Dieses Wochenende hat die Schweizer Bevölkerung mit rund 53% der sogennanten “Ausschaffungsinitiative” zugestimmt (ich habe schon dazu geschrieben). Es ist Zeit sich ein paar Gedanken zu machen.
Als Ausgangspunkt dieser Überlegungen möchte ich eine Frage beantworten, die für mich den Kern des Problems trifft und meine Antwort darauf, die mir dieses Wochenende wieder bewusst geworden ist. Die Thiel Stiftung vergibt Stipendien und verlangt von Bewerberinnen und Bewerbern ein Essay zu schreiben zur Frage:
Tell us one thing about the world that you strongly believe is true, but that most people think is not true.
Schreiben Sie über eine Sache von der Sie überzeugt sind, sie sei wahr, aber von der die meisten anderen glauben, sie sei es nicht.
Zumindest für die Schweiz ist das für mich die Idee, dass die Mehrheit per Definition Recht hat und vielleicht noch wichtiger Recht haben muss. Warum ich glaube, dass das nicht stimmt habe ich hier im Blog schon häufig dargelegt. Ich habe versucht Beispiele anzubringen, konkrete Fälle aufzugreifen und Definitionen von Demokratie zur Diskussion zu stellen. Doch scheint es meist auf ein “Die Mehrheit hat Recht. Basta!” hinaus zu laufen oder etwas aggressiver und selbstgerechter “Wenn Du meine Meinung nicht akzeptierst, ich aber die Mehrheit hinter mir weiss, bist du kein Demokrat” (ich befürchte dass auch dieser Eintrag solche Kommentare provozieren wird). Ich würde gerne von den Menschen die dieses Wochenende Ja gestimmt haben wissen, wie sie sich zu einigen ganz spezifischen Fragen stellen im Zusammenhang mit dieser Abstimmung. Fragen die für mich zentraler sind, als das Gefühl irgendwie von Ausländerinnnen und Ausländer in der Schweiz übervorteilt zu werden.
Ich verliere regelmässig Abstimmungen. Manchmal ärgert es mich, manchmal nehme ich es gleichgültig hin. Es passiert oft, dass ich durch Resultate überrascht werde, manchmal positiv. In den meisten Fällen, nehme ich das Resultat zur Kenntnis und akzeptiere es. Das ist tatsächlich ein wichtiger Teil des Wesens einer Demokratie und ich respektiere den Mehrheitsentscheid auch wenn ich mit den Argumenten nicht einverstanden bin. Doch bin ich fest davon überzeugt, dass Macht das Potential für Missbrauch birgt und darum auch Grenzen kennen muss. Eine solche Grenze wurde in meinen Augen mit der Minarettverbotsinitiative vor einem Jahr überschritten und nun wieder mit der Ausschaffungsinitiative. Ich möchte wissen ob und wo andere diese Grenze ziehen und falls nicht, wie sie dies mit ihrer Vorstellung von Demokratie vereinbaren können.
Ich finde es schwer nachzuvollziehen was in den Köpfen jener passierte, die ein Ja eingelegt haben zu dieser Initiative (ich kann mir bestenfalls vorstellen, welchen Anteil der Bauch beim Entscheid hatte). Darum möchte ich hier ein paar Fragen stellen an all jene, die Ja gestimmt haben. Es sind Fragen die Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit betreffen. Also bitte verzichtet auf argumentativen “Multikulti” und “Gutmenschen” Scheingefechte. Es ist einfach Dampf abzulassen indem man einen Zettel in eine Urne wirft und sich dann hinter der Mehrheit versteckt. Nicht so einfach ist es, die Konsequenzen zu Ende zu denken. Aber vielleicht tue ich den 53% Ja Stimmenden Unrecht. Bitte erklärt mir folgendes:
Institutionen und Macht
- Soll die Macht der Stimmbevölkerung unbeschränkt sein? Falls ja, warum ist ein Machtmissbrauch hier nicht möglich? Wäre ein Genozid, die Genehmigung von Folter, ein Apartheidssystem oder die Einführung einer Diktatur durch Volksabstimmung ebenfalls demokratisch? Es wäre nett, wenn die Frage direkt beantwortet werden könnte und nicht auf ein “darüber haben wir nicht abgestimmt” oder “das Volk würde sich schon richtig entscheiden” ausgewichen würde. Wenn die Mehrheit “immer Recht” hat, dann gilt das auch hier und sonst muss man begründen warum nicht.
- Wenn die Mehrheit das Mass aller demokratischen Dinge ist, ist dann der von der Bevölkerungsverteilung her extrem disproportionale schweizerische Ständerat (die voll gleichberechtigte kleine Kammer mit Kantonsvertretungen im Parlament) ebenfalls undemokratisch?
Rechtsgleichheit
- Warum soll jemand dessen Grosseltern in die Schweiz eingewandert sind und nicht naturalisiert wurden, für das gleiche Vergehen härter bestraft werden als sein schweizerischer Nachbar obwohl beide die gleiche Sprache sprechen, die gleichen Werte teilen und die gleichen Schulen besucht haben?
- Warum fehlen Vergehen auf der Liste der Initiative (Finanzbetrug)? Sind Sozialhilfemissbrauch tatsächlich in der Schwere mit Mord und Vergewaltigung vergleichbar? Falls ja, gilt das auch für Schweizerinnen und Schweizer und falls nicht wie rechtfertigt es sich, dass die Vergleichbarkeit vom Aufenthaltsstatus abhängt?
- Worin unterscheidet sich der kriminelle Ausländer vom kriminellen Schweizer? Inwiefern macht seine Nationalität (die man in der Regel nicht wählt) sein Vergehen moralisch verwerflicher?
Verfassung
- Wozu dient die Schweizer Verfassung? Wenn nun auch Bauvorschriften und mehr oder weniger willkürliche Listen ihren Weg in Verfassungsartikel finden, gibt es etwas, dass da nicht hineingehört? Wer soll über die Einhaltung der Verfassung wachen?
- Wie sollen Widersprüche zwischen zwei Verfassungsartikel gelöst werden, wenn ein Verfassungszusatz einem fundamentalen Rechtsprinzip widerspricht?
Völkerrecht
- Werden mit einer Abstimmung zu einem Thema mit der Mehrheit sämtliche vorhergehenden widersprechenden Abstimmungen annulliert? Heisst das, dass wir jetzt die bilateralen Verträge mit der EU kündigen müssen, Verträge die wiederholt von klaren Mehrheiten gutgeheissen wurden? Falls ja, wie kann die Schweiz so noch als glaubwürdige Vertragspartnerin gelten?
- Wie stehen Sie zu den Menschenrechten?
- Soll die Schweiz, wenn eine Mehrheit ein Gesetz verabschiedet, dass der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) widerspricht, diese künden? Falls nicht wie soll der Widerspruch aufgelöst werden?
- Soll die Schweiz aufhören sich für Menschenrechte im Ausland einzusetzen, wenn eine Mehrheit des Schweizer Volkes mit einigen Regeln des Völkerrechts nicht einverstanden ist? Wie kann der Eindruck verhindert werden, dass Menschenrechte beliebig sind?
- Warum soll die Schweiz das Recht haben sich über zwingendes Völkerrecht hinwegzusetzen? Falls Sie es nicht haben soll, wie sollen Widersprüche gelöst werden?
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