Der Staat Kalifornien ist vom Bruttoinlandprodukt her einer der zehn grössten Wirtschaftsräume auf dem Globus (der genaue Rang variiert je nach Tabelle). Aufgrund eines angenommenen Referendums mit einer entsprechenden Forderung muss ein Budget mit einer Zweidrittelmehrheit des Parlaments genehmigt werden. Kalifornien ist hochverschuldet und wurde in seiner Kreditwürdigkeit herabgestuft. Der von Gouverneur Schwarzenegger zusammengestutzte Etat muss in beiden Parteien Stimmen finden um dieses Quorum zu erreichen.

Das Parlament ist von den Demokraten kontrolliert, die die Kürzungen ablehnten und mit Steuererhöhungen abfedern wollten. Diese wiederum sind ein rotes Tuch für die Republikaner, die den Gouverneur auf ihrer Seite hatten. Jeder Vorschlag scheiterte am Zweidrittelmehr, der Gouverneur warnte vor der Zahlungsunfähigkeit des Staates und regierte mit unorthodxen Massnahmen (wie zum Beispiel die ‘Freistellung’ von Staatsangestellten). Am Montag vor einer Woche hat der Gouverneur nun eine Übereinkunft mit dem Parlament treffen können. Drastische Kürzungen sind zu erwarten. Regieurungsguthaben werden veräussert werden müssen. Die Universität wird vermutlich ihr eigenes staatlichs Budget um 20% schrumpfen sehen.

Natürlich taucht immer wieder eine Frage auf: Wer ist Schuld an der vermeintlichen Unregierbarkeit des Staates Kalifornien? Eine der am häufigsten gehörten Antworten ist: Die direkte Demokratie. So zum Beispiel in einem Kommentar von letzter Woche in der Financial Times. Nicht nur die Zweidrittelsmehrheit ist das Resultat eines Referendums. Es scheint, als ob das kalifornische Stimmvolk ebenso gerne Geld ausgibt, wie es sich weigert, Geld einzutreiben oder zu kürzen. Die Frage liegt natürlich nahe, warum funktioniert das in einer anderen Referendumsversessenen direkten Demokratie besser, nämlich in derjenigen, von wo ich diesen Post verfasse: der Schweiz (Idee zu diesem Post kam mir via Matthew Yglesias)?

Ich habe das Thema nicht im Detail studiert und habe nur oberflächliche Kenntnisse des kalifornischen Systems. Ich möchte hier aber einmal ein paar Ideen in den Raum stellen, wo ich Unterschiede zwischen den beiden Systemen sehe, die das Funktionieren (oder eben Disfunktionieren) erklären könnten. Dies könnte interessante Hinweise geben, wie eine direkte Demokratie ‘designed’ sein müsste um zu funktionieren. Weitere Ideen und Spekulationen sind natürlich erwünscht und willkommen.

  • Die Schweiz ist im Gegensatz zu Kalifornien nicht nur viel kleiner, sondern auch extrem dezentralisiert. Ein grossteil des Geldes wird in den Kantonen (Landesebene für meine Deutschen Leserinnen und Leser) ausgegeben. Dies ist erstens näher bei der Stimmbevölkerung und zweitens überschaubarer.
  • In der Schweiz gibt es kein Gesetzesreferendum und Änderungen können nur Verfassungsebene eingebracht werden.1 Dies könnte der Detaillierungswut einen Dämpfer aufsetzen. Ausführungsbestimmungen werden von der Regierung gemacht.
  • Eine für Schweizer wohl etwas ketzereische These ist auch, dass nicht immer alles umgesetzt wird. Es gibt einerseits den im vorigen Punkt erwähnten Spielraum. Es gibt aber sogar gewisse Vorlagen, die trotz Verankerung nie, nur mit Schwierigkeiten, oder erst Jahrzente später umgesetzt wurden (z.B. Alpeninitiative, Verwahrungsintitative, Mutterschaftsversicherung). Diese Umsetzung kann durchaus mit sehr kreativen Interpretationen der Absichten der Initianten geschehen (nochmals Verwahrungsinitiative als Beispiel).
  • Die Schweiz hat eine tiefe Staatsquote, die ein Misstrauen der Stimmbevölkerung gegenüber dem Staat reflektiert. Dies äussert sich vielleicht auch darin, dass ihm weniger Aufgaben übertragen werden. Dies könnte aber auch für Kalifornien gelten, dafür kenne ich den Staat definitiv zu wenig.
  • Bis eine Initiative zur Abstimmung gelangt, vergeht in der Regel soviel Zeit, dass das Thema nicht mehr so heiss ist, wie bei der Lancierung. Das stimmt sogar bei solchen, die relativ schnell zur Abstimmung kommen (z.B. Kauf von FA 18 Kampfflugzeugen).
  • Das Schweizer Parlament hat die Möglichkeit einen Gegenvorschlag zur Abstimmung zu bringen. Meist eine abgeschwächte Form, der die radikaleren Zähne gezogen wurden und die höhere Chancen hat angenommen zu werden, wird sie mit der Volksinitiative zur Abstimmung gebracht.
  • Die Schweizer Politik ist tendenziell sehr Konsens orientiert und wenig konfrontativ (oder war dies zumindest lange Zeit nicht). Dies dämpft die Extreme.
  • Die Exekutive wird nicht direkt vom Volk gewählt und befindet sich in ihren Vorschlägen viel weniger in einem ‘Schönheitswettbwerb’ auf dem politischen Markt.
  • Die Schweizer Stimmenden sind einfach sehr konservativ. Initiativen haben kaum eine Chance und eine überwältigende Mehrheit dieser wird in der Regel abgelehnt.

Zum Schluss möchte ich noch anfügen, dass “Funktionieren” natürlich immer davon abhängt, welche Funktion man sich wünscht. Das Schweizer System mag seine Vorzüge haben, aber es ist zum Beispiel auch schwerfällig (was wiederum manchmal als Vorteil gesehen wird), oft reformresistent (wohl die Schattenseite von stabil) und manchmal unberechenbar. Ein perfektes System wäre aber sowieso unwahrscheinlich.

Habt ihr andere Gedanken warum die Schweizer Demokratie besser funktionieren soll als die Kalifornische?

1 Der Vollständigkeitshalber: Es gibt neuerdings eine Ausnahme dazu, aber das Instrument wurde nie benutzt und ich zweifle, dass es sehr bald benutzt wird.

Kommentare (7)

  1. #1 NU
    Juli 28, 2009

    Um in manchen Zielen vorwärts zu kommen braucht die Schweiz Jahrzehnte, dank direkter Demokratie. Anderswo geht es manchmal schneller. Wie war das noch einmal mit dem UNO-Beitritt? Mit dem Frauenstimmrecht? Direkte Demokratie hat sicher ihre Vorteile, aber vieilleicht solte man sie einmal “neu justieren”.

  2. #2 Shin
    Juli 29, 2009

    Diese Umsetzung kann durchaus mit sehr kreativen Interpretationen der Absichten der Initianten geschehen

    Jetzt bin ich aber interessiert was damit gemeint ist 😉

  3. #3 ali
    Juli 29, 2009

    @Shin
    Ein gutes Beispiel sind die Ausführungsbestimmungen zur angenommen Initiative zur ‘lebenslangen Verwahrung von extrem gefährlichen Sexualstraftätern’ (im Post verlinkt). Die Europäische Menschenrechtskonvention verlangt die Möglichkeit einer periodischen Überprüfung der Verwahrung. Man darf jemanden nicht bis zum St. Nimmerleinstag ohne Chance auf Rückkehr weggsperren. Genau dies verlangte aber die Initiative. Einzige Ausnahme war bei ‘vorliegen neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse’. Die Initianten haben immer wieder betont, dass dies ein Spezialfall sein soll, der sehr restriktiv gemeint ist (und nicht im Sinne der EMRK). Die Ausführungsbestimmungen sehen jetzt aber folgendes vor:

    Dieses Verfahren schliesst im Sinne der Volksinitiative einen Überprüfungsautomatismus aus, beachtet aber gleichzeitig die Grundsätze der EMRK: Die kantonale Strafvollzugsbehörde beauftragt von Amtes wegen oder auf Gesuch der betroffenen Person hin eine Eidgenössische Fachkommission, die lebenslängliche Verwahrung zu überprüfen. Diese vom Bundesrat neu zu schaffende Fachkommission prüft, ob neue, wissenschaftliche Erkenntnisse zur Therapierbarkeit lebenslänglich verwahrter Täter vorliegen. Gestützt auf den Bericht der Fachkommission entscheidet die Strafvollzugsbehörde, ob dem Täter eine Behandlung angeboten werden soll. Zeigt diese Behandlung, dass die Gefährlichkeit des Täters entscheidend reduziert werden kann, wandelt das zuständige Gericht die lebenslängliche Verwahrung in eine stationäre Behandlung um. Ist der Täter infolge hohen Alters, schwerer Krankheit oder aus anderen Gründen bereits ungefährlich geworden, kann ihn das Gericht ohne vorherige Behandlung bedingt entlassen.

    Dies ist ganz sicher nicht im Sinne der Initianten (aber es war der einzige Weg den die Juristen sahen, die Menschenrechte zu respektieren).

    Ein anderes Beispiel könnte die Verankerung der Alternativmedizin in der Schweizer Verfassung werden (bleibt aber noch abzuwarten). Gemäss dem jetztigen Gesundheitsminister müssen die Methoden einen Wirkungsnachweis wie alle anderen erbringen um Kassenpflichtig zu werden. Ich stehe aber unter dem Eindruck, dass die Initianten genau das umgehen wollten mit der Initiative (sonst hätte es ja keinen Verfassungsartikel gebraucht).

    In beiden Fällen würden die Absichten der Initianten (und sicher auch vieler Ja-Stimmenden) ignoriert.

  4. #4 David Marjanović
    Juli 30, 2009

    Wenn du es nicht schon getan hast, übersetz das auf englisch und schick es an die Financial Times. Die wird nämlich von ein paar Kaliforniern gelesen.

  5. #5 Christian W
    Juli 30, 2009

    Habt ihr andere Gedanken warum die Schweizer Demokratie besser funktionieren soll als die Kalifornische?

    Ich glaube, die Schweizer Demokratie funktioniert vor allem deshalb besser als die kalifornische, weil anders als du in deinem Artikel anführst, Bundesstaaten in den USA keineswegs stärker politisch zentralisiert sind. Es wäre mir jedenfalls neu, dass in der Schweiz die überwiegende Mehrheit der Entscheidungen auf kommunaler Ebene getroffen werden und nur wenige auf kantonaler oder Regierungsebene. Aber ich bin kein Experte für die politische Ordnung in der Schweiz.

    Meiner Ansicht nach funktioniert eine Demokratie umso besser, je weniger die bedeutenden Fragen vom Volk (da ist nunmal die Mehrheit nicht klüger als der Durchschnitt 😉 ) entschieden werden. Das Problem ist nur, dass irgendwer diese Fragen beantworten muss und bis unsere Rechner auf dem Niveau von Deep Thought angelangt sind, wir leider weiter auf den defizitären Menschen zurückgreifen müssen.

  6. #6 David
    Juli 30, 2009

    “In der Schweiz gibt es kein Gesetzesreferendum und Änderungen können nur Verfassungsebene eingebracht werden.”

    Das ist so nicht korrekt (auch mit der Anmerkung nicht). Müsste heissen: Es gibt auf Bundesebene keine Gesetzesinitiative (ausser der “allgemeinen Volksinitiative”, die demnächst wieder abgeschafft wird, bevor sie zum Einsatz kam). Aber Gesetzesreferenden gibt es schon, sogar sehr viele. Verfassungsänderungen unterliegen dem obligatorischen, Gesetzesänderungen und gewisse Bundesbeschlüsse und völkerrechtliche Verträge dem fakultativen Referendum.

  7. #7 ali
    Juli 30, 2009

    @David
    Du hast natürlich recht. Als ich das schrieb, dachte ich a) an die Bundesebene (womit ich Kalifornien zu vergleichen versuchte) und b) nur an Initiativen (ich weiss nicht ob es in Kalifornien Gesetzesreferenden gibt wie in der Schweiz). Ich war sprachlich nicht präzise genug. I stand corrected.