Ende
Miranda und Wyveria flogen über das eisbedeckte Meer hinweg nach Hause. Miranda gähnte, denn sie war furchtbar müde. Wyveria hatte sich hinter ihr im Korb verkrochen und steckte ab und zu ihren Kopf hinaus, um sich umzuschauen.
„Merkst du etwas?“, sagte sie, nachdem sie schon eine ganze Weile geflogen waren.
„Nein, was denn?“
„Ich glaube, der Wind ist wärmer geworden.“
Jetzt, wo Wyveria es sagte, bemerkte Miranda es auch. Der Wind war immer noch kalt, aber er schien längst nicht mehr so eisig wie auf dem Flug zur Drachenhöhle. Miranda seufzte erleichtert – der Frostdrache war wirklich besiegt und der schreckliche Winter würde wieder enden.
Als Miranda zum Himmel schaute, erschrak sie. Dichte Wolken zogen sich zusammen. Während sie dahinflogen, wurden die Wolken dunkler und dunkler und Miranda befürchtete, dass sie bald durch einen Schneesturm fliegen musste. Da traf sie etwas an der Nase, etwas Nasses, das sofort wegspritzte. Es war keine Schneeflocke, sondern ein Regentropfen.
„Regen!“, jubelte Miranda. „Wyveria, es regnet!“ Miranda mochte es normalerweise nicht besonders, durch den Regen zu fliegen, aber jetzt freute sie sich. Dies war das endgültige Zeichen dafür, dass die Macht des Frostdrachen gebrochen war.
So flogen sie durch den Regen dahin, der auf das Eis herunterprasselte und dann, als sie wieder über dem Land waren, auch auf den Schnee, und Miranda sah, wie der Schnee zu schmelzen begann.
Schließlich erreichten sie Mirandas Haus. Auch hier regnete es, und der schmelzende Schnee vermischte sich mit dem Regen und tropfte vom Dach herunter. Sie landeten, gingen ins Haus und trockneten sich ab. Miranda war so müde, dass sie kaum noch genügend Kraft hatte, für sie beide etwas zu Essen zuzubereiten, aber sie war auch hungrig. Nachdem sie ihr Brot gegessen und Wyveria ihr Fleisch verschlungen hatte, kletterten sie in ihr Hochbett. Das Prasseln des Regens auf das Hausdach klang beruhigend und einschläfernd und Miranda schlief tief.
Als sie endlich erwachten, war es schon wieder abends. Eigentlich hätten sie sich zur Schule fertigmachen müssen, aber Miranda fühlte sich immer noch viel zu erschöpft.
„Hast Du auch von Drachen geträumt?“, fragte Wyveria.
„Ja, vom Frostdrachen, aber da waren auch andere Drachen. Grimbold war auch dabei.“ Miranda reckte sich und gähnte. Langsam zog sie sich an.
„Ob der Schnee schon getaut hat?“ Sie ging zum Fenster, zog die Gardine zur Seite und bekam einen gewaltigen Schreck: Zum Fenster starrte ein riesiges Auge hinein. Miranda schrie auf, machte einen Schritt zurück, aber dann erkannte sie, dass es ein Drachenauge war.
„Draußen ist ein Drache!“ Sie lief zur Tür, öffnete sie und dann erstarrte sie vor Staunen: Draußen vor ihrem Haus am Fuß des kleinen Hügels stand nicht nur ein Drache, sondern eine ganze Gruppe, insgesamt vielleicht dreißig große Drachen, die alle zu ihrem Haus herüberschauten. Angeführt wurden sie von Grimbold, der in ihr Fenster geschaut hatte.
Grimbolds großer Kopf wandte sich Miranda und Wyveria zu, die nun auch vor die Tür kam, um die Drachen zu sehen. Grimbold senkte den Kopf in einer Verbeugung. „Miranda, ich grüße dich und ich bringe dir auch Grüße von Krallenschwinge, die nicht mit zu dir fliegen konnte, weil ihre Flügel zu schwach sind. Du hast den Frostdrachen besiegt und großes Unheil von uns allen abgewandt, und dafür werden wir dir für alle Zeit danken.“
Alle Drachen verbeugten sich, so wie es Grimbold getan hatte.
„Ich habe den Frostdrachen nicht besiegt“, sagte Miranda, „das war Wyveria.“
„Natürlich“, antwortete Grimbold. „Aber ohne deine Hilfe hätte Wyveria den Frostdrachen niemals erreichen können. Wollt Ihr uns nicht erzählen, wie es euch gelungen ist?“
Der Regen hatte aufgehört, und so setzte Miranda sich auf den Boden vor ihrer Tür, denn sie konnte die Drachen ja schlecht in ihr Haus hineinbitten. Sie begann gerade zu erzählen, als sie eine Bewegung am Himmel sah: Hexen flogen auf ihr Haus zu. Es war nicht nur eine Hexe, sondern es waren viele, der ganze Hexenrat kam auf seinen Besen herangeflogen und landete vor Mirandas Haus.
Die Hexenlehrerin trat vor und sagte: „Miranda, du hast eine große Heldentat vollbracht, und alle Hexen und alle Menschen sind dir dankbar, dass du den schrecklichen Winter vertrieben und den Frostdrachen besiegt hast.“ Dann lachte die Hexenlehrerin und fügte hinzu: „aber die Schule solltest du trotzdem nicht einfach schwänzen“, doch an ihrer Stimme war zu hören, dass sie Miranda nicht böse war.
Nun kamen Miranda und Wyveria endlich dazu, ihr Abenteuer zu erzählen. Alle lauschten gebannt. Als Wyveria schließlich berichtete, wie sie Feuer gespuckt hatte, stießen die Drachen einen erstaunten Ruf aus. „Noch nie hat ein so junger Drache einen solchen Feuerstoß gespien. Deine Kräfte sind wirklich beeindruckend, Wyveria“, sagte Grimbold.
Während Wyveria zu Ende erzählte, dachte Miranda über alles nach. Sie merkte, dass sie allen Grund hatte, auf die Drachen und die Hexen wütend zu sein, und als Wyveria geendet hatte, stand sie auf und rief: „Warum habt ihr uns das alles verheimlicht? Warum habt ihr nicht gesagt, dass der Frostdrache Wyverias Bruder ist? Und warum habt ihr uns einfach mit einem Zauber vor der Kälte geschützt, ohne uns etwas zu sagen? Und dass der Frostdrache es in Wahrheit auf Wyveria abgesehen hatte, habt ihr uns auch nicht erzählt!“
„Das alles ist richtig“, sagte Grimbold, „und es ist gut, dass ihr eure Tat vollbracht habt, obwohl wir versucht haben, euch daran zu hindern, etwas zu erfahren. Doch Drachen und Hexen wollten euch nicht erschrecken, und wir haben versucht, euch zu schützen. Wir glaubten, dass euch die Wahrheit über den Frostdrachen nur Angst machen würde. Niemand von uns hätte gedacht, dass es euch gelingen könnte, zum Frostdrachen vorzudringen und ihn zu besiegen. Dafür entschuldigen wir uns.“
„Ja“, sagte Miranda nach einer Weile, und dachte daran, dass sie selbst Draconia angelogen hatte, um sie nicht in Gefahr zu bringen, „ich glaube, das kann ich verstehen.“
„Gut“, sagte die Hexenlehrerin, „dann magst du jetzt vielleicht mit uns kommen.“
„Zur Schule?“, fragte Miranda.
„Nein, wir fliegen alle zum Hexenrat.“
„Ich glaube nicht, dass ich schon wieder soweit fliegen kann, ich bin viel zu erschöpft“, sagte Miranda.
„Du kannst mit mir fliegen, Wyveria auch“, sagte Grimbold. Er legte sich auf den Boden und Miranda und Wyveria kletterten über sein riesiges Vorderbein auf seinen Rücken, wo Miranda sich zwischen zwei Zacken setzte und sich gut festhielt.
„Seid ihr bereit?“, fragte Grimbold, stieß sich vom Boden ab und breitete seine Schwingen aus. Mit kräftigen Flügelschlägen gewann er schnell an Höhe.
Miranda war natürlich schon oft geflogen, aber der Flug auf dem Rücken eines Drachen war etwas ganz anderes. Unter sich konnte sie die gewaltigen Muskeln spüren, mit denen Grimbold seine Flügel bewegte, und neben sich sah sie die riesigen Flügel, die gemächlich, aber kräftig auf und ab schlugen.
‘Ob ich eines Tages so auf Wyveria fliegen werde?’ fragte Miranda sich. Wyveria hatte ihren Gedanken anscheinend gehört. „Natürlich wirst du das“, antwortete sie, und Miranda freute sich schon jetzt auf diesen Tag.
Es dauerte nicht lange, und sie waren beim Hexenrat angekommen. Viele Feuer brannten auf dem Berg, denn die anderen Hexenkinder hatten bereits alles für ein Fest vorbereitet. Hexen und Drachen landeten, und das Fest begann. Es war das erste Mal, dass Drachen und Hexen gemeinsam feierten. Die Hexen sangen und tanzten, die Drachen erzählten viele Geschichten aus längst vergangenen Zeiten, denen alle gespannt zuhörten, dann nahmen einige von ihnen die Hexenkinder auf ihren Rücken mit zu kurzen Rundflügen. Alle waren sich einig, dass es das schönste Hexenfest war, das sie jemals erlebt hatten.
Miranda saß mit Wyveria neben ihren beiden Freundinnen Netti und Draconia. Sie erzählte ihnen von ihren Abenteuern. „Deshalb sollte ich also sagen, dass du krank warst“, sagte Draconia. „Du hast mich angeschwindelt.“
„Ja, das musste ich. Es durfte doch niemand erfahren, was wir vorhatten. Tut mir Leid.“
„Schon gut“, sagte Draconia.
„Aber das nächste Mal, wenn du ein Abenteuer erlebst, möchte ich wieder dabei sein“, sagte Netti.
„Ja, das wäre schön“, antwortete Miranda. „Aber ich bin froh, dass dieses Abenteuer vorbei ist.“ Und dann lehnte sie sich zurück und lauschte dem fröhlichen Festlärm und freute sich, dass Wyveria und sie alle Gefahren überstanden hatten.
Nachbemerkung: Leider ist dies das Ende der Miranda-Bücher. Ich habe zwar noch viele weitere Geschichten erzählt (voller Einhörner, Meermenschen, Nachtrochen, Katzenprinzen, Gorgonen, Laviathane, Fanfasen, Nunnurrus, Schattenpiraten, Räuber, Zauberer und und und), aber leider gibt es dazu nur Notizen, keine fertigen Geschichten. Ursprünglich hieß Miranda übrigens Lisbeth (und die Geschichten sind mal als Fanfiction zu Lieve Baetens Bilderbüchern entstanden), aber da es schon diverse Kinderbuchhexen mit diesem Namen gibt, habe ich sie dann umgetauft.
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