Heute haben sich die Ereignisse in Tunesien überstürzt. Während ich diese Zeilen schreibe versuche ich noch Sinn zu konstruieren zwischen Gerüchten, Agenturmeldungen, Tweets und Newstickermeldungen. Hier ein kleiner Zwischenbericht.
Der Verdacht dass etwas grösseres sich anbahnt erhärtet sich, schnell. Nachdem der Präsident Ben Ali angkündigt hatte auf eine Wiederwahl in 2014 zu verzichten, die Preise für Nahrungsmittel zu senken und die Zensur zu stoppen (und tatsächlich waren viele vorher blockierte Webseiten heute plötzlich zugänglich) kündigte er als Reaktion auf eine Grossdemonstration Neuwahlen an. Kurz darauf ruf er jedoch den Notstand aus um das “Privateigentum des tunesischen Volkes zu schützen. Bald kursierten Gerüchte, der Luftraum über Tunesien sei gesperrt und der Flughafen unter Kontrolle des Militärs. Es wurde gemunkelt Ben Ali hätte das Land in Richtung Paris verlassen. In den Strassen wurde offenbar geplündert. Dann wurde eine “wichtige Ankündigung” im Fernsehen angesagt. Am Fernsehen erschien Premierminister Mohammed Ghannouchi und kündigte an bis zu Neuwahlen ad interim das Land zu führen.
Im Moment ist es noch schwer zu sagen, was dies alles genau bedeutet. Gemäss Verfassung müsste eigentlich bei einem Rücktritt des Präsidenten der Parlamentspräsident übernehmen. Der Premier ist anscheinend nur für diese Rolle vorgesehen, wenn der Präsident vorübergehend Amtsunfähig ist. Das heisst, dass zumindest technisch Ben Ali nach wie vor Präsident von Tunesien ist. Ghannouchi ist auch ein enger Weggefährte von Ben Ali (was nicht weiter erstaunlich ist, hätte er ihn doch sonst nicht zum Premier ernannt). In einem Staat der so lange von einem autoritären Herrscher kontrolliert wird und Nepotismus systematisch ist, wird man innerhalb der Elite kaum jemanden finden, der nicht nahe am Präsidenten war.
Ohne Seitenwechsel des Militärs hätten sich die Ereignisse wohl kaum so abgewickelt wie wir jetzt beobachtet haben. Inwieweit dies ein Militärputsch ist, ist schwer einzuschätzen. Wenn ein autoritärer Machthaber so destabilisiert wird, schafft dies immer den Anreiz für Mitglieder der Machtelite in der zweiten Reihe, diese Dynamik anzuheizen und selber davon profitieren. Nicht jede Revolution ist zwangsläufig eine demokratische und es bleiben viele Fragezeichen bestehen.
Ebenfalls interessant wird es zu sehen, welche Rolle Paris in der ganzen Sache gespielt hat. Frankreich blieb auffällig lange stumm zu den Ereignissen und erst heute gab das Aussenministerium eine Reisewarnung heraus. Auch scheint es im Moment wo ich diese Zeile schreibe so, als ob Ben Ali unterwegs in Richtung Frankreich ist. Sollte sich dies erhärten, dann kann man davon ausgehen, dass Frankreich zumindest beim Aushandeln des Abgangs mit eine Rolle gespielt hat. [Edit: Soeben heisst es, einem Flugzeug aus Tunesien sei die Landung in Frankreich verweigert worden und es heisse von “höchster Stelle”, Ben Ali sei als Gast nicht erwünscht. (Le Monde)]
Sollte dieser Umsturz wirklich zu einem demokratischeren Tunesien führen wäre dies sicher auch ein starkes Signal an die verschiedenen autoritären arabischen Herrscher in benachbarten Ländern. Selbst mit einer Krake von Polizeistaat kann man die Machterhaltung nicht garantieren (und die Rolle des Internets sollte dabei nicht unterschätzt werden). Auch wenn die Armee und Polizei loyal zu sein scheinen, heisst das nicht, dass man Nachts ruhig schlafen kann. Es scheint am Ende als ob ein Gemüshändler mit seiner Verzweiflungstat nach 24 Jahren Herrschaft den Präsidenten zu Fall gebracht hat. Hoffen wir, es folgt gutes.
P.S.: Mit meiner Einschätzung von gestern, dass sich Ben Ali an der Macht wird halten können, lag ich ganz offensichtlich falsch. Ein gewisser Trost ist für mich, dass das Regime selbst anscheinend genau so von den Ereignissen überrascht wurde.
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