Die nach wie vor nicht stattfindende Kampagne im Abstimmungskampf um die Verankerung der Komplementärmedizin in der Schweizer Bundesverfassung nötigt mich, noch mehr zu diesem Thema zu schreiben. Dieser Eintrag widmet sich dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit der Befürworterinnen und Befürworter.
Der Kaiser ist nackt und eigentlich ist dies relativ einfach zu sehen. Aber statt des erlösenden Gelächters, gibt es böse Blicke wenn man mit dem Finger auf ihn zeigt. Man gilt als borniert und fundamentalistisch.
Gleichzeitig versuchen die Befürworter nachzuweisen, dass der Kaiser sehr wohl etwas trägt. Obwohl man nicht müde wird zu betonen, dass er in (Fein)-Stoffe gekleidet ist, die nichts mit herkömmlichen Gewebe gemein haben, versucht man in einem seltsamen Widerspruch dazu trotzdem zu belegen, dass es sich um herkömmliche Kleider handelt. Um diesen Anspruch zu untermauern bietet man Experten auf und lässt eine Kompanie Schneider antanzen, die die Existenz dieser exquisiten Textilien bestätigen. Diese Expertengruppe findet man in Form des Wissenschaftskomitees der Pro Kampagne.
Die Schneider haben aber ein Problem. Sie verkaufen alle auch diesen unsichtbaren Stoff, den der Kaiser angeblich trägt. Man kann also davon ausgehen, dass unser Expertenkomitee durchaus ein Interesse hat, dass ihr wertvolles Tuch nicht kritisiert wird: Bis auf eine Ausnahme arbeiten alle in einer sich der ‘Ganzheitlichkeit’ verschriebenen Institution oder haben einen entsprechenden Lehrstuhl inne. Für diese Kritiker der Pharmalobby doch erstaunlich. Ich vermute Interessenskonflikte gibt es nur bei den andern. Man stelle sich den Protest von genau diesen Leuten vor: Eine Kampagne zur Lockerung von Zulassungskriterien für Medikamente und im Wissenschaftsrat sitzen nur Leute, die bei grossen Pharmaunternehmen arbeiten.
Die Frage stellt sich schon, warum unterstützen so viele Ärzte diese Initiative. Die Frage kann bestimmt nicht nur mit der Feststellung eines Interessenskonfliktes zur Seite gewischt werden. Ich kann nur spekulieren. Ich vermute, dass die medizinische Ausbildung sehr praxisorientiert ist und aufgrund der grossen Stoffdichte kaum Zeit verwendet wird für methodische oder gar wissenschaftsphilosophische Fragen. Wie auch im wohl etwas in die Jahre gekommenen Buch Boys in White beschrieben, wird häufig die persönliche Erfahrung über wissenschaftliche Ergebnisse gestellt. Das Ziel ist zu heilen und solche Erfolge können sich auch mit Plazebo einstellen.
Das Resultat sind dann gelinde gesagt eher unorthodoxe Ansichten, was denn als ‘wissenschaftlich’ zu gelten hat. Als Beispiel soll mir hier Dr. med. Hansueli Albonico dienen, prominenter Kämpfer für die Initiative zur Verankerung der Komplementärmedizin in der Schweizer Verfassung und Leiter der Komplementärmedizinischen Abteilung des Regionalspitals Langnau i.E.. Er ist gemäss Website des Befürworterkomitees (er ist einer der Schneider) designierter Präsident der Union schweizerischen komplementärmedizinischen Ärzteorganisationen. Er hat eine Ausbildung in Anthroposophischer Medizin und Homöopathie und bloggt nun bei der Neuen Zürcher Zeitung für die Pro Seite der Abstimmungskampagne. Unter dem Titel “Der wissenschaftliche Nachweis liegt vor” gibt er uns Kostproben von dieser Art von Denken:
Wichtig aber ist, dass sich die Administration an ihre eignen Vorgaben zur Nachweis-Methode hält. (…) Die wissenschaftlichen Vorgaben waren vom Bundesamt für Sozialversicherung klar festgelegt: “Zur Darlegung der Wirksamkeit gehören in erster Linie die praktischen Erfahrungen der Ärzte, die Anwendungstradition und praxisnahe Evaluationsverfahren. Die prospektiven kontrollierten Studien werden als zweitrangig eingestuft.”
Der wissenschaftliche Beleg ist also erbracht, wenn man ‘wissenschaftlich’ so umdefiniert, dass was man Belegen möchte auch belegt wird. Das Äquivalent ist der abgeschossene Pfeil um den man die Zielscheibe malt.
Nun werden einige mit den Schultern zucken und fragen “Na und?” Es gibt in jedem Fach Personen die eher seltsame Ansichten pflegen. Das Problem ist jedoch, wenn man einmal zugelassen hat, dass Beliebigkeit als wissenschaftlich zu gelten hat, dann ist alles was man will ‘wissenschaftlich’. Oder um auf des Kaisers neue Kleider zurückzukommen: Dann tragen auch an einem Nudisten-Strand plötzlich alle einen Frack.
Herr Albonico gehört zum Beispiel zur Gruppe der Impfkritiker. Durch gut platzierte Fragezeichen wird Verunsicherung gesät und die Verschwörungstür geöffnet (‘Man darf ja mal die Frage stellen dürfen’). So wird zum Beispiel auf den möglich Zusammenhang von Impfungen und Multiple Sklerose oder Autismus angespielt ohne wirklich auf das Thema einzugehen.
Nun vielleicht ist Herr Albonico nur in dieser Frage vom wissenschaftlichen Mainstream abgerückt. Doch findet man in auch auf einschlägigen HIV-Rethinker Seiten und sein Name findet sich auf entsprechenden Manifesten.
Der regelmässige Scienceblog Kommentator sil hat mich auf das Buch von Herrn Albonico Gewaltige Medizin1 hingewiesen (und mir den Text zukommen lassen, vielen Dank!). Es ist erhellend wie die “wissenschaftliche Methode” zum Erkenntnisgewinn von Herrn Albonico in diesem Buch beschrieben wird (das Zitat habe ich ebenfalls von sil übernommen, der es in diesem Kommentar gepostet hat):
Ich erinnere mich auch an die masernkranken Kinder in unserer eigenen Familie. Alle vier waren recht schwer krank, lagen mit hohem Fieber und rotfleckigem Ausschlag in ihren Bettchen, wollten möglichst nicht gestört sein, sich aber gleichzeitig umsorgt und geborgen wissen. Es lag stets etwas Würdiges und Feierliches im Kranksein dieser Kinder. Man spürte: jetzt geschieht etwas Wesentliches. Und diese Stimmung liess mich erleben, dass Kranksein nicht nur von seinen physischen Äusserungen her beurteilt werden darf, sondern auch Ausdruck eines geistigen Geschehens ist. Es war für mich in solchen Augenblicken am Krankenbett schlicht unvorstellbar, dass das vor mir liegende Kind nicht auch Bezug zu einer geistigen Welt hat, aus der es bei Empfängnis und Geburt hervorgegangen ist, und zu welcher es bei seinem Tode zurückkehren wird. Es wurde mir klar: Kinderkrankheiten sind Grenzerlebnisse. (Seite 52)
Wem das noch nicht reicht, hier seine Ansichten zu HIV:
Mittlerweile hatten zahlreiche Forscher die Frage aufgeworfen, ob “AIDS” in Afrika nicht nur eine neue Bezeichnung für alte Krankheiten sei, eine Frage, welche vor allem auch deshalb berechtigt erscheint, als die für Afrika eigens geschaffene Definition für AIDS gerade jene Krankheitszustände umfasst, die seit jeher am häufigsten vorkamen: Husten, Fieber, Durchfall und Tuberkulose. (Seite 68)
Viele AIDS-Patienten äussern die Ansicht, dass sie zwar erkrankten, weil sie schwächer sind als andere, dass sie aber gleichsam stellvertretend erkrankten für unsere Gesellschaft, welche insgesamt an Unwahrhaftigkeit, Egoismus und Angst leidet. (Seite 81)
Herr Albonico zeigt uns die Richtung an in die die Reise geht und warum die Komplementärmedizin durchaus lebensgefährlich sein kann. Wer einmal zum Schluss kommt, dass die herkömmliche wissenschaftliche Methode nicht den Standard bilden muss, kann plötzlich alles glauben. Was für desaströse Effekte solche Ansichten zum Beispiel in Südafrika zur Folge gehabt haben konnte man beobachten. Im Gegenzug dazu ist der Papst wenigstens so ehrlich und spricht von Glauben (was die schlimmen Folgen auch nicht besser macht). Auch die nächsten Epidemien von Masern, Röteln, etc. werden diejenigen, die sie nicht umbringen wohl nur stärken (ich hoffe Herr Albonico hat gestern Zeitung gelesen). Die Komplementärmedizin selber mag häufig harmlos daherkommen, aber sie führt ein Denken im Schlepptau, welches im schlimmsten Fall tödlich sein kann. Darum gehört sie auch nicht in die Verfassung.
1 Albonico, Hans Ulrich, Gewaltige Medizin Fragen eines Hausarztes zur Immunologie, zu den Impfungen gegen Kinderkrankheiten, zu AIDS und zur Gentechnologie, Paul Haupt, Bern, 1998
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