Das Muster kommt uns inzwischen bekannt vor. Ein Film mit durchaus künstlerischem Anspruch steht am Anfang. Dummerweise hält er sich nicht an den genauen Wortlaut der heiligen Schrift und wir darum von Gläubigen als blasphemisch eingestuft. Die vermeintliche Gotteslästerung führt zu Protesten, konservative Kräfte geloben das Zeigen des Films zu verhindern und schliesslich schreiten Extremisten zur Tat: Obwohl es sich um einen betont säkularen Staat handelt wird ein Kinosaal während der Filmvorführung von Fundamentalisten mit Molotow Cocktails beworfen und es gibt Schwerverletzte. Selbst vermeintliche gemässigte Religionsführer verurteilen zwar die Tat äussern aber Verständnis für den Widerstand: Man dürfe nicht einfach “die Empfindlichkeiten von Millionen von Menschen brüskieren” für die der Prophet “wichtiger ist als deren Vater oder Mutter.” Die Politik der Angst jedoch funktioniert und viele fürchten sich davor, den Film sehen zu gehen.
Diese Reaktionen die damals Scorseses The Last Temptation of Christ unter anderem in Paris auslöste, beobachtet man nun in ähnlicher Form auch in Tunesien nach dem ein privater Fernsehkanal Marjane Satrapis Filmversion ihrer ausgezeichneten graphischen Novelle Persepolis ausgestrahlt hat. Scorseses Film wurde in mehreren Ländern verboten und ist es gmäss IMDB bis heute auf den Philippinen und in Singapur. Hoffen wir, dass es für Persepolis nicht dazu kommen wird.
Gestern gab es in Tunis vor dem Sitz des Premierministers erneut Demonstrationen gegen die Ausstrahlung des Films. Stein des Anstosses ist eine angebliche Darstellung Gottes im Film, welche gegen das Bildnisverbot verstossen würde (selbst wenn dies relevant wäre, handelt es sich de facto um eine Darstellung einer Fantasie der Hauptfigur, ein junges Mädchen, und ist ein naiv-klischeehafte Weihnachtsmann Gottheit mit tiefer Stimme und weissem Bart, welche untere anderem mit Marx, Ähnlichkeiten durchaus gewollt, Zweisprache hält). Angefangen hat es mit eine Sturm auf den Fernsehsender am letzten Sonntag als gemäss den Angaben des Senders etwa 300 Salafisten das Sendergebäude angriffen.
Die Reaktionen in Tunesien waren sehr gemischt. Zum Beispiel im Blog naawat.org, eine wichtige Stimme während der Revolution, wurde dies als klarer Angriff auf die Kunst- und Meinungsfreiheit durch die “neuen Pseudo-Intellektuellen” des Landes gewertet, die den Film, der zuvor schon in tunesischen Kinosälen lief, wohl ohne Synchronisation nicht verstanden hätten. Die Proteste und Ausschreitungen wurden vor allem den Salafisten zugeschrieben obwohl Al-Jazeera eine breitere Bewegung zumindest hinter den Protesten (nicht den Ausschreitungen so wie ich den Artikel verstehe) vermutet. Die Tatsache, dass sich der Chef des Senders inzwischen beim “tunesischen Volk” entschuldigt hat, deutet auch eher auf grösseren Druck als die Salafistische Minderheit ausüben kann, hin. Die Entschuldigung wiederum wurde stark als Kniefall vor reaktionären Kräften kritisiert und nützte dem Direktor des Senders wenig, wurde doch heute sein Haus angegriffen (zum Glück konnte er und seine Familie unbeschadet entkommen). Die Kontroverse ist wohl ein Symptom der nach wie vor unüberwundenen Kluft zwischen säkular orientierten, urbanen Kräften und religiös-konservativen Strömungen (was übrigens auch für viele christliche Staaten gilt). Doch es steht noch anderes auf dem Spiel.
Heute gab es Tränengas statt Fussball vor dem Hauptsitz des Premiers.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Zeitpunkt der Ausschreitungen zwei Wochen vor den Wahlen nicht zufällig ist. Die Partei der Salafisten, die sich ein Kalifat wünscht, ist nämlich nicht zu den Wahlen zugelassen. Sie hat sich zwar von den Taten distanziert, doch haben ihre Parteigänger auch auf sich aufmerksam gemacht, als sie die Universität in Sousse stürmten, da eine Studentin sich nicht einschreiben durfte, weil sie einen Niqab trug (man scheint offensichtlich auch diesbezüglich die neusten Trends in Sachen Freiheit und Minderheitenschutz von den westlichen Demokratien zu kopieren). Die Partei mag die Gewaltausbrüche vielleicht nicht orchestrieren, ihr Fussvolk ist aber sicherlich involviert. Da die gemässigte Islamisten-Partei Ennahdha am besten organisiert zu sein scheint und auch am effektivsten polarisiert (mehr dazu habe ich schon hier und hier geschrieben) sind diese gewalttätigen Ausschreitungen ein erfolgreiches Mittel zu Aufmerksamkeit zu gelangen und sich von der islamistischen Konkurrenz abzugrenzen. Dass es nach dem Moscheebesuch am Freitag wieder zu Protesten kam, scheint zu bestätigen, dass man bei der richtigen Klientele die korrekten Knöpfe gedrückt hat.
Die Auswirkungen auf die Wahlen sind natürlich schwer abzuschätzen, da eine Polarisierung immer auch die Gegenseite moblisieren kann. Es ist durchaus möglich, dass die Angst vor den Islamisten, die im Moment im Verhältnis zu ihrer Grösse überproportional viel Lärm machen, viele dazu bewegen wird, wählen zu gehen. Wie ich hier schon geschrieben habe ist Ennahdha in den Umfragen nicht nur die stärkste Partei (auf bescheidenem Niveau) sondern auch die meistgehasste.
Frühere Einträge zu Tunesien:
Strassenproteste in Tunesien, 12. Januar 2011
Tunesien: Jasminrevolution oder Theatercoup, 14. Januar 2011
Tunesien: Sicherheitslage und Übergangsregierung, 17. Januar 2011
Tunesien ist nicht Ägypten, 31. Januar 2011
Die Muslimbrüder kommen (vielleicht), 15. Februar 2011
Arabischer Frühling und westliche Wahrnehmung, 4. Juli 2011
Wahlen in Tunesien: Ein Frühling macht noch keinen Sommer, 12. August 2011
Post-Revolutionäre Eindrücke aus Tunesien, 11. Oktober 2011
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