Schließlich sah Miranda vor sich Berge, die aus dem Eismeer herausragten. Dort musste die Insel Grönland sein, auf der der Fenris-Gletscher lag. Als sie den Rand der Insel erreichten, die sich weiß und eisbedeckt aus dem vereisten Meer erhob, wusste Miranda sofort, dass es unmöglich sein würde, ohne Hilfe die Höhle des Frostdrachen zu finden, denn alles sah völlig gleich aus.
Sie flog eine Weile herum, auf der Suche nach jemandem, den sie fragen konnte. Dann sah sie unter sich eine Herde großer Tiere. „Ich glaube, das sind Rentiere“, sagte Miranda und flog mit dem Besen tiefer. Sie nahm ihren Zauberstab und zauberte, dass sie die Tiersprache der Rentiere sprechen konnte. Dann landete sie bei der Herde.
„Hallo, ich bin Miranda. Könnt Ihr mir helfen? Ich suche den Fenrisgletscher.“
„Dort ist es noch kälter als hier“, sagte eines der Rentiere. „Wenn es nicht bald wärmer wird, dann müssen wir alle verhungern. Hier liegt soviel Schnee, dass wir kein Fressen mehr finden können.“
„Ich hoffe, dass es bald besser wird. Wisst ihr denn, wo der Gletscher liegt?“
„Du musst ein Stück die Küste entlang fliegen, bis Du zu einem großen Berg kommst, der steil ins Wasser abfällt. Dann musst du ins Innere des Landes weiter fliegen.“
„Gut, vielen Dank. Ich hoffe, ihr findet bald etwas zu fressen“, sagte Miranda und startete.
„Wieso hast du dich denn so tief im Besen verkrochen?“, fragte sie Wyveria, als sie wieder in der Luft waren. „Wegen der Kälte?“
„Nein. Aber glaubst du, die Rentiere hätten dir geholfen, wenn sie mich gesehen hätten?“
„Wieso denn nicht?“ Miranda war verwundert.
„Hast du eigentlich mal überlegt, was große Drachen fressen?“
„Oh“, sagte Miranda nur. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Natürlich, eines Tages würde Wyveria ein großer Drache sein, vielleicht so groß wie Krallenschwinge, und natürlich würde sie dann auch jagen müssen.
Schweigend flogen sie weiter durch die Dunkelheit, bis Miranda die Klippe vor sich sah, die die Rentiere beschrieben hatten. Dann lenkte sie den Besen ins Innere der Insel.
Vor ihr erstreckten sich große Gletscherfelder, hinter denen die Berge noch höher aufragten. „Hier irgendwo muss es sein, aber ich glaube, wir können die Höhle unmöglich finden, es ist alles so riesig hier.“
„Vielleicht findest Du noch jemanden, der dir helfen kann?“, schlug Wyveria vor.
Miranda schaute sich um, aber es war nirgends ein Tier zu sehen. „Ich glaube, alle Tiere sind weggezogen.“
„Vielleicht findest du irgendwo ein kleines Tier, das zu klein zum Wegziehen ist.“
Miranda flog eine Weile über den Gletscher, aber dort lebte nichts. ‘Vielleicht eher bei einem der Berge?’, überlegte sie und lenkte den Besen dorthin. Sie flog einen Berghang entlang, der aus dem Gletscher herausragte, und sah ein paar vertrocknete kleine Büsche. Neben einem der Büsche lag ein kleines Erdloch.
Sie landete wieder und schaute in das Loch, in das sie in der Tiersprache hineinrief. Es dauerte eine ganze Weile, dann kam ein kleines Tier heraus, das etwa so aussah wie ein Hamster.
„Was soll denn das? Wer stört mich denn hier mitten in der Nacht?“, grummelte das Tier.
Miranda erklärte ihm, dass sie den Fenrisgletscher suchten und eine Höhle, in der ein großer Drache hausen sollte.
„Warum fliegst du hier herum, wenn du dich nicht auskennst? So was“, schimpfte das Tier weiter. „Und dann musst du natürlich rechtschaffene Lemminge aus ihrem wohlverdienten Schlaf schrecken und in meinen Bau brüllen, als wärst du selbst ein Drache.“
„Entschuldigung“, sagte Miranda, „aber es ist wirklich wichtig.“
„Jaja, das kann jeder sagen. Aber damit du mich endlich in Ruhe lässt: Du musst ein Stück weiter den Gletscher hinauffliegen. Dann siehst Du einen besonders hohen Gipfel mit einer Spitze, die nach Norden geneigt ist, und unter dem Gipfel soll eine Höhle sein. Ich habe gehört, dort soll ein Drache leben, schon seit langer Zeit. Aber der soll mich bloß in Ruhe lassen. “
„Danke“, sagte Miranda erfreut.
„Darf ich jetzt endlich wieder schlafen?“
„Natürlich. Und nochmal vielen Dank.“
„Hmmm“, grummelte das Tier. „Ach ja, wenn du dich noch einmal hier in der Gegend verirrst und nicht weißt, wo du hin sollst – dann weck jemand anderen.“ Und damit verschwand es in seinem Bau.
Miranda kletterte wieder auf den Besen und flog so, wie es der Lemming ihr geraten hatte. Es dauerte nicht mehr lange, und sie sahen vor sich den hohen Berg. Ein Stück unter seiner Spitze lag ein dunkler Schatten, inmitten eines schneebedeckten Hangs. Dort musste die Drachenhöhle sein.
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