Gestern war auf der NZZ Online ein Artikel zu lesen, der sich mit Einwanderung in die Schweiz beschäftigt (wer mir auf Twittert folgt, hat ihn vielleicht auch schon gelesen). Er illustriert schön, was mich an Migrationsdebatten ärgert. Man gibt vor mit Zahlen und Fakten ein Argument zu konstruieren, überzeugt aber bestenfalls durch das Ansprechen von Ressentiments.
Es war schon nach den einleitenden Sätze zu ahnen. Wenn jemand dafür gelobt wird, dass er “ausspricht, was viele denken” folgt meist nicht viel Gutes. Einmal davon abgesehen, dass dieser Satz ein Tabu suggeriert, ein Mythos den SVP, Sarrazin und Co. pflegen, weil sie damit den “wir-sind-eine-unterdrückte-Minderheit-Reflex” bedienen, das Volksgefühl ist kein Beleg für die Existenz eines Problems. Es ist mir bewusst, dass die Politik zur Stimmenmaximierung sich aus Prinzip solchen Phänomenen annimmt. Ich habe hingegen glücklicherweise die Freiheit die Faktenlage zu hinterfragen und den Bluff als solchen zu benennen ohne meinen Job zu gefährden. Also wieder einmal zum Mitschreiben: Die Mehrheit hat nicht immer recht.
Und nun zum Artikel. Er argumentiert schon fast in Malthusischer Tradition, dass es “eng” würde in der Schweiz und bei rückläufiger Geburtenquote ist es auch einfach den Schuldigen auszumachen: Die Einwanderung im Allgemeinen und die Personenfreizügigkeit mit der EU im Speziellen. Im Artikel werden vor allem offizielle Stellen zitiert, die auf die positiven ökonomischen Auswirkungen dieser Einwanderung hinweisen. Gleich wird aber zu bedenken gegeben, dass dies nicht für alle gelte. Was uns aber wirklich interessieren würde wäre doch der Netto-Effekt, oder?
Im Artikel tauchen ein paar mit Zahlen unterfütterte ein paar einfach so hingeworfene Argumente auf, warum es “eng wird in der Schweiz”. Das erste ist das lächerlichste: Es fühle sich “schon jetzt eng an: Immer mehr Menschen drängen sich in die Züge, wollen dieselbe Wohnung, denselben Job, denselben Studienplatz.” Die NZZ enttäuscht, wenn sie ernsthaft das Gefühl hat dass eine vermeintliche kollektive Klaustrophobie als Basis für die Migrationspolitik dienen sollte. Mit solchen Bauch-Argumenten sollte eine seriöse Zeitung nun wirklich nicht hausieren.
Das nächste Argument betrifft Imobilien-Preise und Mieten.
Spürbar wird dieser Zustrom beim knappen Boden. Gut betuchte Zuwanderer treiben die Preise von Wohnungen und Häusern in die Höhe, und zwar in den grossen Zentren und steuergünstigen Agglomerationen. Viele Einheimische werden wegen der hohen Mieten in die umliegenden Gemeinden abgedrängt.
Das ist ein Klassiker den man überall auf dem Globus findet und wenig mit Einwanderung selber zu tun hat. Ich habe Leute in Oregon über die Kalifornier klagen hören, die sich genau dieses Verbrechens schuldig machen. In Wales klagt man über die Reichen Londoner, die die Bodenpreise in die Höhe treiben. Es gibt bestimmt auch bei uns lokale Beispiele, wo die reichen Städter die ländliche Unschuld zerstören. Warum dafür die Einwandererung verantwortlich gemacht wird und nicht die Schweizer Verkaufenden, die das Geld gerne nehmen, ist mir ein Rätsel. Will man es denn als Problem definieren, dann ist es eines des freien Marktes und nicht der Migration. Aber ich bin mir nicht sicher ob die Alternativen besser wären und ziemlich sicher, dass die NZZ von diesen nichts wissen will.
Dann heisst es, dass der Verkehr zunehmen würde. Diese “Entwicklung beruht nicht nur auf der Bevölkerungszunahme – aber auch.” Da würden mich dann die Zahlen interessieren. Wieviel dies von den 60% (Personenverkehr) und 70% (Güterverkehr) bleibt offen. Ebenso wie sich die Prognosen auf Privatverkehr und Öffentlichen Verkehr verteilen. Es waren wohl die einzigen Prognosen die man fand. Man hätte die Zahl also auch gleich weglassen können. Ich habe keine entsprechende Statistik gefunden und habe den Verdacht, dass der Autor diese auch nicht kennt (warum soll er sie sonst unerwähnt lassen?), aber die gefundenen Zahlen haben halt zu schön ins Konzept gepasst. Man könnte natürlich den Spiess auch umdrehen und sagen Wirtschaftsentwicklung schafft Problem weil der Verkehr entsprechend zunimmt. Man muss etwas gegen das Wachstum unternehmen. Aber die Migration zum Problem zu machen ist halt einfacher und einleuchtender.
Anschliessend wird der grosse Anteil von ausländischen Studierenden beklagt. Kein Aufrechnen was das für den internationalen Forschungsstandort Schweiz bedeutet. Wieviele helvetische Studentinnen und Studenten es im Ausland gibt (es gilt ja Gegenrecht). Das Argument bleibt völlig eindimensional, mit der zu ziehenden Schlussfolgerung fest im Blick: Wir haben nicht genug Platz und Ausländerinnen und Ausländer nehmen diesen weg.
Zu guter Letzt wird auch noch der Energieverbrauch bemüht. Klar, mehr Menschen brauchen mehr Energie. Ist dies nun wegen der Sorge um den CO2 Ausstoss? Dann wird es wohl eine Enttäuschung sein für die NZZ zu hören, dass diese Leute eben so viel Emissionen in Lörrach und Anemasse verusachen werden wie in Basel und Genf. Geht es aber um die Schweizer Energiepolitik: Die Eingewanderten zahlen schliesslich dafür mit ihren Steuern (oft ohne Mitsprache) und ausserdem ist Wirtschaftswachstum alles andere als gut will man den Energieverbrauch reduzieren. Zahlen wie die Einwanderung den Verbrauch beeinflusst gibt es keine, nur eine Prognose über die Zunahme des Gesamtenergieverbrauchs. Ich äussere einmal den Verdacht, dass die weniger “schlimmen”, will heissen reichen und gut ausgebildeten Migrantinnen und Migranten durchschnittlich mehr Energie pro Kopf verbrauchen. Wieder stelle ich mir die Frage: Will man hier nicht einfach mit suggestiven Zahlen belegen, was man sich von Anfang an in den Kopf gesetzt hat?
Das letzte Argument betrifft die Sozialversicherungen. Ausländerinnnen und Ausländer und die Sozialversicherungen sind immer eine garantiert explosive Mischung, die das Blut der Massen zum kochen bringt. Die NZZ verzichtet dort ganz auf die Nennung von Zahlen. Es werden nur zwei Politiker zitiert. Wir wissen nicht, wie hoch diese Ausgaben sind, ob es Schätzungen gibt und schon gar nicht was das Netto bedeutet (stützt die Einwanderung doch zum Beispiel die Altersvorsorge).
Ohne wirkliche Zahlen und auf wackligem Fundament wird die Migration also für zukünftige Probleme verantwortlich gemacht. Widersprochen wird dem wohl kaum werden, schliesslich ist das ja nur “was alle denken.” Wenn der im Artikel zitierte Rudolf Strahm dann sagt man müsse etwas tun, weil es sich sonst politisch wieder “entladen” würde, stimme ich ihm da zu. Nur nicht mit vorauseilendem gehorsam. Vielleicht versuchen wir es für einmal mit einer ehrlichen Debatte und echten Fakten.
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