Letzten Herbst veröffentlichte die New York Times einen Artikel über mehrere statistische Analysen die angeblich Belege liefern, dass die Todesstrafe erfolgreich abschreckt. Man könnte also sagen Leben rettet.

Eine parallele Diskussion wurde gestern auch in der Blogosphäre lanciert (via). Greg Mankiw behauptet, dass die Todesstrafe zumindest Rückfälligkeit einen Riegel vorschiebt.

Der oben verlinkte New York Times Artikel ist schon wegen der Zusammenstellung von relevanten Papers von Interesse. Darin finden sich interessanterweise vor allem Beiträge von Ökonomen. Die statistischen Analysen haben natürlich alle ihre Stärken und Schwächen und ich möchte diese gar nicht im Detail diskutieren. Auch sind die Resultate zum Teil widersprüchlich.

Drei Gedanken möchte ich aber zu dieser Frage hier zum Besten geben:

Erstens muss man sich der Grenzen von solchen Analysen in diesem Kontext bewusst sein. Die Zusammenhänge sind sehr kompliziert und es gibt eine gigantische Anzahl von alternativen Erklärungen für eine allfällige Korrelation, die man testen müsste, zudem sind die Zahlen klein. Fast allen ausser den Hardcore-Quantifizierer in den Sozialwissenschaften sollte das Problem dieser enormen Komplexität bekannt vorkommen. Dazu kommt, dass man mit relativen kleinen Zahlen operieren muss. Es werden zum Glück nicht genug Leute von Staates wegen umgebracht, dass sie genug Datenmaterial für stichfeste Statistiken liefern könnten. Ich möchte hier auch auf eine interessante These von Steven Levitt hinweisen, der den Rückgang in Kriminalität in den USA in den 90ern auf die Legalisierung der Abtreibung durch das Urteil in Roe vs. Wade von 1973 zurückführt.

Zweitens, Mankiws Argument ist ein wenig demagogisch. Die Sache ist doch etwas komplizierter und man kann moralische Überlegungen nicht einfach ausblenden. Sonst kann man die Todesstrafe für alles einführen.

Drittens, glaube ich nicht, dass man die in den Wirtschaftswissenschaften üblichen Grundannahmen einfach übernehmen kann. Wer jemanden umbringt, tut dies in den wenigsten Fällen überlegt und rechnet seine Opportunitätskosten durch (“ich nehme mir das Geld und habe dafür eine 36% Wahrscheinlichkeit lebenslänglich zu kriegen und eine 20% Wahrscheinlichkeit auf dem elektrischen Stuhl zu landen…”). Die Rationalitätsannahme kann in vielen Fällen sehr nützlich sein, selbst wenn sie sich nicht mit unseren täglichen Erfahrungen deckt. Bei einem so ausserordentlichen Ereignis wie Mord, macht sie aber wenig Sinn.

Kommentare (21)

  1. #1 Marc | Wissenswerkstatt
    Juli 10, 2008

    Greg Mankiw behauptet, dass die Todesstrafe zumindest Rückfälligkeit einen Riegel vorschiebt.

    Ähm…? Verstehe ich jetzt hier den Spaß nicht oder ist Herr Mankiw nur sehr zynisch-komisch?

    Ansonsten stimme ich Deinen Überlegungen natürlich zu. 🙂

  2. #2 ali
    Juli 10, 2008

    Ich bin mir nicht sicher ob es ein Scherz sein soll. Einer der Kommentatoren bei Statistical Modeling, Causal Inference, and Social Science behauptet es sei ein ‘Joke’.

    Wie auch immer, ich zweifle nicht daran, dass das ein benutztes Argument für die Todesstrafe ist: Diese Leute dürfen nicht zurück in die Gesellschaft.

    Genau mit dieser Argumentation hat auch die Schweiz vor nicht langem beschlossen Sexualstraftäter ohne Überprüfung für immer zu verwahren (eine wohl unvereinbare Forderung mit der Europäischen Menschenrechtskonvention).

    Scherz oder nicht, ich behaupte mal das Argument gibt es.

  3. #3 Tobias
    Juli 10, 2008

    Scherz oder nicht, ich behaupte mal das Argument gibt es.

    und es ist genau quantifizierbar!

  4. #4 Christian
    Juli 10, 2008

    Ob Mankiw da einen Scherz machen wollte oder nicht ist schwer zu sagen. Wer seine VWL-Lehrbücher kennt (an unserer HS Pflichtlektüre und mit Abstand die beste Einführungsliteratur in Makro und Mikro die ich je gelesen habe) weiß, dass Mankiw gerne auch mit eher drastischen Beispielen argumentiert. Zum Thema Monopole in der Energiewirtschaft kann ich mich noch an das Gedankenspiel “nehmen Sie mal an, Sie seien der Präsident des Irak” erinnern…

    Das Argument gibt es natürlich tatsächlich – und sachlich falsch ist es ja nicht gerade. Dass eine entwickelte Gesellschaft die Todesstrafe dennoch aus Gründen der Humanität ablehnen sollte, steht wieder auf einem anderen Blatt. An dem Beispiel aus der Schweiz sieht man ja, dass nicht nur in den USA so gedacht wird.

    Ich meine mich erinnern zu können, Forderungen wie “chemische Kastration für Vergewaltiger” auch schon aus Kreisen der deutschen Politik vernommen zu haben, wobei solche Überlegungen ja überhaupt nur unter der Prämisse statthaft wären, dass das Rechtssystem eine hundertprozentige Schuld aller Verurteilten garantieren kann. Wie man gerade am Beispiel der Todesstrafe in den USA immer wieder sieht, ist dies jedoch bei weitem nicht der Fall.

  5. #5 Jürgen Schönstein
    Juli 10, 2008

    Ich verfolge die Todesstrafen-Diskussion ja schon von Berufs wegen seit mehr als eineinhalb Jahrzehnten aus unmittelbarer Nähe in den USA., und ich erinner emich auch an die Artikel in der “New York Times”. Ich habe mir daher mal eine der Studien, die als Basis für die These “Todesstrafe rettet Leben” dient, ein wenig genauer angesehen:
    https://econ.cudenver.edu/mocan/papers/GettingOffDeathRow.pdf
    Zur Methodik und speziell der dabei verwendeten Mathematik kann ich mich nicht äußer, denn das überschreitet mein Knowhow. Aber zur Logik der Argumentation würde ich nur sagen wollen: Wenn die Todesstrafe tatsächlich abschreckend wirkt, warum sit die Mordrate in den US-Staaten mit Todesstrafe dann konsistent um einen halben bis einen ganzen Punkt höher als in den Staaten ohne? Zudem ist die Kausalität angesichts des Materials, das dabei verwendet wird, eher fraglich. Denn es riecht geradezu danach, als ob der generelle Rückgang der Mordrate und der Anstieg der Hinrichtungen eine gemeinsame Ursache haben: ein verschärftes Justizklima, beispielsweise, das sowohl mehr Polizisten auf die Straße schickt als auch einen verschärften Strafvollzug nach sich ziehen würde.

  6. #6 Ulrich Berger
    Juli 10, 2008

    @ Ali:
    Nur kurz zu Steven Levitt. Seine berühmte These ist – das sollte man anmerken – sehr umstritten und keineswegs so gesichert, wie er es in “Freakonomics” darstellt:
    https://en.wikipedia.org/wiki/Legalized_abortion_and_crime_effect

    Zur Rationalitätsannahme bei Mord: Bei Mord im Affekt stimme ich dir zu, aber beim geplanten Mord nicht. Warum sollte der nicht durch höhere Strafen abgeschreckt werden? Die Rationalitätsannahme sagt ja in diesem Fall nur: Bei gleicher Wahrscheinlichkeit erwischt zu werden und höherer Strafe sinkt die Bereitschaft zum Mord tendenziell. Das Gegenteil (oder Unabhängigkeit) anzunehmen wäre wohl absurd.

    @ Marc, Ali & Christian:
    Es ist doch gar keine Frage, dass das ein zynischer Scherz von Mankiw ist!

    @ Jürgen Schönstein:
    Dass die Mordrate in Staaten mit Todesstrafe höher ist als in Staaten ohne, sagt für sich alleine noch gar nichts aus, weil man, grob gesagt, “die Richtung der Kausalität” aus dieser Tatsache nicht herauslesen kann.

  7. #7 ali
    Juli 10, 2008

    @Ulrich
    Das Levitts These sehr umstritten ist, ist mir bewusst. Mir ist ebenfalls aufgefallen das “Freakonomics” häufig eine Tendenz zur Vereinfachung hat. Ich habe Levitts Theorie aber erwähnt, weil ich die These ein ausgezeichnetes Beispiel für ‘Out of the Box’ Denken halte und es gut veranschaulicht, wie weit entfernt die möglichen Zusammenhänge gesucht werden können. Ich bin mir selber nicht sicher, ob sie mich überzeugt oder nicht. Levitt hat meines WIssens übrigens auch wegen der Kritik das Paper inzwischen noch mehrmals überarbeitet.

    Wie rational denkt ein Mörder? Ich kann mir vorstellen, dass bei fast allen Mordfälle eine gewisse Einschränkung der Rationalität vorliegt (Emotionsasubrüche, Alkohohl, Drogen, Traumata und/oder Stress, sehr tiefer IQ…). Belegen kann ich das nicht. Auch kann man kaum das Prinzip Anwenden, dass Menschen zwar Fehler machen aber nicht wiederholt und systematisch irrational handeln da wohl Morde in der grossen Mehrheit der Fälle Einzelereignisse sind in einem Leben. Wenn du aber nun ‘geplanter Mord’ als Messlatte setzt, kann ich mir vorstellen, dass die Rationalitätsannahme Sinn machen kann. Ich vermute aber das dies ein winziger Teil der Mordfälle sind (und sich die Untersuchung bestimmt nicht ausschliesslich auf solche konzentrierten). Ausserdem ist die Wahrscheinlichkeit erwischt zu werden vermutlich wichtiger als die Höhe der Strafe (du erwähnst ja ebenfalls diesen Aspekt). Eine Frage: Denkst du bei der Abwägung der Konsequenzen ist es relevant ob ein Mörder Lebenslänglich in einem US Gefängnis oder die Todesstrafe in vielleicht 20 Jahren kriegt (noch dazu wenn anscheinend die meisten Todesurteile von der nächsten Instanz kassiert werden)?

    Ich gestehe ich kannte Mankiw vorher nicht. Ob es sich um einen Scherz handelt oder nicht kann ich daher wirklich nicht beurteilen. Wie schon erwähnt, das Argument geistert trotzdem rum. Aber er selber soll vom Zweifel profitieren, ich habe eine Schwäche für zynisches.

  8. #8 Jürgen Schönstein
    Juli 10, 2008

    @Ulrich Berger
    >Dass die Mordrate in Staaten mit Todesstrafe höher ist als in Staaten ohne, sagt für sich
    >alleine noch gar nichts aus, weil man, grob gesagt, “die Richtung der Kausalität” aus
    >dieser Tatsache nicht herauslesen kann.
    Stimmt. Kausalitäten aus Korrelationen abzulesen ist sowieso immer fraglich (das war ja im Prinzip auch mein Argument). Und sicher, Staaten mit hoher Mordrate neigen auch eher dazu, die Todesstrafe zu praktizieren. Aber wenn man davon ausgeht, dass jede Exekution zwischen 5 und 12 (oder waren es sogar 18?) Morden verhindert, dann müsste sich das ja irgendwann in den Daten bemerkbar machen und die Mordrate – ceteris paribus, versteht sich – unter die der Staaten ohne Todesstrafe fallen. Sonst haut das Argument mit der Abschreckung doch nicht hin

  9. #9 Patrick
    Juli 11, 2008

    rettet die todesstrafe leben? tja…

    sobald ein einziger unschuldiger hingerichtet wird, darf die todesstrafe meiner meinung nach nicht mehr vollstreckt werden.

    jeder der anderer meinung ist, darf gerne als erster dieser eine unschuldige kandidat sein und sich dann nochmal überlegen, ob er das wirklich für sinnvoll hält…

  10. #10 Ulrich Berger
    Juli 11, 2008

    @ Ali:
    > Denkst du bei der Abwägung der Konsequenzen ist es relevant ob ein Mörder
    > Lebenslänglich in einem US Gefängnis oder die Todesstrafe in vielleicht 20
    > Jahren kriegt (noch dazu wenn anscheinend die meisten Todesurteile von
    > der nächsten Instanz kassiert werden)?

    Ich denke, wenn sich der Täter frei entscheiden könnte, würde er (in den meisten Fällen) Lebenslänglich bevorzugen. Insofern fließt das in die Abwägung der Konsequenzen mit ein. Inwieweit dieser Einfluss quantitativ “relevant” ist, kann ich nicht sagen. Da hilft alles Spekulieren nicht weiter, deshalb ja die aufwendigen ökonometrischen Untersuchungen. Mit “geplant” meinte ich übrigens nicht “kaltblütig geplant” wie bei Inspector Columbo, sondern eher alles, was nicht im Affekt geschieht. Das ist vermutlich keine winzige Minderheit der Morde. Der Punkt ist, dass man für eine Erhöhung der Hemmschwelle beim ceteris paribus Übergang von Lebenslänglich zu Todesstrafe nur eine äußerst schwache Form von Rationalität braucht, nicht den ultrarationalen textbook-homo-oeconomicus.

    @ Jürgen Schönstein:
    > Aber wenn man davon ausgeht, dass jede Exekution zwischen 5 und 12
    > […] Morden verhindert, dann müsste sich das ja irgendwann in den
    > Daten bemerkbar machen und die Mordrate – ceteris paribus, versteht
    > sich – unter die der Staaten ohne Todesstrafe fallen.

    Ja, ceteris paribus. Aber in der realen Welt gibt es kein ceteris paribus – jeder Staat hat andere Gesetze, andere soziale Strukturen etc.

  11. #11 ali
    Juli 11, 2008

    Ich habe zwei Fragen aufgeworfen und sie wohl nicht klar genug getrennt. My bad.

    Die erste Frage nach dem Unterschied zwischen Lebenslänglich und der Todesstrafe und dessen Relevanz, habe ich in die Diskussion gebracht, weil ich dachte sie illustriert die Unmöglichkeit einer solchen Abwägung (ein nicht sehr wissenschaftliches Argument, zugegeben) schon gar nicht in so spezifischen Umständen. Gerade diese Hemmschwelle die du erwähnst finde ich ist ein wichtiges Element. Um einen Menschen umzubringen muss eben eine gewisse Hemmschwelle überwunden werden (die kaum nur auf der Angst vor Bestrafung basiert). Die überwältigende grosse Mehrheit der Menschen mordet schliesslich nicht im täglichen Leben und falls ja nur unter gewissen Regeln selbst ohne Staat (Blutrache, Krieg, etc….). Alleine dies macht eben diese Person zu einem Spezialfall auf den wohl die üblichen Konzepte um menschliches Handeln zu beschreiben nur beschränkt anwendbar sind. Aber vielleicht bin ich nur ein hoffnungsloser Romantiker der sich Hobbes’ Weltsicht verweigert.

    Die andere Frage ist eben die nach der Anzahl Morde die wirklich in die Kategorie ‘Rational’ fallen. Da scheinen wir uns nicht ganz einig zu sein. Wie ich schon erwähnt habe, denke ich, dass Nicht-Colombo Morden und juristisch als ‘im Affekt’ definierte Morde, nicht die einzigen zwei Kategorien sind. In den meisten Fällen sind zusätzliche die Rationalität einschränkende Variablen gegeben, die beim Frühstücksflockenkauf oder beim Unterschreiben eines Hypothekarvertrages nicht vorhanden sind (auch auf die Gefahr hin mich zu wiederholen: Starke Emotionen, Alkohohl und andere Drogen, Traumata, Stress, sehr tiefer IQ, etc.). Einige von diesen Variablen würden juristisch wohl nicht einmal als verminderte Zurechnungsfähigkeit gelten, da man gewisse Grundannahmen zum freien Willen des Angeklagten macht und dessen Fähigkeit moralische Urteile zu fällen. Daher vermute ich, dass eine solche Differenzierung der Daten gar nicht möglich ist (obwohl notwendig für diese Frage).

    Ich hoffe das war klarer.

  12. #12 Jürgen Schönstein
    Juli 11, 2008

    Ich persönlich glaube ja nicht, dass Mord die Folge eines rationalen Entscheidungsprozesses sein KANN – sonst wäre es ja “justifiable homicide”, wie es im US-Rechtssystem genannt wird. Aber davon abgesehen, geht diese Grenzkosten-Betrachtung zwischen Lebenslänglich und Todesstrafe ja davon aus, dass letztere tatsächlich vom Verurteilten als härter empfunden wird. Und das ist keineswegs so selbstverständlich, wie man vielleicht denken würde:
    https://articles.latimes.com/2005/apr/09/nation/na-briefs9.1
    https://wilderside.wordpress.com/2008/05/13/mentally-ill-man-to-be-executed-on-61008-in-va/
    https://www.freepress.org/journal.php?strFunc=display&strID=155&strJournal=20
    Aber es ging ja nicht darum, welche Strafe als a n g e m e s s e n empfunden wird, sondern ob sich durch Exekutionen die Zahl der Morde quantifizierbar reduzieren lässt. Da gilt nach wie vor meine Kritik von oben: Wenn dem so wäre, dann hätte beispielsweise in New York die Zahl der Morde nach dem erneuten Moratorium der Todesstrafe (im Jahr 2004) explodieren müssen, was sie aber nicht tat (https://www.disastercenter.com/crime/nycrime.htm ). Zudem müssten solche Betrachtungen “eingesparter” Morde auch den “Mitnahme-Effekt” der Todesstrafe berücksichtigen: Wenn ich wegen eines Mordes eh’ schon unausweichlich zum Henker geschickt werde, dann kann ich auch gleich noch ein paar mehr Leute (zum Beispiel Geiseln oder Poliizeibeamte, die mich festnehmen wollen) umbringen.

  13. #13 Ulrich Berger
    Juli 11, 2008

    @ Ali:
    > In den meisten Fällen sind zusätzliche die Rationalität einschränkende
    > Variablen gegeben, die beim Frühstücksflockenkauf oder beim Unterschreiben
    > eines Hypothekarvertrages nicht vorhanden sind.

    Keine Frage, diese Variablen schränken die Rationalität ein. Aber sie kehren sie nicht um – das ist mein Punkt. Wenn man im Aggregat keinen negativen Effekt auf die Mordrate annimmt, muss man wohl oder übel einen positiven Effekt annehmen. Dazu braucht man aber entweder eine seltsame Form von Irrationalität, nämlich eben eine “Umkehrung der Rationalität”, oder man behält eine beschränkte Rationalität bei und liefert eine gute Begründung für einen positiven Effekt. Es wird z.B. spekuliert, dass die abschreckende Wirkung der Todesstrafe dazu führen könnte, dass man nach einem Mord etwaige Zeugen verfolgt und ebenfalls umbringt, anstatt zu flüchten. Das ist zwar denkbar, aber für mich nicht sehr überzeugend…

  14. #14 ali
    Juli 13, 2008

    Entschuldige die späte Antwort, aber ich habe erst jetzt Zeit gefunden zu schreiben.

    Ich bin mir nicht sicher ob ich dein Argument verstehe. Wenn die Rationalität des Täters den Mechanismus darstellt, durch welchen er abgeschreckt werden soll, warum muss ich zwingend einen positiven respektive negativen Effekt annehmen, wenn ich doch genau gegen diese Annahme argumentiere weil ich sie für falsch halte? Die Korrelation mag vorhanden sein, aber ich zweifle an der Erklärung für diese.

  15. #15 Ulrich Berger
    Juli 17, 2008

    Es gibt nur drei Moeglichkeiten: positiver Effekt, negativer Effekt oder gar kein Effekt. Gar kein Effekt scheidet bei einer Massnahme, die oeffentlich bekannt ist, aus. Wenn du einen negativen Effekt verneinst, bleibt nur ein positiver uebrig. Ein positiver Effekt ist m. E. der unplausibelste, den man sich vorstellen kann. Alle Theorien des menschlichen Handelns, die ich kenne, sagen einen negativen Effekt voraus, inklusive jene, die nur sehr schwache Formen von Rationalitaet erlauben.

    Die Frage ist fuer mich also nicht, ob es einen negativen Effekt gibt – das halte ich fuer selbstverstaendlich – sondern ob er quantitativ signifikant ist, d.h. ob er stark genug ist, die Todesstrafe mit all ihren bekannten Begleiterscheinungen zu rechtfertigen. (Das glaube ich uebrigens nicht, aber das war ja hier nicht das Thema.)

  16. #16 Jürgen Schönstein
    Juli 17, 2008

    @Ulrich
    >Es gibt nur drei Moeglichkeiten: positiver Effekt, negativer Effekt oder gar kein Effekt.
    >Gar kein Effekt scheidet bei einer Massnahme, die oeffentlich bekannt ist, aus.
    Wieso scheidet “gar kein Effekt” aus, nur weil es ein öffentliches Bewusstsein über die Strafmaßnahme gibt? Weil wir einfach glauben müssen, dass es einen Zusammenhang zwischen Straffälligkeit und Schwere der Strafe gibt? Das ist wohl eher ein Dogma als eine bewiesene Tatsache, wie man hier nachlesen kann:
    https://economistsview.typepad.com/economistsview/2007/02/does_punishment.html
    Um es kurz zu sagen, hat die darin beschriebene Studie die Straffälligkeit von Jugendlichen um 18 Jahre analysiert. Da sie ja ab 18 nach Erwachsenenstrafrecht viel härtere Strafen erwarten müssen, sollte es nach dieser Logik ja auch einen erkennbaren Knick in der Delinquenz beim Übergang in die Volljährigkeit geben. Doch die Studie (Columbia University und University of Michigan) fand … keinen.

  17. #17 Ulrich Berger
    Juli 23, 2008

    @ Jürgen:

    Die Studie findet nicht “keinen” Knick, sondern einen sehr kleinen, der im statistischen Rauschen untergeht:

    “… the drop in arrests at 18 is small in magnitude and statistically insignificant. The estimated discontinuity is roughly -0.018, with a standard error of about 0.047.”
    (p. 16-17, https://mirror.nber.org/cgi-bin/sendWP.cgi/2016058842/w11491.pdf)

    Vielleicht hätte ich mich präziser ausdrücken sollen: Mit “gar kein Effekt” meine ich wirklich KEINEN Effekt, nicht einen, der so klein ist, dass er nicht klar feststellbar ist (z.B. eine auf 5% Niveau nicht ablehnbare Nullhypothese).

  18. #18 Jürgen Schönstein
    Juli 29, 2008

    @Ulrich
    Ich habe tagelang über Deinen letzten Kommentar gegrübelt – und leider kapiere ich immer noch nicht, worauf Du hinaus willst. Ein “Effekt”, der sich statistisch nicht nachweisen lässt, weil er weit unterhalb der Messgenauigkeit liegt (= als “Signal” nicht mehr vom “Rauschen” zu unterscheiden ist) wäre doch in jedem wissenschaftlich anerkannten Fall “kein Effekt”? Oder akzeptieren wir jetzt nur noch absolute, 100-prozentige, bleib-mir-bloß-mit-dem-Statistikkram-vom-Hals Resultate? Die kriegen, so weit ich weiß, nicht mal die Physiker immer hin …

  19. #19 Ulrich Berger
    Juli 29, 2008

    @ Jürgen:
    Das gleitet jetzt langsam ins Semantische ab, aber o.k.: Ich ziehe es vor, zwischen *vorhandenen, aber derzeit nicht nachweisbaren* und *nicht vorhandenen* Effekten zu unterscheiden. Die Unterscheidung ist natürlich eine theoretische, deswegen aber nicht von vornherein sinnlos. Derzeit nicht nachweisbare Effekte könnten nämlich später einmal nachweisbar werden (etwa durch Studien mit größeren samples), nicht vorhandene Effekte hingegen nicht.

    Vielleicht ist ein anderes Beispiel besser:
    Wenn ich z.B. in einem Scienceblog einen flammenden Appell wider die Energieverschwendung in Privathaushalten poste, hat das dann einen “Effekt” auf den landesweiten Energieverbrauch? Du würdest vermutlich sagen Nein. Ich würde sagen Ja, aber einen nicht nachweisbar kleinen. Ist nur ein Unterschied im Wortgebrauch…

  20. #20 Jürgen Schönstein
    Juli 29, 2008

    @Ulrich
    Ich würde sagen: hat keinen MESSBAREN Effekt. Und genau das ist doch die Crux: Kann man überhaupt anhand des Datenmaterials von “messbaren” Erkenntnissen ausgehen? Wenn “nur” 432 Exekutionen (432 zu viel, wie ich persönlich glauen, aber das ist nicht mal der Kern meines Einwandes) als statistische Basis dienen sollen und gleichzeitig ein halbes Dutzend Variable – deren Auswahl und Gewichtung oft nicht wirklich transparent gemacht wird – in die Berechnungen eingehen müssen? Welche Rolle kann denn ein “Preis” spielen, den nur jeder 300-ste überhaupt bezahlt? Ich verstehe zwar die Mathematik nicht wirklich, aber soweit ich eine der Studien (die an oberster Stelle in der New York Times zitiert war) richtig gelesen habe, dann ging auch die AUFKLÄRUNGSRATE für Morde in diese Rechnung mit ein, die dann aber – künstlich, würde ich sagen, in ihrer Bedeutung runtergerechnet wurde. Obwohl sie, wie ich mal vermute mit weitem Abstand der entscheidendste Faktor wäre. Die Höhe eines Preises (i.d.f. die Schwere der Strafe) kann doch nur nachrangig von Bedeutung sein, wenn ich erst mal davon ausgehen kann, diesen Preis gar nicht erst zahlen zu müssen – egal, wie hoch oder niedrig er ist.

  21. #21 Ulrich Berger
    Juli 30, 2008

    @ Jürgen:
    Klar spielt die Aufklärungsrate (in Kombination mit der Strafhöhe) eine bedeutende Rolle. Das illustriert ein Schild an einem kalifornischen Mülleimer, das ich 1992 gesehen habe: “Litterers will be fined $10,000″… Bin mir nicht sicher was du damit meinst, wenn du sagst die Aufklärungsrate wurde (künstlich) “in ihrer Bedeutung runtergerechnet”. Typischerweise würde man den Einfluss der Aufklärungsrate in der Regression herausrechnen, WEIL sie bedeutend ist und das Ergebnis verzerren würde – man will ja den “nackten” Effekt der Todesstrafe vs. lebenslänglich bestimmen (ceteris paribus).
    Aber wie gesagt: Mangels Expertise kann ich zu den ökonometrischen Details wenig sagen und enthalte mich lieber eines Urteils in diesem Streit.