Schon oft habe ich hier über Abstimmungen in der Schweiz geschrieben. Bei diesen ganzen Urnengängen gerät der vielleicht wichtigste oft etwas in den Hintergrund: Die Parlamentswahlen. Diesen Herbst am 23. Oktober 2011 ist es wieder einmal so weit.
Dieser Post dreht sich vor allem um ein Online Instrument zur Ermittlung der Kandidatinnen und Kandidaten, die den persönlichen Präferenzen am nächsten stehen. Es handelt sich um das Tool smartvote.ch. Für die Nicht-Eidgenossen möchte ich aber einen kurzen und vereinfachten Überblick geben wie in der Schweiz gewählt wird. Jene die das System kennen, dürfen den nächsten Abschnitt gerne überspringen.
Gewählt werden zwei gleichberechtigte Kammern des Parlaments: Die kleine Kammer, der Ständerat (in der Regel zwei Sitze für jeden Kanton) und die grosse Kammer, der Nationalrat (proportionale Sitzzahl für Kantone nach Bevölkerung, 200 im Total). Ein Wahlbezirk ist ein Kanton, das Äquivalent zu einem Bundesland in Deutschland. Die kleine Kammer wird im Majorzverfahren gewählt (das heisst in der Regel absolute Mehrheit), die grosse Kammer im Proporz. Man kann so viele Personen wählen, wie der Kanton in dem man lebt Sitze hat. Diese Listen können beliebig zusammengestellt werden, man ist also nicht an eine Parteienliste gebunden. Jeder Name gibt eine Stimme für die entsprechende Partei (man kann auch die leere Zeilen einer Partei “widmen”). Gemäss der Anzahl Stimmen die eine Partei erhält, werden die zu vergebenden Sitze verteilt. Diese werden wiederum gemäss der Stimmenanzahl, die Einzelpersonen erhalten haben, verteilt. Gewinnt eine Partei also zum Beispiel zwei Sitze nach dem alle Stimmen für Ihre Kandidierenden in einen Topf geworfen wurden, dann erhalten die zwei Bestplatzierten dieser Partei diese.
Darum interessiert es natürlich welche Kandidierenden von den vorgeschlagenen Listen im Kanton in dem ich wahlberechtigt bin am ehesten meinen politischen Ansichten entsprechen. Genau da versucht smartvote.ch zu helfen. Man beantwortet einen Satz Fragen zu politischen Themen, die Helvetia bewegen und kriegt dann eine Liste mit Personen, die ähnliche politische Ansichten haben. Das kann man dann auch hübsch visualisieren (es gäbe viel über das folgende Spinnennetz zu schreiben, das ist aber für ein anderes mal. Ich mag es auf jeden Fall als Spielerei):
Das ganze ist auch eine gute Lektion für Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler. Die Seite illustriert, wie wichtig die Fragen sind, die man stellt. Hier ein paar Beispiele über die ich gestolpert bin. Man findet bestimmt noch viele andere:
Bei dieser in der Schweiz äusserst “heissen” Frage zum EU Beitritt gibt es ein Problem, weil die Motivation für die Antwort unterschiedlich sein kann. Ich kann ein flammender EU Befürworter sein, aber aus taktischen Gründen mich gegen eine sofortige Aufnahme von Verhandlungen positionieren. Ausserdem wenn ich überzeugt bin, dass im jetzigen Klima solche Verhandlungen vergebens wäre, könnte ich dagegen sein, obwohl ich sie eigentlich für wichtig halte. Man kann davon ausgehen, dass hier natürlich eine Prinzipfrage gemeint ist, schliesslich ist das auch der grosse politische Graben in der Schweizer Politlandschaft. Gerade hier wüsste ich aber gerne was potentielle Kandidatinnen und Kandidaten genau zur Sache denken und nicht nur eine Reduktion auf Schlagworte sehen.
Diese Frage ist zweideutig. Wenn ich dem nicht zustimme, weiss ich nicht, ob dies ist, weil ich eine restriktivere oder liberalere Lösung nötig finde. Ich vermute das gemeint ist, dass man mit der Aussage einverstanden ist, wenn man für diese oder eine liberalere Lösung ist. Wiederum würde das System sonst wohl die falschen Abgeordneten ausspucken, beantwortet man die Frage anders.
Diese zwei Fragen kranken an einem ähnlichen Problem: Es wird meines Erachtens zu wenig differenziert und ich muss eine Grundsatzposition zu einem Gesamtpaket einnehmen. Es gibt zum Beispiel einen Unterschied zwischen einmaligen respektive ausserordentlichen Schutzaufgaben (zum Beispiel erhöhte Alarmbereitschaft) und quasi permanenten oder wiederkehrenden Bewachungsaufgaben. Sicher nicht funktional ist es, dass in einer Frage Harte und Weiche Drogen zusammengepackt werden. Da würden sich bestimmt viele ausdifferenzieren.
Hier weiss ich kaum was mit der Frage genau gemeint ist. Man kann sich hundert Szenarien möglicher Implementierungen vorstellen (eine Frau oder 80%? Finanzielle Steuerung? Verpflichtung? Bonus/Malus System? etc.) und finde sie daher kaum mit gutem Gewissen beantwortbar. Es hängt alles daran, wie sich die antwortende Person diese Massnahme vorstellt.
Es ist mir klar, dass als Messung grundsätzlicher Standpunkte die Seite wohl durchaus ihren Zweck erfüllt. Ich weiss auch wie ich die Frage beantworten muss, damit Kandidatinnen und Kandidaten gefunden werden, die meiner Meinung entsprechen. Es ist aber nicht gut, wenn ich mir überlegen muss, wie diese antworten würden, damit ich die richtige Antwort geben kann. Schliesslich will ich für mich wählbare Leute finden und nicht umgekehrt.
Ein ganz anderes Problem für mich war das parteipolitische Kaleidoskop, das für mich bei smartvote.ch resultierte. Da habe ich nämlich eine wahltaktische Schwierigkeit. Erstens handelt es sich um Leute der unteren Listenplätze (spricht wohl für die Egozentrik meiner politischen Präferenzen). Die Wahrscheinlichkeit ist also gross, dass diese Stimme zwar an die Partei gehen wird, aber die Person keine Chance auf einen Sitz hat. Wenn ich also die Exotin einer Mitte-Rechtspartei wähle, die mir vielleicht durchaus entspricht, verhelfe ich damit vielleicht einer Partei zu einem Sitz, der meinen Anliegen total zuwiderläuft. Ich möchte dann die Stimme als zweitbeste Lösung vielleicht doch einer anderen Partei geben. Zweitens handelt es sich bei mir um kleinere Randparteienlisten. Die Stimme wird also ziemlich sicher über sogenannte Listenverbindungen an eine grössere Partei weitergereicht, mit dem gleichen soeben beschriebenen Problem.
Am Schluss habe ich auch noch eine prinzipielle Sorge: Ich möchte gar nicht unbedingt jemanden wählen, der die gleichen Positionen hat wie ich. Das ist zwar ein guter Näherungswert, aber am Ende interessiert es mich vor allem, wie jemand zu diesen Positionen gelangt. Eine ehrliche, wenn immer möglich faktenbasierte Argumentation kann mir z.B. ebenso wichtig sein, wie die Position selbst. Soll ich jemanden wählen, der aus Genesis (nicht die Band) als Gottes unabänderliches Wort ableitet, dass wir die Natur schützen müssen, nur weil diese Person ähnliche Umweltschutzprioritäten listet wie ich?
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