Wer heute ein (sozialwissenschaftliches) Experiment mit Menschen machen will hat sich an gewisse ethische Grundlagen zu halten. Diese haben sich im Verlaufe der Zeit natürlich entwickelt und es ist noch nicht so lange her, als es kaum allgemein befolgte Prinzipien gab. Ich habe schon über das Milgram Experiment geschrieben (und nochmals hier). Nun bin ich auf einen interessanten Fall aus Harvard gestossen.
Henry A. Murray war ein Professor für Psychologie an Harvard. Er fokussierte auf was er Dyaden nannte, die Beziehung zwischen zwei Individuen. Damit versuchte er eine Brücke zwischen Soziologie und Psychologie zu errichten. Es war auch die Zeit einer besonders kalten (oder je nach Definition heissen) Phase des Kalten Krieges. Ein Modethema welches vor allem das Interesse der Geheimdienste weckte war die direkte Manipulation was jemand denkt und fühlt. Es war ja durchaus ein Krieg der Ideen und Ideologien. Wohl nicht zuletzt deswegen fürchtete man sich vor der Anwendung und Entdeckung der Gehirnwäsche durch die Sowjetunion (The Manchurian Candidate mit Frank Sinatra fängt diese Angst wundervoll ein). Eine Überschätzung in Bezug auf die Möglichkeiten der Sozialwissenschaften spielte wohl auch mit.
Murray war damit beauftragt eine Art Stress-Test zu entwickeln den er dann auch implementierte. Das Office of Strategic Services (der Vorläufer der CIA) wollte mit diesen Tests geeignet Kandidaten für ihre Arbeit finden. Die Tests waren verhörartige Situation in denen versucht wurde, den Anwärter durch Erniedrigungen und Beschimpfungen zu brechen (es sei erwähnt, dass sich diese groben Verhöre den euphemistisch etiketierten enhanced interrogation techniques der Bush Administration nicht einmal annäherten). Es ist unklar, ob das Harvard Experiment über welches ich schreibe, einen militärischen Zusammenhang hatte. Es gibt zwar gewisse Indizien (wie zum Beispiel eine sehr unklare Zielsetzung) aber keinen direkten Beweis. Das Experiment ist aber auf jeden Fall eine Fortführung dieser Forschung auch wenn unklar ist, was genau das Ziel des Experimentes war.
Murray heuerte Harvard-Studenten für ein Psychologisches-Experiment an ohne genau darauf einzugehen um was für eine Art Experiment es sich handelte. Die Kandidaten willigten nur auf folgendes ein:
Would you be willing to contribute to the solution of certain psychological problems (parts of an on-going program of research in the development of personality), by serving as a subject in a series of experiments or taking a number of tests (average about 2 hours a week) through the academic year (at the current College rate per hour)?
Sind Sie einverstanden zur Lösung von speziefischen psychologischen Problemen im Rahmen eines laufenden Forschungsprogramms zur Persönlichkeitsentwicklung) beizutragen indem sie als Testperson in einer Serie von Experimenten während dem akademischen Jahr mitwirken oder einige Tests machen (durchschnittlich etwa 2 Stunden pro Woche zu üblichen Universität Entschädigungsansätzen)? [Eigene Übersetzung]
Sie wurden gebeten einen Aufsatz über ihre persönliche Lebensphilosophie zu schreiben. Einen Monat später würde dann ein ‘junger Jurist’ mit ihnen die Vorzüge und Nachteile ihrer Lebensphilosphie debattieren. Vor diesem Interview mussten die Kandidaten noch unzählige andere Tests und Fragebogen ausfüllen die sie zu intimen Dinge befragten die von Daumenlutschen bis zu Masturbation und sexuellen Fantasien reichten. Am Tag der ‘Debatte’ (das Kernstück des Experiments im zweiten Jahr der dreijährigen Studie) stellte sich dann heraus, dass Murray nicht mit offenen Karten gespielt hat.
Die Kandidaten wurden in einen hell ausgeleuchteten kahlen Raum gebracht, mit Elektroden um ihre Körperfunktionen zu messen versehen und hinter einem falschen Spiegel gefilmt. Der ‘junge Jurist’ entpuppte sich als jemand der darauf getrimmt wurde, die Testpersonen frontal anzugreifen, lächerlich zu machen und zu erniedrigen. Darauf folgten ‘Erinnerungs-Session’ wo die Testpersonen zum Interview befragt wurden und teilweise die Filmaufzeichnungen ihres eigenen peinlichen Verhörs anschauen und kommentieren mussten. Die meisten Kandidaten empfanden diese Prozedur aus verständlichen Gründen als sehr unangenehm. Viele von ihnen kamen mit grösseren und kleineren Traumata aus den Versuchen mit denen sie noch Jahrzente zu kämpfen hatten. Die Testpersonen wurden von Murray auch für diverse Tests seinen Forschungsassistenten ‘zur Verfügung gestellt’.
Eine der Testpersonen war ein junger unsicherer Student mit wenig sozialen Kontakten. Sein Codename war Lawful. Die Sitzungen waren für ihn äusserst schwierig und wie andere trug er vermutlich Narben davon. Sein wahrer Name: Ted Kaczynski. Wem das nichts sagt, dem ist vielleicht der Spitzname bekannt, dem ihm gegeben wurde nachdem ihm das FBI auf den Fersen war aber nicht habhaft werden konnte: Unabomber). Inwiefern das Experiment ihn beeinflusste seine terroristischen Aktivitäten aufzunehmen und inwiefern sie sein Anti-Fortschrittweltbild und sein Misstrauen gegenüber der Wissenschaft prägten ist schwer auszumachen. Das ganze ist aber so oder so ein wichtiges Lehrstück in Ethik wenn es um sozialwissenschaftliche Experimente geht.
Quellenangaben: Die Geschichte von Murrays Harvard Experiment habe ich zum ersten Mal in einer Folge von Radiolab gehört. Der grösste Teil der Informationen in diesem Eintrag stammen aus einem Artikel der im Atlantic erschien. Er wurde von Alston Chase, dem Autor des Buches Harvard and the Unabomber – The Education of an American Terrorist während den Recherchen zu diesem verfasst.
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