Seit meinen letzten Eintrag zu Tunesien hat sich in der sich rapide verändernden Situation wieder einiges getan. Mehre Themen wurden auch schon in den Kommentarspalten diskutiert. Ich möchte noch einige unsortierte Gedanken vorwiegend zur Sicherheitssituation und zur soeben bekanntgegebenen Übergangsregierung anfügen.
Sicherheitslage
- Es scheint als ob die Armee die Kontrolle hat, aber kaum Machtaspirationen. Gemäss unbestätigten Berichte war es die Armee, die sich weigerte, weiter gegen die Demonstranten vorzugehen. Das erklärt gemäss der New York Times den kurzfristigen Abzug und dann das Wiederauffahren der Panzer: Das Militär kam erst zurück, nachdem Ben Alis Abgang klar war. Wenn es jetzt einen starken Mann in der Armee gibt, dann ist das vermutlich der General Rachid Ammar. Er hat bislang noch keine politischen Ambitionen erkennen lassen.
- Die Berichte über willkürlich um sich schiessende Milizen sind besorgniserregend. Es scheint so als ob es sich um loyale Sicherheitskräfte von Ben Ali handelt (obwohl die New York Times den Ton diesbezüglich heute etwas geändert hat und auf die bisher fehlenden Belege hinweist). Dass gestern Schiessereien um den Präsidentenpalast und die Nationalbank stattgefunden haben, sind wohl ein Hinweis darauf, dass es durchaus auch bewaffnete loyale Kräfte gibt, die bereit waren, Widerstand zu leisten.
- Da die Aktionen relativ gut geplant wirkten (Waffen, die über die Stadt verteilt waren, ähnlicher Autotyp ohne Nummernschild oder Mietwagen, etc.) ist es plausibel, dass es sich um einen Destabilisierungsversuch handelte. Es ist gut möglich, dass ein solcher Plan aus der Schublade geholt wurde. Ich zweifle aber, dass er wirklich für diese Situation gedacht war, da ich kaum Chancen für eine Rückkehr von Ben Ali sehe. Vermutlich war das Ben Alis Plan B um den Ausnahmezustand auszurufen und sich als starker Mann zurückzumelden. Doch passierte alles viel schneller. Dieser Plan war aber die einzige Option für die Loyalisten worauf sie zurückgreifen konnten. Stimmt dies, sollte das Problem unter Kontrolle gebracht werden.
- Die Kontrolle scheint die Armee tatsächlich wieder herzustellen. Die Verhaftung von Entscheidungsträgern des Sicherheitsapparats gestern trägt da bestimmt dazu bei. Im Moment scheint die Hauptsorge den Scharfschützen zu gelten, die vereinzelt noch auf Dächern positioniert sind. Man kann vermuten, dass diese nicht zentral geleitet werden, von ihren Kameraden und Kommandoketten abgeschnitten sind und nun auf eigene Faust agieren.
- Ein weiteres Indiz neben der langsamen Wiederaufnahme des täglichen Lebens, dass die Armee die Lage unter Kontrolle kriegt ist, dass ich von mindesten einem Quartier weiss, wo man die Bürgerwehren zurück in ihre Häuser geschickt hat, da man mit Stock und weissem T-Shirt wenig gegen Scharfschützen ausrichten kann. Das Militär würde das Quartier nun bewachen (zuvor hat die Armee explizit um Hilfe gebeten).
- Mein Eindruck ist, dass die tunesische Armee, die im Verhältnis zu ihren Nachbarn eher klein ist, am Anfang mit der Sicherheits-Aufgabe völlig überfordert war. Nicht weiter erstaunlich in einem Polizeistaat wo der Sicherheitsapparat sich von einem Tag auf den andern praktisch in Luft aufgelöst hat.
- Wie sich die Lage Morgen entwickeln wird, hängt wohl stark davon ab, wie die Reaktion auf die heute vorgestellte Übergangsregierung (siehe nächster Abschnitt) sein wird. Im Moment ist wieder Ausgangssperre. In Anbetracht, dass heute schon protestiert wurde, muss man auch Morgen mit Kundgebungen rechnen (gerade weil viele der bisherigen Machtelite im Kabinett vertreten sind). Man hat nicht den Eindruck, dass hierfür grössere Massen mobilisiert werden können, aber das hängt wohl auch davon ab, wie die Behörden darauf reagieren werden. In Tunis selbst nehmen die Einwohner eher eine Beruhigung der Lage war.
- Gerüchten zufolge setzen sich die mutmasslichen Polizei-Milizen Richtung Süden ab, vermutlich über die Libysche Grenze (wo sie angeblich Zuflucht erhalten). Was das für die Zukunft der tunesisch Libyschen Beziehungen und das südliche Grenzgebiet bedeuten könnte, kann im Moment nicht abgeschätzt werden.
Die Übergangsregierung
- Die neue Übergangsregierung, die vorgestellt wurde, schliesst einige neue Minister mit ein. Diese Regierung der “Nationalen Einheit” ist nur beschränkt ein Bruch mit dem Regime von Ben Ali. Neu sind einige unabhängige Persönlichkeiten, wie eine Filmemacherin (Moufida Tlatli) und ein Blogger und Twitterer (Slim Amamou, vielleicht der erste Minister weltweit, der die Ankündigung zur Ernennung zum Minister via Twitter machte und mit einem Emoticon versah), Gewerkschaftsvertreter, Experten/Technokraten und Vertreter der Oppositionsparteien (nur Parteien jedoch, die vom Ben Ali Regime geduldet wurden).
- Die Schlüsselposition des Finanzministeriums, Verteidigung, Innere Angelegenheiten und Aussenministerium werden von ihren bisherigen Amtsinhabern behalten. Der Premier Ghannouchi bleibt ebenfalls im Amt. Weder die Islamisten noch die Kommunisten haben einen Sitz im Kabinett erhalten und wurden angeblich auch nicht in die Regierungsbildungsgespräche miteinbezogen.
- Obwohl eine gewisse Enttäuschung verständlich ist, dass so viele von der bisherigen Machtelite weiterregieren, würde ich argumentieren, dass dies im Moment wohl die am wenigsten schlechteste Lösung ist. Es gibt kaum andere Persönlichkeiten, die wirklich Regieren könnten, das Regime hat diesbezüglich gründlich gearbeitet in den letzten zwei Jahrzehnten. Man darf nicht vergessen, dass es sich um eine Übergangsregierung handelt und der Fokus sollte auf die zu organisierenden Wahlen sein. Egal welche Zusammensetzung zum jetzigen Zeitpunkt würde es dieser wohl an Legitimität fehlen und Stabilität ist eine Priorität, will man bald effektiv Wahlen durchführen können. Die grosse Frage ist, kann dies “die tunesische Strasse” nun auch akzeptieren, nach dem sie sich erfolgreich des Despoten entledigt hat.
- Ghannouchi hat diverse Reformen angkündigt in Bezug auf Presse- und Meinungsfreiheit, das Aufheben des Verbotes von Parteien und eine Freilassung aller politischen Häftlinge. Es bleibt zu hoffen, dass die Regierung nicht die Meinung ändert, wenn sich die Lage etwas beruhigt hat. Bis jetzt scheint man es ernst zu meinen.
- Die grosse Herausforderung wird sein, die ökonomischen Probleme anzupacken. Das ist etwas, das sich nicht von heute auf Morgen ändern wird und in der Euphorie wird das tunesische Volk vielleicht vergessen, dass sich ihre Situation nicht von Heute auf Morgen ändern wird. Die Enttäuschung ist wohl vorprogrammiert.
- Im Moment scheint man sich an die Verfassung halten zu wollen (die wohlgemerkt nie in einem demokratischen Prozess ausgearbeitet wurde), was zumindest von der Symbolik von grosser Bedeutung ist und eine gewisse Sicherheit schafft. Langfristig muss aber nun Legitimität erarbeitet werden.
P.S.: Ich habe die letzten zwei Tage vor dem Bildschirm klebend verbracht und die Ereignisse Minute für Minute mitverfolgt. Ich hatte nun auf die Schnelle nicht die Zeit jede Pressemeldung zu referenzieren und habe diesen Artikel aus dem Kopf geschrieben. Sollte jemand Quellen nachgereicht haben wollen, finde ich diese ziemlich sicher wieder und sonst bin ich auf Hinweise auf Fehler dankbar. Ich werde hier in diesem Thread rigoros und ohne Begründung die Kommentare moderieren, da ich auf das Gejammer im letzten Thread keine Lust habe. Ich werde wieder zu meiner üblichen zurückhaltenden Moderation zurückkehren, wenn ich wieder die Energie habe, mich mit Trollen auseinanderzusetzen.
Kommentare (15)