Es ist nicht zu übersehen beim Nachrichten lesen, dass rund 250’000 veröffentlichten Dokumente aus der US Diplomatie die Runde machen. Thilo hat bei Mathlog schon viele wichtige Fragen über Sinn und Zweck der Aktion aufgeworfen. Da es sich um diplomatische Depeschen handelt, möchte ich den jüngsten WikiLeak Coup aber auch noch kommentieren.
Ich gebe es zu, unabhängig davon ob es nun richtig oder falsch war, diese Dokumente in dieser Form zu veröffentlichen, kann ich nicht leugnen, dass mich die Texte sehr interessieren. Es ist eine wahre Fundgrube an Materialien zur US Aussenpolitik, die in vielen Themenbereichen der Internationalen Beziehungen Forschungsgold sind. Spekulationen können so mit Dokumenten belegt werden. Sie geben einen Einblick, der sonst vielleicht erst in etwa 50 Jahren, nach Freigabe der Dokumente, möglich wäre.
Darum hier ein kurzer Versuch das Leck in einen Kontext zu setzen (ich denke Thilo hat in Bezug auf die moralische Beurteilung, vieles schon geschrieben, dem ich beipflichte). Hier also eine spontane Reaktion zu vier Fragen:
Was steht in den Depeschen drin?
Die Anzahl der Dokumente ist enorm und ein Grossteil davon ist noch nicht veröffentlicht. Ein paar wenige Zeitungen haben Einsicht erhalten und deren Journalistinnen und Journalisten, respektive Redaktionen haben sich durch die Papiere gewühlt. Alles was wir im Moment an “Enthüllungen” serviert erhalten, sind also Passagen, die den Zeitungsleuten aufgefallen sind. Dies sind nicht unbedingt die relevantesten Passagen. So scheint mir zum Beispiel eine Tendenz vorzuherrschen, personenbezogene Aussagen zu betonen (da verkauft sich wohl besser).
Die New York Times erwähnt unter anderem Erkenntnisse wie:
- Die USA versuchten angereichtertes Uranium aus einem pakistanischen Reaktor in Sicherheit zu bringen und die Pakistanis zeigten sich kooperationsunwillig.
- Ein chinesischer Vertreter äusserte seine Frustrationen mit Nordkorea und diskutierte Wiedervereingungspläne im Falle eines Kollapses des Regimes.
- Die USA versuchten Guantanamo Häftlinge im Ausland unterzubringen in dem sie potentielle Nehmerländern Deals anboten.
- Der afghanische Vizepräsident reiste mit sehr viel Bargeld in die Vereinigten Arabischen Emirate.
- Berlusconi, Putin und reiche Geschäftsleute mauscheln vermutlich zusammen.
- Die USA übten Druck auf Deutschland aus, CIA Leute, die in die Entführung von einem Unschuldigen verwickelt waren, juristisch nicht zu verfolgen.
- Al Kaida kriegt Geld von saudischen Quellen.
- Die USA fliegen Angriffe auf verdächtige Militante im Jemen und die jemenitische Regierung beansprucht diese für sich.
Dieses sind in meinen Augen einige der interessanteren Elemente. Viel weitere sind ungeschminkte (da ebenfalls nicht für die Öffentlichkeit gedachte) Einschätzungen über Führungspersönlichkeiten in diversen Ländern.
Lernt man etwas neues?
Jein. Man muss kein Zyniker sein, um bei den meisten dieser “Enthüllungen” nicht überrascht zu sein. Vieles ist kaum neu für einen aufmerksam Zeitung lesenden: Das Pakistan, das immer “mehr Mittel zur Terrorbekämpfung” braucht ist nur bedingt Kooperationsbereit? Die USA diskutieren Pläne im Falle eines Zusammenbruchs von Nordkorea, welches vor einem Führungswechsel steht? Die USA setzen Zuckerbrot ein um die unliebsamen Guantanamohäftlinge nicht in den USA freilassen zu müssen? Die afghanische Regierung ist vielleicht korrupt? Berlusconi und Putin haben Verbindungen zu zwielichtigen Businessleuten? Die USA versuchen die Strafverfolgung ihrer eigenen Leute in ihrem sogenannten “Krieg gegen den Terror” zu verhindern? Die von einem Saudi gegründete Al-Kaida erhält Geld aus Saudi Arabien? Die USA fliegen Angriffe in Jemen und nicht der schwache jemenitische Staat? Gestern ging die Sonne unter?
Es gibt aber trotzdem Dokumente, die mir wirklich wichtig und veröffentlichungswürdig erscheinen. Nicht weil man etwas neues lernt, aber weil sie Spekulationen mit Belegen ersetzen. Gerade wenn es um moralisch verwerfliche oder gar völkerrechtswidrige Handlungen geht, sind solche Informationen von grosser Bedeutung. Sie können ein Instrument für zusätzlichen öffentlichen Druck auf Regierungen, die sich hinter dem Staatsgeheimnis verstecken, sorgen. Leugnen wird wesentlich schwieriger.
Was die Dokumente nicht sind
Ein grosser Vorbehalt muss bei einer grossen Anzahl dieser Dokumente angebracht werden. Diese Dokumente spiegeln nicht eine offizielle Position wieder. Sie geben auch nicht eine “Wahrheit” wieder. Diplomaten verhalten sich auch taktisch. Wenn ein Chinese einem Amerikaner sagt, dass sie das Verhalten von Nordkorea als frustrierend empfinden, dann tut er das vielleicht nicht, weil Nordkorea China frustriert, sondern vielleicht weil der denkt, dass die USA das gerne hören, zum Beispiel um sie zurück an den Verhandlungstisch zu kriegen. Er tut damit seine Arbeit. Wenn ein Diplomat Sarkozy als “dünnhäutig” bezeichnet, verfolgt er damit vielleicht auch administrationsinterne Ziele (vielleicht möchte er z.B. eine Mässigung des Tons erreichen für eine spezfische Frage). Dazu kommt dass die meisten dieser Depeschen nicht von sehr hohen Beamten verfasst werden. Über die effektiven Entscheidungsmechanismen und welche Informationen dafür wirklich herangezogen werden, erfahren wir kaum etwas.
Was bedeutet die Veröffentlichungen für die US Aussenpolitik?
Vermutlich bedeutet die Veröffentlichung wenig für die US Aussenpolitk. Man wird etwas Goodwill verloren haben, besonders wenn das Ego gross ist (was bei Spitenpolitkerinnen und -politkern nicht selten vorkommt). Doch werden sich die Erdogans, Westerwelles und Sarkozys auch wieder beruhigen und die Wunden ihrer Eitelkeit werden bald heilen. Einige Regierungen werden sich öffentlich rechtfertigen müssen, vielleicht wird es sogar irgendwo eine Koalition ins Wanken bringen. Doch wie die Situation im Moment aussieht, sind die Auswirkungen auf die US Aussenpolitik beschränkt. Ich glaube auch nicht, dass Diplomatinnen und Diplomaten nun für immer nur noch mit grösster Vorsicht ihre Depeschen verfassen werden.
Was der Berg an Dokumenten aber noch an Überraschungen und Interessantem bringen wird, kann im Moment noch nicht gesagt werden. Vielleicht steckt doch noch mehr drin, als es der erste Eindruck vermuten lässt. Wir werden das erst wissen, wenn sich die Heerscharen von interessierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich mit spezifischen Teilgebieten ihres Interesses auseinandersegesetzt haben. Das interessanteste wird wohl erst mit der Detailarbeit zu Tage gefördert. Ich für meinen Teil bin zum Beispiel gespannt, ob Dokumente zu den Uruguay-Verhandlungen zum Schlichtungsverfahren der Welthandelsorganisation gefunden werden können. Ich glaube nicht, dass es sehr viele gibt, die mit mir auf diese “Enthüllungen” warten.
Zum Schluss noch eine Anmerkung zur Legitimität der Aktion: WikiLeaks ist ein wichtiges Gefäss um staatliches Fehlverhalten anzuprangern. Es gibt viele Beispiele in der Geschichte, wo solche Lecks dunkle Machenschaften aufdeckten. Ein Mangel an Transparenz birgt immer das Risiko von Missbrauch. Bei inhaltlich mehr oder weniger wahllosem und in anderen Aspekten sehr spezifischen (heisst vor allem USA) Veröffentlichen hingegen riskieren WikiLeaks, dass es die eigene Glaubwürdigkeit untergräbt.
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