Im September des letzten Jahres begann ein EU Forschungsprojekt unter dem Titel ‘Explaining Religion‘.

Für das Projekt wurden 2 Millionen Euro gesprochen, nicht gerade die gleiche Liga wie das CERN hier in Genf, aber wohl mehr als je auf einmal für dieses Thema eingesetzt wurde (mehr Info zum Projekt findet man hier).

Der Economist schreibt in seinem gestern erschienen Artikel über das Projekt, dass dieses “am Anfang von etwas stehen könnte, das die gängige menschliche Wahrnehmung von Realität in ähnlichem Ausmass in Frage stellen wird, wie die Milliarden die für das CERN ausgegeben werden” (1).

Interessant, dass es so lange gedauert hat so ein Projekt zu starten. Ich vermute, dass es politisch bisher Tabu war. Ein solcher Ansatz setzt gewisse Grundannahmen über die Natur von Religion voraus, nämlich dass ein grosser Teil davon eine von der Wissenschaft beschreibbare Realität ist und einen biologischen Ursprung hat. Ein bemerkenswerter impliziter Ausschluss von sehr viel Metaphysik die sonst schweigend zugestanden wird.

Ich sehe in diesem Ansatz einen weiteren Hinweis auf eine in den letzten Jahren neu entwickelte Dynamik, die der Religion den über Jahrhunderte beanspruchten Sonderstatus abspricht. Ich bin gespannt auf die Resultate.

(1) Hier der etwas überschwängliche Originaltext: “it might be the start of something that will challenge human perceptions of reality at least as much as the billions being spent by the European particle-physics laboratory (CERN)”, Economist 19 März 2008, Where angels no longer fear to tread

Kommentare (7)

  1. #1 Peter Artmann
    März 21, 2008

    Also ich bin da auf keine Resultate gespannt.
    Ich hab’ eher den Eindruck, dass diese Leute versuchen das Mittelalter von der anderen Seite her aufzurollen.
    Das Ergebnis dürfte dennoch das Gleiche sein.

  2. #2 Anwen
    März 21, 2008

    Wenn vermeintlich Irrationales neurophysiologisch untersucht wird, löst das offenbar standardisierte Abwehrreflexe aus. Erinnert an den Versuch, Liebe chemisch zu definieren. Und sowas gibt doch fundamentalen Unterscheidungen wie eben Dawkins Noma zumindest einen neuen Dreh, wie das Beispiel im Economist von erwartetbarem limbischen System und tatsächlichem Frontallappen zeigt — ohne damit das Phänomen Religion abseits von dessen Effekten im Gehirn richtig umschreiben zu können. Gott wäre (nur) das, was er in unserem Kopf auslöst. In dieser Hinsicht scheint die Trennung von Natur- und Kulturwiss. -wie Bruno Latour sie meint, wirklich eine super-aufgesetzte künstliche. Und dann dieser penetrante Darwinismus, autsch… Alles in allem, eine äußerst spannende Geschichte…

  3. #3 student_b
    März 21, 2008

    Und dann dieser penetrante Darwinismus, autsch…

    Ach ja, diese penetrante Realität, wie nervend die doch sein kann…

    ————————————-

    Aus dem Artikel:

    That quip, though, makes an intriguing point. Evolutionary biologists tend to be atheists, and most would be surprised if the scientific investigation of religion did not end up supporting their point of view. But if a propensity to religious behaviour really is an evolved trait, then they have talked themselves into a position where they cannot benefit from it, much as a sceptic cannot benefit from the placebo effect of homeopathy. Maybe, therefore, it is God who will have the last laugh after all—whether He actually exists or not.

    Wenn Religiosität wirklich ein evolvierter Phänotyp ist (was ich ehrlich gesagt bezweifle) dann wohl einer der auf die Jäger/Sammler Zeit der Menschheit zugeschnitten ist. In diesem dann a priori eine günstige Eigenschaft für die heutige Zeit zu sehen… ist eine ziemlich gewagte Behauptung.

  4. #4 ali
    März 21, 2008

    @Peter
    Was meinst du mit “das Mittelalter von der anderen Seite her aufrollen”? Das es um eine Inquisition-Rückwärts geht, dass diese Forschung bei einem mittelalterlichen Religionsbild festhängt oder was anderes? Wenn dich die Resultate nicht interessieren, heisst das, dass du den beteiligten Forschergruppen nicht zutraust das Thema seriös wissenschaftlich zu untersuchen?

    @Anwen

    Wenn vermeintlich Irrationales neurophysiologisch untersucht wird, löst das offenbar standardisierte Abwehrreflexe aus.

    War das nicht schon das Problem mit Freud der das Irrationale und Triebhafte beim Menschen als Forschungsobjekt auserkoren hatte. Ich vermute wir mögen einfach nicht daran erinnert zu werden, dass wir auch nicht anders funktionieren als andere Säugetiere.

    @student_b
    Ich stimme dir zu, ein etwas seltsames Statement. Auch dachte ich immer, dass ein Glaube an Götter/Gott nicht in allen Kulturen zu finden ist (was zu erwarten wäre bei einem evolutionär angeeigneten Merkmal). Ich glaube mich zu erinnern, dass das einzige was man überall findet, ein Glaube an Geister ist und das tote Materie ‘lebendig’ wahrgenommen wird (irgendwelche Spezialisten hier, die auch Quellen angeben können?). Beide Dinge könnte man wohl evolutionär gut erklären und würden heute in unserer Kultur kaum Vorteil mehr bringen.

  5. #5 Peter Artmann
    März 24, 2008

    Ich denke im Mittelalter haben die Menschen versucht, die Welt durch den Glauben zu erklären und sich zum Ausklang bemüht die Existenz Gottes mithilfe von naturwissenschaftlichen Methoden zu beweisen. Das Resultat ist bekannt.

    Jetzt erleben wir die reduktionistische Umkehrbewegung, in der Gott als Phänomen von Nervenzellaktivität erklärt werden soll. Meist mit dem Hintergedanken Religion als Hirngespinst darzustellen.

    Trotz Fortschritte in den Methoden bleiben die Mittel der Wissenschaft dafür jedoch genauso ungeeignet, wie die peinliche Befragung der Inquisitoren.
    Lustigerweise hat die Religion zuerst begriffen, dass sie nicht alles kann. Dagegen sehen Forscher, die behaupten mit naturwissenschaftlichen Methoden “Sinn” erklären zu können ganz schön altbacken aus. Denn wie soll das funktionieren?

    Selbst wenn es auf einer fMRT-Aufnahme blitzt und blinkt. Bedeutet das nicht mehr, als dass es blitzt und blinkt. Was soll daran spannend sein?

    Vor allem aber: Wem wäre mit solchen Experimenten geholfen?

  6. #6 Benedikt
    März 25, 2008

    @student_b:

    In diesem dann a priori eine günstige Eigenschaft für die heutige Zeit zu sehen… ist eine ziemlich gewagte Behauptung.

    Gewagt? Ich würde eher sagen: mittlerweile ziemlich gut bestätigt. Siehe zum Beispiel hier:

    Religiosität erweist sich so nicht nur als ein genetisches Relikt unserer Vergangenheit – gerade in freiheitlichen Gesellschaften setzen sich diese Veranlagungen durch Reproduktionserfolg derzeit genetisch adaptiv und auch immer wieder kulturell durch.

    (Quelle: https://www.wissenslogs.de/wblogs/blog/natur-des-glaubens/grundlagen/2008-03-16/gene-f-r-glauben-neues-aus-der-verhaltensgenetik)

  7. #7 ali
    März 30, 2008

    @Peter

    Ich habe den Eindruck, du möchtest das Resultat schon vorwegnehmen, nämlich dass Religion so nicht erklärt werden kann. Wissenschaft funktioniert aber nunmal anders.

    Klar müssen fMRT Aufnahmen interpretiert werden und klar weiss man noch sehr wenig über die Funktionsweise des Hirns. Soll man deshalb gar nicht erst forschen? Deine Logik konsequent zu ende gedacht, macht die ganze Neurologie als Forschungsgebiet nutzlos.

    Verhaltenspsychologie, Evolutionsbilogie, Neurologie, Sozialwissenschaften und viele andere Bereiche versuchen regelmässig ‘Sinn’ zu erklären. Zu behaupten das funktioniere nicht, stellt die Arbeit unzähliger Forschenden in ein einer Vielzahl von Disziplinen in Frage ohne ein einziges Argument zu liefern warum dem so wäre.