Der Senator des US Bundesstaates Oklahoma hat diesen Monat einen Vorstoss gemacht, der die Finanzierung von Politikwissenschaftlichen Projekten durch die National Science Foundation unterbinden soll. Gestern berichtete auch die New York Times darüber. Was hat Senator Tom Coburn bloss für ein Problem mit den Politikwissenschaften?

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Um es gleich vorweg zu nehmen: Ich bin natürlich Partei. Offiziell mache ich zwar Internationale Beziehungen, aber dies wird meist (und vor allem in Europa) als Spezialisierung innerhalb der Politikwissenschaften gesehen, was so falsch auch gar nicht ist. Natürlich nehme ich es ein wenig persönlich, wenn jemand meint, was wir so treiben sei nutzlos. Darauf soll man aber auch antworten dürfen, ohne dass die Argumente vom Tisch gewischt werden, mit dem Totschläger, dass man sich nur die Pfründe sichern wolle. Dies gilt besonders, wenn die vorgebrachten Argumente so schlecht sind, wie die von Senator Coburn.

Die Etats werden überall gekürzt und es ist bestimmt nicht verkehrt, wenn man schaut für was für Projekte das Geld ausgeben wird. Nur liest man die Argumentation des Herren Coburn, findet man alles andere als differenzierte Abwägungen. Er scheint ein spezifisches Problem mit dem Fach zu haben.

Da wäre zuerst einmal die Summe um die es geht: Coburn jammert, dass über die letzten zehn Jahre 91.3 Millionen USD für politikwissenschaftliche Projekte ausgegeben wurden. Das sind etwas mehr als 9 Millionen pro Jahr. Die NSF verfügt über 6 Milliarden jährlich. Eigentlich ist es erschreckend wie wenig für politikwissenschaftliche Projekte ausgegeben wird.

Von da an geht es in der Arguementation abwärts. Coburn zählt unter anderem verschiedene Projekte auf, die über diese Gelder finanziert wurden. Vielleicht bin ich vom Fachartikel-Lesen schon etwas weichgekocht, aber ich entdecke kaum etwas anrüchiges. Das Coburn dies als auflistenswert sieht, zeigt vor allem wie wenige dieser Repräsentant des Volkes vom Funktionieren einer Demokratie verstanden hat. Vielleicht sollte er sich ein paar politikwissenschaftliche Klassiker zur Demokratie zu Gemüte führen.

Coburn argumentiert, dass das Einsetzen von Steuergeldern für die Politikwissenschaften die USA nicht dem Ziel “Amerikas Position im Feld der Mathematik und [Natur]wissenschaften and die Gesundheit und das Wohlbefinden der Nation” näher bringen wird. Wie wahr. Ausserdem wird Vanille auch nicht besser schmecken und kein einziger Toaster wird so repariert.

Schnell wird deutlich, wie wenig er verstanden hat, was eine Politikwissenschaftlerin oder ein Politikwissenschaftler eigentlich machen:

The University of Michigan may have some interesting theories about recent elections, but Americans who have an interest in electoral politics can turn to CNN, FOX News, MSNBC, the print media, and a seemingly endless number of political commentators on the internet who pour over this data and provide a myriad of viewpoints to answer the same questions.

Analog schlage ich vor, dass die Astronomie und Physik den Wissenschaftsjournalisten überlassen wird und dass keine Gelder mehr in medizinische und biologoische Forschung gesteckt wird, da dies die Privatwirtschaft auch schon macht und machen kann.

Warum versucht Coburn bloss, sich in dieser Art mit einem solchen Thema, welches wahrscheinlich nicht einmal zum Stimmen holen sehr geeignet ist, zu profilieren wollen? Vielleicht erhellt folgendes Zitat diese Frage ein wenig:

Theories on political behavior are best left to CNN, pollsters, pundits, historians, candidates, political parties, and the voters, rather than being funded out of taxpayers’ wallets, especially when our nation has much more urgent needs and priorities.

Coburn scheint Schwierigkeiten zu haben zwischen der Analyse und dem Studienobjekt selbst zu unterscheiden. Offensichtlich meint der Esel, er verstehe mehr von Eseln als der Tierarzt, da er im Gegensatz zu letzterem tatsächlich einer ist. Von Methode und wissenschaftlichem Diskurs scheint er keine Ahnung zu haben.

Ich vermute es gibt noch einen zweiten Aspekt, den ihn stört. Er hat ein Problem mit vielen Resultaten der zitierten Studien. Er möchte schlicht die Antworten nicht hören. Darum stören ihn wertvolle Projekte wie das “Human Rights Data Project”, wenn aufgrund der gesammelten Daten gefolgert wird, dass die USA vermehrt gefoltert haben und es einen Nachahmer-Effekt gibt. Darum stört es ihn, wenn die US Bürger zu ihrer Einstellung zu Krieg befragt werden. Entlarvend hierzu ist folgende Stelle:

Research conducted by Paul Krugman, which the NSF website touts as “one of the country‟s foremost liberal commentators on economic, political, and policy issues.

Mal abgesehen davon, dass Krugman ein Ökonome ist und unter anderem für die kritisierte Forschung den Nobelpreis erhalten hat, scheint Coburn vor allem ein Problem damit zu haben, wenn die Resultate seinem Weltbild widersprechen. Er scheint Politik mit Wissenschaft zu verwechseln und hat sich wohl auf jenes Fach eingeschossen, welches unglücklicherweise beide Begriffe im Namen trägt.

Die Politikwissenschaften fördern das Verständnis vom Funktionieren des politischen Systems. Von A wie Abstimmungsverhalten bis Z wie Zivilgesellschaft sind viele Themen von grosser Wichtigkeit und wurden massgeblich in den Politikwissenschaften weiterentwickelt. Selbst in Spezialisierungen wie in den Internationalen Beziehungen wurden viele Ideen ausgearbeitet, die später in die Politik einflossen: Der Zusammenhang zwischen Frieden und Demokratie, Soft Power, Nukleare Abschreckung und Abrüstung und vieles mehr wurden stark vom akademischen Denken beeinflusst (manchmal zum guten manchmal nicht). Dass wird weder CNN noch FOX News übernehmen.

Wer noch mehr Reaktionen aus der Zunft lesen möchte hier einige weitere Beiträge aus der Blogosphäre: Crooked Timber, Daniel W. Drezner und bei The Monkey Cage

Kommentare (22)

  1. #1 Shin
    Oktober 21, 2009

    Wenn du Coburns Kritik hier korrekt wiedergibst, wovon ich natürlich ausgehe, ist diese tatsächlich etwas flach und wohl auch ideologisch gefärbt. Andererseits ist es meiner Erfahrung nach wirklich so, dass die meisten Politikwissenschaftler tatsächlich eher der linken Seite des politischen Spektrums zuzuordnen sind, von linksliberal bis marxistisch, und dass einige auch versuchen, ihre persönlichen politischen Ansichten unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit und mit Fachjargon verbrämt als “Analysen” unters Volk zu jubeln. Franz Walter aus Göttingen ist da ein besonders unangenehmes Beispiel.

  2. #2 femidav
    Oktober 21, 2009

    Um es gleich vorweg zu nehmen: Ich bin natürlich Partei. Offiziell mache ich zwar Internationale Beziehungen, aber dies wird meist (und vor allem in Europa) als Spezialisierung innerhalb der Politikwissenschaften gesehen, was so falsch auch gar nicht ist. Natürlich nehme ich es ein wenig persönlich, wenn jemand meint, was wir so treiben sei nutzlos

    Ach so, Sie sind ein Politik”wissenschaftler”! Na, das erklärt ja die Sinnlosigkeit Ihrer Posts.

  3. #3 ali
    Oktober 21, 2009

    @Shin

    Der erste Link sollte eigentlich zum Dokument führen in dem Coburn für seinen Vorstoss argumentiert. Ich habe versehntlich zweimal auf den NYT Artikel verlinkt. Dies ist nun korrigiert und du kannst Coburns Argumente selber nachlesen gehen. Wenn du dir die Liste von unterstützten Projekten anschaust, wirst du wenig finden, was zumindest dem Titel nach, eine solche Einseitigkeit vermuten lässt.

    Ob es nun einen Linksdrall gibt oder nicht in den Politikwissenschaften weiss ich nicht. Man muss sicher zwischen den Arbeiten und öffentlichen Statements unterscheiden (das gilt für alle Fächer: nur weil z.B. Francis Collins seine Religiosität verbreitet macht das ihn nicht zum schlechteren Biologen, auch nicht wenn er auch diesen Aussagen das Wissenschaftslabel anhängt). Sollte die Ideologie in den Analysen selbst sein, wird man diese auch methodisch und inhaltlich kritisieren können.

  4. #4 Ulrich Berger
    Oktober 21, 2009

    Coburns Argumente haben tatsächlich den dezenten Hauch von … wie soll ich sagen … Biertischrülpser.

  5. #5 Jörg Friedrich
    Oktober 21, 2009

    Ich halte es für unwahrscheinlich, dass die Politik die Förderung der Politikwissenschaft einstellen wird – einfach weil sie sie braucht. Wer Entscheidungen treffen will, muss zumindest ein wenig die Sicherheit verspüren, die Prozesse zu verstehen, in die er eingreift – und diese Spur von Sicherheit wird den Politikern durch ihre politikwissenschaftlichen Berater gegeben.

    Dass es eine Linkslastigkeit in der Politikwissenschaft gibt halte ich für eine einfach erklärbare optische Täuschung: bei einer acht Jahre dauernden konservativen Regierung nehmen die konservativen Politikberater unmittelbar auf die Regierung Einfluss während “linksorientierte” Wissesnchaftler nur über die Medien Einfluss nehmen können. Sie werden deshalb stärker in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Wenn Obama jetzt 8 jahre regiert, wird man am Schluss glauben, die ganze Politikwissenschaft sei stock-konservativ, weil die entsprechenden Wissenschaftler sich vor allem über die Öffentlichkeit Gehör verschaffen.

  6. #6 rolak
    Oktober 21, 2009

    politikwissenschaftliche Klassiker zur Demokratie

    Gibt es vielleicht eine Empfehlung aus berufenem Munde für einen Einsteiger? Bitte die Liste möglichst kurz halten, es soll keine Hauptbeschäftigung werden 🙂

  7. #7 Gluecypher
    Oktober 21, 2009

    Thomas Allen “Tom” Coburn, M.D. (born March 14, 1948), is an American politician, medical doctor, and ordained deacon. A member of the Republican Party, he currently serves as the junior U.S. Senator from Oklahoma.

    Naja, die Republikaner halten Wissenschaft eben für Teufelswerk, wenn sie nicht ihnen genehme Ergebnisse zeitigt. Altbekannt und überall nachzulesen. Die Refucklitards mögen nunmal keine Daten. “We dunn need no stinkin’ data, we know whuzz right an wrung!”

  8. #8 Shin
    Oktober 21, 2009

    @Gluecypher
    Die mit der amerikanischen Politik verbundene Emotionalität vieler Nicht-Amerikaner erstaunt mich immer wieder.
    Ich kann hier nur auf den Artikel dieses Blogs vom 11.7. verweisen. Der dort diskutierten Umfrage nach scheinen Republikaner die Wissenschaft im Schnitt sogar leicht positiver zu beurteilen als die Demokraten. Doch ein einmal gefälltes Vorurteil lässt sich ja bekanntlich schwerer zerstören als ein Atom…

    @Jörg Friedrich
    Ich bezog mich hier eher auf deutsche Wissenschaftler, wobei auf die USA bezogen Ihre Aussage wohl zutreffen mag, das weiß ich nicht. Mit amerikanischer Tagespolitik, von der Außenpolitik freilich abgesehen, beschäftige ich mich nicht besonders intensiv.

  9. #9 Jörg Friedrich
    Oktober 21, 2009

    Genau genommen wird Deutschland seit 25 Jahren konservativ regiert, oder war Schröder “links”? Insofern ist die Situation hier noch klarer.

  10. #10 Tim
    Oktober 22, 2009

    @ Jörg Friedrich

    Wer Entscheidungen treffen will, muss zumindest ein wenig die Sicherheit verspüren, die Prozesse zu verstehen, in die er eingreift – und diese Spur von Sicherheit wird den Politikern durch ihre politikwissenschaftlichen Berater gegeben.

    Wenn die Politikwissenschaft diese Prozesse wirklich “verstehen” würde, müßte sie doch auch präzise Vorhersagen treffen können – doch kann sie das?

  11. #11 CHR
    Oktober 22, 2009

    Sicherlich ist die Diskussion um die “politische Orientierung” der Politikwissenschaften Teil einer weiter reichenden kulturellen Auseinandersetzung vor allem in den USA, welche dementsprechend hierzulande auch aufschlägt, dennoch aber von den ideologischen Paradigmen der Vereinigten Staaten geprägt bleibt. Die Konfliktlinien sind dabei vergleichsweise klar zwischen Republikanern und Demokraten (Liberalen nach der US-Lesart), welche einen (gefühlt) wieder zunehmenden Zwist austragen.
    Als Zeichen dafür gibt es mannigfaltige Beispiele, nur um das hier behandelte um eines aus der “entgegengesetzten” Richtung vorzutragen, sei die derzeit ausgetragene Auseinandersetzung zwischen dem Weißen Haus und dem Nachrichtensender FOX genannt. Festzuhalten ist, dass diese Konflikte nach meinem Dafürhalten stark affektiv geprägte Vorstellungen von der Gegenseite zurate ziehen, um sich und die eigene ideologische Position zu verteidigen.

    Auch die Kommentare in den Blogs, aber auch hier zu diesem Beitrag weisen neben dieser inhaltlichen Dimension auf einen wissenschaftstheoretisch problematischen Aspekt hin, der sich für Gesellschaftswissenschaften allgemein und den Politikwissenschaften ganz besonders stellt.
    Grob skizziert sieht das Problem wie folgt aus: Der Untersuchungsgegenstand der Politikwissenschaft verfügt über einige ganz spezifische Voraussetzungen, denen der ontologische Naturalismus, der in den Naturwissenschaften zu herausragenden Errungenschaften geführt hat, nur bedingt gerecht wird.
    Da ist erstens, dass der Untersuchungsgegenstand ein nicht physikalischer oder zumindest nicht rein physikalischer, sondern auch ein sozialer ist. Zweitens kommt hinzu, dass der Untersuchungsgegenstand nicht bloß individuell betrachtet wird, sondern in einem aggregierten Zustand als Gesellschaft, Regime, Nation, Gruppe, Familie, Gemeinschaft etc.
    Das Problem der Gesellschaftswissenschaft tritt dann auf, wenn man sie an den Erfolgen der Naturwissenschaften misst und ihnen dabei die Unterschiede und daraus entstehenden Probleme der Erkenntnis- und Theoriebildung – an die Anwendung ist jetzt erst einmal nicht gedacht – nicht hinreichend einbezieht.

    Nur ein kurzer Gedankengang, der – grob vereinfacht – das Problem darstellen soll: Die Naturwissenschaften (alle methodisch nach dem ontologischen Naturalismus vorgehenden Wissenschaften sollen darunter erfasst sein) haben aus gesellschaftswissenschaftlicher Sicht einen enormen Vorteil, nämlich dass ihr Untersuchungsgegenstand nach physikalischen Regeln auf die wissenschaftliche Untersuchung reagiert. Ein Atom reagiert auf die Untersuchung innerhalb der physikalischen Eigenschaften seiner selbst, ist sich dieses Eingriffes aber nicht bewusst und kann gegebenenfalls darauf einwirken.
    Wohingegen nun deutlich sein dürfte, dass der erste Unterschied im in dieser physikalischen Reziprozität zwischen Untersuchungsobjekt und -subjekt liegt. (Es ist noch komplizierter und es gibt auch Methoden, diesen Umstand in der gesellschaftwissenschaftlichen Empirie abzufedern, doch bleibt die Zuverlässigkeit ein wenig im Argen.)
    Das Problem stellt sich dann aber noch in der zweiten Weise, dass nicht nur ein Untersuchungsobjekt, sondern gerade ein Verband von Individuen als Untersuchungsobjekt herangezogen wird. Anthropologie und Psychologie haben es zunächst einfacher, da sie ihre Untersuchungsobjekte auf Individuen und kleinere Individuengruppen eingrenzen können (auch das ist eine Vereinfachung), während die Gemengelage in Kollektiven weit schwieriger nach den Methoden der Naturwissenschaften zuverlässig messbar werden.

    Das nur als kleines Beispiel, am Rande sei aber noch die Schwierigkeit erwähnt, dass die Gesellschaftswissenschaften aber zugleich auch Teil des Untersuchungsgegenstandes selbst sind, zumindest in der Form, dass diesem Umstand Rechnung getragen werden muss.

    Worauf ich hinaus will ist, dass in solchen Diskussion oftmals die spezifische Problematik der Gesellschaftswissenschaft ausgeblendet wird, sie dann am Leitbild der herausragenden Methoden der Naturwissenschaften gemessen werden, ohne dass diese gleichförmig auf die Untersuchungsgegenstände der Gesellschaftswissenschaften angewandt werden können, was diese aber nicht davon freispricht, möglichst nach objektiven und naturalistischen Methoden zu suchen.

    Ich denke, in diesem Fall liegt auch eine Verwechslung oder Verkennung der spezifischen Problemlage der Gesellschaftswissenschaften vor und darüber hinaus auch eine ideologische Färbung selbst, welche daraus resultiert, dass die Politikwissenschaften sich mit Menschen als politische Wesen beschäftigen, welche auf die Ergebnisse der Forschung reagieren. Da Politikwissenschaften aber auch von politischen Wesen betrieben werden (wie sollte es anders sein?), ist mitunter noch nicht zu vermeiden, dass sie mit ihren Ergebnissen in den Untersuchungsgegenstand, in diesem Fall die politische Diskussion, hineingezogen werden oder auch selbst daran teilnehmen (mitunter auch notwendigerweise müssen).
    Die Kritik, an der Problematik der wissenschaftstheoretischen Problematik zu arbeiten, ist absolut berechtigt, doch kann nicht vorgeschrieben sein, diese unabhängig von den Gegebenheiten nach hergebrachtem naturalistischen Muster anzugehen. Unser Naturalismus muss zwangsläufig, so scheint es mir, ein anderer, aber nicht völlig abweichender oder gar metaphysischer sein. Simpel ausgedrückt: Fordert nicht die Politikwissenschaften auf, einen LSC (Large Society Collider) zu bauen, nur um im Kreise der Wissenschaften Anerkennung zu finden. Abseits der finanziellen, logistischen und methodischen Probleme eines LSC käme noch ein weiteres hinzu, dass sich den Naturwissenschaften zwar auch, doch nicht in dem Maße stellt: ein ethisches.

  12. #12 Jörg Friedrich
    Oktober 22, 2009

    @Tim: Etwas zu verstehen führt nicht unbedingt zu richtigen Vorhersagen. Wenn ich z.B. das Verhalten der Verkehrsteilnehmer verstehe, wenn ich weiß, welches Verhalten in welchen Situationen zum Stau führt oder einen Unfall verursacht, kann ich doch nicht vorhersagen wie lange ich morgen von Frankfurt nach Münster brauchen werde (dummes Beispiel, weil ich in Wirklichkeit nicht mit dem Auto sondern mit dem Zug fahren werde).

    Es ist klar, woran das liegt: Weil ich vom Verhalten der anderen konkreten Verkehrsteilnehmer abhängig bin, die gleichzeitig mit mir auf der Straße sind, zudem von der Zuverlässigkeit aller Autos usw.

    Selbst wenn alle Verkehsteilnehmer das gleiche Verständnis vom Verkehrsgeschehen hätten, wäre meine Fahrdauer nicht vorhersehbar. Und man kann auch nicht vorhersagen, wie lang morgen die Staus insgesamt sein werden, oder wie pünktlich wir im Mittel sein werden (ganz abgesehen davon, dass das niemand wissen will).

    Das gleiche Problem hat jedes soziale System, und jede Wissenschaft von sozialen Systemen. Trotzdem ist es für die Verkehsteilnehmer hilfreich zu wissen, welches Verhalten zu Stau und zu Unfall führt, und wie sie solche Situationen vermeiden können. Ebenso hilfreich ist die Politikwissenschaft.

    Übrigens, und auch das deutet CHR ja schon an, kann auch die Naturwissenschaft trotz Verständnisses der Prozesse nur in Ausnahmefällen Vorhersagen machen, und zwar unter sehr stark kontrollierten Bedingungen, im Labor, oder wenn die Bedingungen sehr einfach sind. Das hat damit zu tun, dass die Bedingungen da draußen halt meistens sehr komplex sind und selbst, wenn man alles versteht, kann man nicht alle Rand- und Anfangsbedingungen so genau messen als dass man eine genaue Vorhersage hinbekommt.

  13. #13 Gluecypher
    Oktober 23, 2009

    @Shin

    Doch ein einmal gefälltes Vorurteil lässt sich ja bekanntlich schwerer zerstören als ein Atom…

    Das ist meine (zugegebenermassen Subjektive) Erfahrung nach 4 Jahren Leben und Arbeiten in den USofA. Und wenn man sich mal die Debatte um “Pork and Earmarks” während der Stimulus-Debatte anschaut, kann man nicht umhin, dass dieses relativ anti-wissenschaftliche Denken (meinetwegen auch unwissenschaftlich) bei den Damen und Herren mit dem “R” doch sehr verbreitet ist. Vor allem, wenn einem die Daten eben nicht in’s Weltbild passen. Sie können sich auch mal die Rants von Leuten wie Rush Limbaugh anhören. Wenn’s nützt, dann is’ Wissenschaft toll, wenn einem die Sache nicht schmeckt, dann werden schnell mal ein paar Zitate aus dem Zusammenhang gerissen, Statistiken einseitg wiedergegeben und mal fix der schöne Spruch “Obama = ein Herr aus Braunau” hingehauen. Sie könnenn sich mal ein bisschen anschauen, wie viele Amerikaner nicht an die Evolution “glauben”. Sind zwar meist die schwer religiösen, aber die tendieren eben mal eher dazu, den Elefante statt dem Esel zu wählen.

    Ach so: “A whitty saying proves nothing” lieber Shin.

  14. #14 Tim
    Oktober 23, 2009

    @ Jörg Friedrich

    Das ist ja gerade einer der wichtigsten Aufgaben einer Wissenschaft: herauszufinden, auf welcher Ebene sie verläßliche Vorhersagen machen kann. Sie haben das Beispiel Verkehrswesen gebracht: Dort gibt meines Wissens ja inzwischen gute Modelle, mit denen man beispielsweise die Verkehrsdichte in Abhängigkeit von verschiedenen Ampelschaltungen vorhersagen kann. Also: Was passiert an Kreuzung A, wenn ich bei Ampel B die Rotphase verlängere? usw. Natürlich kann ich damit aber nicht vorhersagen, welcher Autofahrer morgen einen Unfall baut.

    Ich frage mich, ob Disziplinen wie die Politikwissenschaft schon entdeckt haben, auf welcher Ebene ihr Wissen gute Vorhersagen erlaubt.

  15. #15 CHR
    Oktober 23, 2009

    @Tim
    Die Frage nach der Vorhersagbarkeit ist durchaus berechtigt, doch ist die Beschränkung auf die Vorhersagbarkeit schon ein Element des Problems. Politikwissenschaftler sind sich des Problems durchaus auch bewusst und suchen auf vielfältige Weise nach Grundlagen und Methoden, ihre Untersuchungsgegenstände zu erfassen.
    Doch, der weitaus schwierigere Teil, der schon die Erfassung und Erhebung der Daten erschwert, aber auch die für Prognosen erforderlichen Rahmenbedingungen, ist ein anderer. Das Beispiel aus dem Verkehrswesen macht dies deutlich: Die Komplexität des beschriebenen Aufbaus ist vergleichsweise und deshalb beneidenswert einfach. Ich habe lediglich einige Variablen, deren Abhängigkeit voneinander ich messen muss, woraufhin sofort zur Suche nach Optimierungsvorschlägen übergegangen werden kann. In der Politikwissenschaft lassen sich Beispiele dafür finden, in denen das auch gemacht wird. Aus dem Stand fiele mir die Demoskopie ein, die durchaus zuverlässige Ergebnisse liefern kann, es gibt die vergleichende Politikwissenschaft, die qualitativ und quantitativ durchaus grundlegende Erkenntnisse über politische Systeme etc. bietet, auf deren Boden man auch vorsichtige Prognosen oder Einschätzungen bieten kann. Es ließen sich noch unzählige mehr finden, da bin ich mir sicher.
    Wenn man beim Beispiel des Verkehrswesens bleibt, wird aber das Problem der Politikwissenschaften und anderer verwandter Wissenschaften deutlich: Die spannendsten Fragen liegen durchaus auch in einem Bereich oberhalb des beschriebenen Versuchsaufbaus. Etwa der, wer die Ampeln baut, auf welcher Grundlage und mit welcher Legitimation. Und auch hier gibt es interessante Ansätze, doch sollte leicht zu erschließen sein, dass nun das Problem erst richtig anfängt, da Politikwissenschaftler keine Politiker sind und jene sich durchaus auch aus nachvollziehbaren Gründen erst einmal weigern, die Erkenntnisse der Politikwissenschaft in einem evaluierbaren Versuchsumfeld zu testen. Abgesehen davon stellt sich immer die Frage, ob eine solche Evaluation auch rechtens oder legitim wäre.
    Ich breche hier mal ab, aber die Problemlage ist von mir damit nur angerissen und nicht einmal ansatzweise vollständig beschrieben.

  16. #16 Jörg Friedrich
    Oktober 23, 2009

    Die Autorität zum “Ampelbau” – d.h. zum Festlegen des allgemeingültigen Regelwerks für das Verhalten aller Akteure in jeder Situation einschließlich der Macht zum Überwachen der Regeleinhaltung – wäre tatsächlich eine notwendige Bedingung für Vorhersagbarkeit. Das ist ganz analog zum naturwissenschaftlichen Experiment: Wenn ich alle Rahmenbediungenen kontrolliere und das Verhalten der einzelnen Versuchsobjekte kenne, kann ich den Ausgang des Experimentes vorhersagen.

    Ein solches Experiment haben wir im 20.Jahrhundert erlebt, es hieß “Planwirtschaft” und hat eigentlich ganz gut gezeigt, dass man weder Rahmenbedingungen noch Verhalten der Versuchsobjekte (Bürger) so gut festlegen und kontrollieren kann, dass man zuverlässige Vorhersagen machen kann.

    Für Politikwissenschaften gibt es also nur Vorhersagen unter einschränkenden Bedingungen: “Wenn die Akteure so und so reagieren und die Rahmenbedingungen sich so und so verändern, dann wird folgendes passieren…”

    Trotzdem ist die Politikwissenschaft sinnvoll, weil allein das Verständnis der Prozesse und Zusammenhänge schon hilfreich für Verhaltens-Entscheidungen ist.

  17. #17 Tim
    Oktober 23, 2009

    @ CHR, Jörg Friedrich

    Ich möchte auch keinesfalls bestreiten, daß die Politikwissenschaft der Politik wichtige Impulse liefern kann. Mir ging es hier aber vor allem um die Frage, in welchem Ausmaß man diese Impulse “wissenschaftlich begründet” nennen kann. Da dies aber wahrscheinlich zu einer letztlich wenig fruchtbaren Debatte um den jeweiligen Wissenschaftsbegriff der Teilnehmer führen würde, stoppe ich lieber. 🙂

    @ Und noch einmal CHR

    Aus dem Stand fiele mir die Demoskopie ein, die durchaus zuverlässige Ergebnisse liefern kann

    Die “Vorhersagen” der Demoskopie sind aber letztlich bloß Hochrechnungen, das ist ein wesentlicher Unterschied.

  18. #18 CHR
    Oktober 23, 2009

    @Tim
    Zum ersten Punkt: Es stimmt, es wäre schön, wenn man die Erkenntnisse der Politikwissenschaften in der Regel als in dem Umfang “wissenschaftlich begründet” bezeichnen könnte, wie es in vielen Fällen (den meisten) bei den Naturwissenschaften der Fall ist. Sie sind in dem Sinne aber wissenschaftlich begründet, dass die Politikwissenschaft – zugegeben, im Idealfall, der aber doch zumeist auch besteht – ihre Unzulänglichkeiten dokumentiert, kommuniziert und auch langfristig an der Verbesserung arbeitet.

    Zum zweiten Punkt: Ich habe mit der Demoskopie – aus anderen Gründen – auch meine Probleme, doch hat Jörg Friedrich die Vorzüge der naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung schon erläutert und von den Gesellschaftswissenschaft abgegrenzt. Ergänzend könnte man aber ebenso überspitzt fragen: Aber sind Laborexperimente nicht bloß vereinfachte Tests in nicht lebenswirklichen Umfeld? Was würde der Physiker bloß machen, wenn er sein Vakuum nicht hätte?

    Die Demoskopie ist unterkomplex beschrieben, wenn man unterstellte, ernstzunehmende Demoskopen würden einfach mal 1000 Leute anrufen und das hochrechnen.

    Das sind aber Detailfragen, wir sind uns ja grundsätzlich einig.

  19. #19 ali
    Oktober 23, 2009

    Zum Thema Vorhersagen:

    Wie hier schon mehrmals betont, ist bei einem Fach dessen Untersuchungsobjekt von sovielen (kaum kontrollierbaren) Variablen bestimmt wird äusserst schwierig. Dies gilt aber kaum nur für die Politikwissenschaften sondern allgemein für die Sozialwissenschaften. Will man das ‘Voraussagen’ zum Goldstandard erheben, wäre wohl tatsächlich die Demoskopie das Paradebeispiel (doch wieviel davon eigentlich den Statistikern anzurechnen ist, wäre dann eine andere Frage).

    Interessant ist dann auch wo dann die Wirtschaftswissenschaften situiert werden müssen, kommt diese doch häufig mit sehr simplistischen Annahmen zu relativ guten Vorhersagen. Wieviel Verständnis gewinnen wir, wenn wir wissen, dass die Annahmen kaum realistisch sind, die Voraussagen aber gut zu treffen?

    @rolak
    Nicht so ganz mein Spezialgebiet und ich bin daher sehr selektiv mit der Literatur in Verbindung geraten. Mitlesende Spezialisten sollen also Gnade walten lassen. Hier eine kurze Listen von lesenswerten Büchern die mir spontan zum Thema einfielen:

    Zivilgesellschaft:
    Gabriel Almond, Sidney Verba: The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations, Princeton 1963
    Making Democracy Work: Civic Traditions in Modern Italy. Princeton (Princeton University Press) 1993

    Revolutionen:
    Theda Skocpol: States and Social Revolutions: A Comparative Analysis of France, Russia, and China, Cambridge University Press (New York), 1979

    System
    Arend Lijphart: Patterns of Democracy: Government Forms & Performance in Thirty-six Countries. New Haven: Yale University Press, 1999
    Arend Lijphart: The Politics of Accommodation. Pluralism and Democracy in the Netherlands, Berkeley: University of California Press, 1968
    Robert D. Putnam: Diplomacy and Domestic Politics: The Logic of Two-Level Games. International Organization. 42(Summer 1988):427-460

    Parteien
    Seymour Lipset and Stein Rokkan: Cleavage structures, party systems, and voter alignmentst, Free Press, 1967
    Charles Tilly: The Formation of National States in Western Europe, 1975

    Zu internationalen Beziehungen kann ich komptenter Lesetipps einordnen. Aber diese Liste ist wohl eh schon zu lang.

  20. #20 rolak
    Oktober 23, 2009

    Vielen Dank Ali, das Lesezeichen auf den Kommentar ist gesetzt – jetzt muß ich nur noch einen etwas ausgedehnteren Besuch der Bibliothek einplanen…

  21. #21 Tim
    Oktober 26, 2009

    @ ali

    Interessant ist dann auch wo dann die Wirtschaftswissenschaften situiert werden müssen, kommt diese doch häufig mit sehr simplistischen Annahmen zu relativ guten Vorhersagen.

    Aber gerade in wirtschaftlichen Bereichen kann man doch auch mit ganz banaler Alltagserfahrung relativ gute Vorhersagen machen (Beispiel: Auktionshäuser, die je nach Situation das geeignete Versteigerungsverfahren wählen). Gut, in der Physik geht das natürlich auch: Wenn ich den Apfel loslasse, wird er herunterfallen. 🙂

    In den Sozialwissenschaften kann ich eigentlich nur die Kommunikations- und die Marketingwissenschaft recht gut überblicken, aber dort gibt es IMHO keinen Erkenntnisfortschritt, wie wir ihn aus der Naturwissenschaft kennen. Die Disziplinen stecken voller interessanter Ideen und modellieren Einzelphänomene, aber verstehen wir Konsumentenverhalten oder die Wirkungen der Massenmedien heute wirklich besser als vor 50 Jahren? Persönlich finde ich jedenfalls, daß der Erkenntnisbeitrag beider Wissenschaften nicht so sehr über der Alltagserfahrung liegt, wie es wünschenswert wäre.

    Oder noch mal Volkswirtschaftslehre: Die Ökonomen haben zwar munter Ratschläge gegeben, als es um die Stützung “systemrelevanter” Banken ging, aber soweit ich weiß, gibt es nicht eine einzige Modellierung, mit der man den angeblichen Dominoeffekt beim Zusammenbruch großer Banken wirklich mal durchrechnen könnte.

    Will man das ‘Voraussagen’ zum Goldstandard erheben, wäre wohl tatsächlich die Demoskopie das Paradebeispiel

    Wobei Demoskopen das Phänomen, das sie “vorhersagen” wollen, letztlich bloß vorab messen. Natürlich gibt es zum Beispiel bei der Sonntagsfrage die Blackbox, in der die rohen Umfrageergebnisse nach allen Regeln der Kunst bearbeitet werden, aber die Messung bleibt eine Messung.

  22. #22 H.M.Voynich
    November 3, 2009

    Daß sein derzeitiger Chef Politikwissenschaftler ist, hat bestimmt überhaupt nichts damit zu tun, oder?