Viele westliche Staaten haben während dem Aufstand in Ägypten lange und in Tunesien zumindest kurz laviert. Statt die immer besungene Demokratie nun konsequent zu fordern konzentrierte man sich lieber auf die aussenpolitische Obsession der letzten zehn Jahre: Was wenn die Islamisten kommen?
Die Rettet-das-Abendland-Fraktionen witterten natürlich gleich den Anfang vom Ende und hörten schon die Muezzine das globale Kalifat verkünden. So wird in diversen Kommentarspalten und Blogs der Untergang herbeigeschrieben und mit allem was das eine nicht-blinde Religionsauge (das Rechte vielleicht?) erspähen kann, wird versucht die ängstliche Leserschaft in Angstschweiss zu versetzen. Viele relevante Fragen und oft auch die Bodenhaftung geht dabei schnell verloren. Darum hier drei Aspekte die mir, der wahrlich kein Freund des Islams (oder Religion allgemein) und schon gar nicht der Muslimbrüder ist, wichtig erscheinen. Es sind drei Fragen, die man sich beantworten sollte, bevor man seiner Paranoia freien Lauf lässt. Zwei betreffen die Kohärenz und eine das effektive Wissen und die Datenlage zu den Muslimbrüdern.
Hat jemand Demokratie gesagt?
Da wäre zuerst einmal der Doppelstandard mit dem sich der Westen keinen PR-Gefallen tut. Da spricht man immer von Menschrechtsdialog und demokratischen Reformen aber wenn es dem gehätschelten autoritären Herrscher ans Eingemachte geht möchte man den schönen Reden nicht unbedingt Taten folgen lassen. Dies und die Tatsache, dass der Islam dann häufig die einzige legitimen Oppositionsbildung zulässt macht, dass man so eigentlich die Islamisten fördert. Islamisten definieren sich häufig unter anderem über die Abgrenzung zu “westlichen Werten”. Wenn wir also meinen, dass Demokratie ein solcher Wert ist und die arabische Strasse dies fordert, warum zögern? Hamas und die iranischen Theokraten haben die Revolte begrüsst während sie gleichzeitig Sympathikundgebungen niederschmetterten. Ein wunderbare Möglichkeit sich auf die richtige Seite zu schlagen und die Doppelzüngikeit der anderen zu entlarven. Aber viele heuchelten lieber mit Ahmadinejad und Co. um die Wette.
Nun ist es tatsächlich ein Problem, dass Islamisten Wahlen gewinnen könnten. Nur wer darf entscheiden wer die Wahlen gewinnt und wer teilnehmen darf? Wir? Dies sind Ägyptens und Tunesiens Revolutionen nicht unsere. Es dreht sich nicht alles um uns. Wie glaubwürdig ist die Forderung nach Demokratie wenn man genau diese eigentlich aushebeln möchte? Sind wir denn plötzlich alle Mubaraks und Ben Alis? Man muss sich entscheiden auf welcher Seite man stehen möchte. Demokratie birgt Risiken. Das gilt aber in Ägypten ebenso wie in der Schweiz. Andere Demokratie nicht wagen zu lassen ist eine Einstellung die wohl in kolonialem Denken fusst.
Der Säkularismus der andern
Diese Frage wurde in einem Post zu Tunesien vor einer Weile ausgezeichnet formuliert. Da der Eintrag mit dem Titel Säkular Gut, Muslim Schlecht auf Englisch verfasst war, hier eine kurze Zusammenfassung des Arguments (ich empfehle aber die Lektüre des Originals). In dem Eintrag wird Schwarz-Weiss-Denken als das grosse Problem identifiziert: Ein Araber/Muslim (und da fängt das Problem schon an) sei entweder kulturell westlich geprägt und dann für Demokratie oder er ist nicht “westlich” und darum per Definition autoritär gesinnt. Oft werden Bedenken zum “Säkularismus” eines Landes geäussert aber was damit gemeint ist lässt man offen. “Säkulare Gesellschaft” kann bedeuten, dass Religion aus der Politik herausgehalten wird (schon an diesem Standard scheitern die meisten westlichen Staaten oft aber wir nehmen hier einmal das Gegenteil an), es kann aber auch die Abwesenheit von Religion an und für sich bedeuten. In diesem Falle findet man von Washington bis Berlin kaum eine “säkulare Gesellschaft” (trotzdem wird auch in Deutschen Medien so argumentiert).
Es gibt eine Tendenz wegen der Islampanik hier alles durch diese Brille zu betrachten, die Realität ist aber wie immer vielschichtiger. Wir weisen Motivationen unter anderem auf der Basis der Religion zu, nur weil es unser Weltbild bestätigt. Wenn eine Frau im Kopftuch demonstriert, will sie dann die falsche Demokratie? Regime wie die in Tunesien und Ägypten waren eben nicht nur undemokratisch, sondern unterdrückten die Religionsfreiheit. Im Artikel wird die Türkei als Beispiel aufgeführt wo die Islamisten via Wahlurne gegen das Establishment aufbegehrten.
Vielleicht hilft dieses Beispiel ebenfalls aus dem zitierten Eintrag: Die New York Times schrieb, dass Tunesien anders sei, als seine arabischen Nachbarn, da Frauen “keine Kopftücher tragen müssen”. Kurze Schätzung liebe Lesenden, in wie vielen arabischen Ländern ist das gesetzlich festgeschrieben? Gemäss dem Eintrag sind dies nicht Mauritanien, Marokko, Algerien, Libyen, Ägypten, Jordanien, Libanon, Syrien, Irak, Qatar, die Vereinigten Arabischen Emiraten, Kuwait, Oman, Yemen und Bahrain. Einen Kopftuchzwang gibt es hingegen in Saudi Arabien, (dem nicht-arabischen) Iran und Afghanistan (und eventuell Sudan). Das wären 3 von 18.
Fakten und Ängste
Als jemand der sich eigentlich mehr Säkularismus wünscht (in jeder Hinsicht und überall) wäre ich natürlich von einer Machtergreifung der Muslimbrüderschaft nicht begeistert. Aber wie wahrscheinlich ist eine solche? Die meisten die sich zum Thema äussern, haben entweder etwas zurechtgegoogelt, was ihre vorgefasste Meinung stützt oder machen sich nicht einmal die Mühe überhaupt irgendwelche Quellen anzugeben. Hier der Versuch einer ehrlichen Einschätzung eines nicht-Ägypten Kenners auf der Basis von was ich für vetrauenswürdige (meist akademische) Quellen halte.1
Zuerst einmal hat die Muslimbrüderschaft offiziell der Gewalt abgeschworen. Die kann natürlich auch unter dem Druck des Regimes passiert sein. Das Al-Kaida nahtlos aus der Muslimbrüderschaft enstanden sei, stimmt nicht. Die Beziehungen waren von Anfang an eher durch Spannungen und Ausschlüsse geprägt. Dazu kommt, dass die Muslimbrüder nicht dieser auf eine Linie eingepeitschter Block sind, als den sie dargestellt werden. Es gibt zum Beispiel innerhalb der Organisation einen Generationenkonflikt der auch die Kluft zum Regime aufgerissen hat (hier und hier, 2009, Französisch). Das die Muslimbrüder erst so spät auf den Zug aufgesprungen sind ist nur ein weiteres Zeichen, wie sehr sie sich vom politischen Puls entfernt haben. Die Organisation die kurz vor der Machtergreifung stehen würde ist eine Karikatur der Organisation.
Nun findet man viele Zitate die einen radikaleren Flügel präsentieren. Diese einzuordnen ist schwer. Man kann aber deswegen nicht alle moderaten Stimme abtun mit dem Argument, sie hätten halt Kreide gefressen und warten nur darauf zuschlagen zu können. Dies ist aber Spekulation und vermutlich eine grosse Portion Projektion. Wenn wir zum Beispiel in den USA die Politikerinnen und Politiker an ihrer Rhetorik messen, dann müssen wir nicht bis zum Nil blicken um uns Sorgen machen zu müssen. Man kann nicht mehr als abwarten. Es ist tatsächlich so, dass in den seltenen Fällen wo Islamisten in die Regierung/Parlament eingebunden wurden (z.B. Türkei) eine politische Mässigung stattgefunden hat.
Das ist alles gut und recht mag nun so mancher sagen aber was sind die Zahlen? Das Problem ist, dass man zu einer Organisation die so lange im Untergrund war, nicht sehr viele Zahlen hat. Auf der Basis einer Studie zur “religiösen Rechten” in Ägypten aus dem Jahre 2008 gibt es eine Schätzung. Daran wird das maximale Potential für die “religiöse Rechte” bei 60% angesetzt (gar 80% für Männer). Das Minimum wird auf 20% festgelegt. Letztere Zahl finde ich etwas wacklig, da sie alleine auf der letzten Parlamentswahlen in Ägypten von 2005 basiert. Die Situation sich zu stark verändert hat um auf dieser Grundlage ein Minimum festzulegen. Das Maximum wäre unter der Annahme, dass alle Antwortenden an die Urne gehen (was sehr unwahrscheinlich ist). Dies ist also keine Voraussage sondern eher ein Setzen möglicher Leitplanken. Es gibt auch eine neuere Umfrage die besagt, dass 52% der Bevölkerung den Muslimbrüdern gegenüber negativ eingestellt ist und 15% positiv. Es dürfen aber starke Zweifel an deren Repräsentativität geäussert werden. Erstens war es eine Telefonumfrage (schliesst wohl viele Ärmere aus) und zweitens nur in Kairo und Alexandria (also unter Ausschluss der ruralen Bevölkerung). Dies wirkt nach einem Rezept, die Unterstützung für die Muslimbrüder zu unterschätzen.
Man muss wohl feststellen, dass man kaum gesicherte Aussagen machen kann. Wer anderes behauptet und ja, ich meine euch Angstmacher da draussen, ist intellektuell nicht ehrlich und versucht vermutlich zu manipulieren.
1Bitte nicht mit irgendwelchen Posts der pseudo-intelligenten Achse der Deppen ankommen oder einem Link den man zufälligerweise im Becken der frustrierten PI-ler gefunden hat antanzen. Diese wählen ihre Quellen nämlich nach Aussage und nicht Vertrauenswürdigkeit.
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