Die vollständigen offiziellen Resultate sind noch nicht veröffentlicht. Die Wahlkommission ISIE hat schon einige Teilresultate veröffentlicht. Ungefähre und unbestätigte Zahlen zirkulieren schon seit vorgestern (diese stammen wohl vor allem von den Wahlbeobachtern die die Parteien entsenden konnten). Es scheint klar, dass die als moderate Islamisten bezeichnete Enahdha die klare Wahlsiegerin ist.
Da die meisten Medien im Westen sich auf diesen Aspekt des Resultats stürzen werden und Details noch nicht bekannt sind, möchte ich über die Konsequenzen dieses Wahlsieges für Tunesien und den arabischen Frühling nachdenken. Ich möchte mit diesem Post auch ein wenig gegen den Chor der Angstmacher anschreiben. Damit keine Missverständnisse aufkommen und alle die dieses Blog regelmässig lesen sollten das eigentlich wissen: Die Trennung von Politik und Religion ist mir gerade als Atheist ein zentrales Anliegen. Ich kann mir nicht vorstellen eine Partei, die ihre Politik mit einer Religion begründet, zu wählen. Das gute Abschneiden der Partei von Rachid Ghannouchi passt mir darum ganz und gar nicht. Aber so geht es mir häufig mit Wahlergebnissen im in und Ausland. Deswegen stelle ich in der Regel nicht deren Legitimität in Frage.
Demokratie ist nicht die Regierungsform die garantiert, dass man von der Partei regiert wird, die man gewählt hat. Dies mag banal klingen, ist aber ein zentraler Aspekt einer funktionierenden Demokratie: Die unterlegene Gruppe die Niederlage auch akzeptieren kann. Die Grenze wird erst überschritten, wenn die allgemeinen Spielregeln des Rechtsstaates und der Demokratie nicht eingehalten werden. Dies ist auch der erste grosse Test der Revolution in Tunesien. Ben Ali hat sich als Bollwerk gegen den Islamismus legitimiert und der Westen hat nicht zuletzt deswegen weggeschaut, als sich Ben Ali hemmungslos am Land bereicherte. Schon alleine deswegen sollte der Westen nun nicht den Tunesiern eine schlechte Lektion in Demokratie erteilen und so tun, als ob es falsche und richtige Resultate gibt. Dies untergräbt die Legitimität, die in einem Demokratisierungsprozess dringend benötigt wird. Vorerst ist es nur wichtig, dass die Wahlen frei und fair wahren, sich alle an die demokratischen Spielregeln halten und dies auch von der Bevölkerung und den Parteien so akzeptiert wird.
Nun wird der Ennahdha in der Regel das Etikett moderate Islamisten angeheftet. Der Begriff des Islamismus wird sehr unterschiedlich definiert. Man müsste also eigentlich zuerst einmal klären was damit gemeint ist. Schlecht definierte Begriffe bergen immer die Gefahr Projektionsfläche zu werden. Alle glauben zu wissen, was gemeint ist und man kann alles in einfach in sein Weltbild einpassen. Da eine solche Definition fehlt möchte ich vorschlagen, wie ich glaube, dass sie meistens benutzt wird: Der Ausdruck wird in der Regel in den meisten von mir konsumierten Medien als ein Synonym für Fundamentalismus (ein ursprünglich Christen bezeichnender Begriff) verwendet. Ich übernehme für diesen Post diese Lesart, denn dies wäre schliesslich die potentielle Gefahr, die von Ennahdha ausgeht und vor der heute sicher auch oft gewarnt wird. Nun werden zum Beispiel auch Al-Kaida, die algerische FIS oder die Türkische AKP oft als islamistisch klassifiziert. Es handelt sich also offensichtlich um ein sehr breites Spektrum. Dies ist in etwa wie man die CSU in die gleiche Gruppe stecken würde wie die Lord’s Resistance Army und die Westboro Baptist Church.
Das ist wohl einer der Gründe, warum Ennahdha oft noch die Qualifizierung moderat vorangestellt wird. Die Partei bezeichnet sich selber lieber als islamisch wegen der negativen Besetzung von islamistisch. Ihr Chef gilt als Vordenker einer islamischen Renaissance Bewegung (Renaissance ist auch die Übersetzung des Parteinamens, die man oft liest). Er hat in den 80er Jahren jeglicher Gewalt abgeschworen und bekennt sich zu Demokratie und Pluralismus (übrigens ähnlich wie viele überzeugte Marxisten aus den 60er und 70ern). Es gibt natürlich auch konservativere Strömungen in der Partei, so wie es sie auch in anderen Bewegungen bei uns gibt (ich denke da zum Beispiel an gewisse religiösen Untergruppen der republikanischen Partei in den USA oder die Priesterbruderschaft St. Pius X in der katholischen Kirche). Ghannouchi wird im Moment viel nachgesagt und vielleicht oft einfach von anderen Journalisten abgeschrieben, doch sind die Vorwürfe oft nicht korrekt, wie eine Entschuldigung an ihn in der Ausgabe des von mir geschätzten The Economist dieser Woche nahelegt. Ennahdha hat sich von den Salafisten bei den jüngsten Unruhen distanziert. Sie hat der Gewalt in Wort und Tat in den letzten 20 Jahren abgeschworen und ihr Parteiprogramm liest sich wie eines einer bei uns gut verwurzelten C-Partei, einfach mit einem I. Vergleicht man das Programm mit jenem von zum Beispiel der Schweizerischen Volkspartei, wie ich es vorgestern gemacht habe, betont erstere, wohl auch notgedrungen zur Abgrenzung, sehr viel mehr demokratische Prinzipien. Wo die SVP zum Beispiel Minderheiten angreift, betont Ennahdha den Schutz von diesen. Ähnliches gilt für Frauenrechte. Nochmals, es liegt mir fern, mich zum Fürsprecher für die Ennhadha zu machen. Ich möchte aber, dass wir die Perspektive behalten.
So lange es nicht klare Hinweise gibt, dass Ennahdha systematisch klar undemokratisches plant oder vertritt, gibt es nur aus inhaltlichem Missfallen keinen Grund, das Resultat in Frage zu stellen. Es wird im Westen immer beklagt, dass sich Muslime nicht genug von Gewalttaten distanzieren würden und sich unzureichend von radikalen Elementen abgrenzten. Es heisst Muslime seien nicht bereit den Islam zu interpretieren und ihn als unabänderliches Wort Gottes hinnehmen und dies mache eine Reform unmöglich. Ich glaube zwar, dass beide Kritikpunkte in selektiver Wahrnehmung gründen, doch lassen wir sie einmal so stehen. Hier hat man nun Islamisten die genau dies tun und zwar konsistent über Jahre hinweg. Wenn man dies nun einfach leugnet und den gleichen Diskurs weiterführt, könnte der Verdacht entstehen, dass die Forderung nicht aus einer aufrichtigen Sorge um Demokratie gestellt wird.
Trotz meinem fundamentalen Widerspruch zu vielem was die Ennahdha vertritt und meinem Missfallen über ihren Wahlerfolg, glaube ich nicht, dass man sich alleine deswegen Sorgen um die demokratische Zukunft Tunesiens machen muss. Um diese Zukunft sollte es uns im Westen gehen, wenn wir es schaffen, einmal kurz von unserem eigenen Nabel aufzuschauen. Ich kann mir sogar vorstellen, dass Gutes für Tunesien aus dem Wahlsieg der Ennahdha kommen kann. Hier ein paar Gedanken dazu:
- Man muss sich in Erinnerung rufen, dass es sich bei der Wahl primär um eine verfassungsgebende Versammlung handelt. Sie wird zwar auch die Übergangsregierung stellen, aber es ist eben wie der Name schon sagt nur eine provisorische. Die gewählten werden sich wohl mehr mit abstrakten institutionellen Fragen beschäftigen als mit typischer Tagespolitik.
- Ennahdha setzt sich für eine schwaches Präsidentenamt ein, was im unter französischem Einfluss stehenden Tunesien keine Selbstverständlichkeit ist. Eine schwache Präsidentschaft mit einem starken Premierminister würde wohl die Macht zusätzlich dezentralisieren und ist nicht das schlechteste was Tunesien passieren könnte.
- Einbindung in die politische Verantwortung hat fast immer einen mässigenden Effekt. Oppositionsparteien geniessen viel mehr Narrenfreiheit. So ist Ennahdha auf der Regierungsbank vielleicht besser aufgehoben.
- Wegen des starken Proporzsystems hat Ennahdha trotz ihrer hohen Stimmenzahl von vermutlich etwa 40% nur etwa ein Drittel der Sitze der Konstituante (etwa
3070 von 217). Sie ist also auf die Zusammenarbeit mit sich betont laizistisch Parteien angewiesen. - Die Einbindung könnte der beste Weg sein die Kluft zwischen säkularen und religiösen Kräften zu überbrücken, die das Land seit der Unabhängigkeit plagt und bis jetzt unter den Teppich gekehrt wurde (ein sehr guter Artikel auf Englisch dazu war vor einer Weile bei The Atlantic zu lesen).
- Wie die türkische AKP könnte die Ennahdha zu einem Vorbild in der islamischen Welt werden. Der politische Islam entstand und positioniert sich bisher traditionell in Opposition zu den herrschenden Eliten. Dies ist etwas, dass sich mit einem Demokratisierungsprozess in der muslimischen Welt ändern könnte. Ennahdha könnte ein Beispiel sein, wie der Islam in die Politik einfliessen kann ohne radikale Opposition zu sein. Genau so wie es bei uns eben die Parteien gibt, die sich christlich inspiriert sehen (gut finden muss ich das, wie gesagt nicht. Das ist nicht die Frage hier.).
- Man sollte auch nicht vergessen, dass selbst wenn es stimmt, dass die Partei für die Wahlen Kreide gefressen hat, heisst das auch, dass sie unter anderem deswegen für viele wählbar war. Lässt sie diesen Teil ihrer Wählerinnen und Wähler fallen, wird es bei den nächsten Wahlen die Quittung dafür geben. Genau so funktioniert Demokratie und das ist auch gut so.
- Vielleicht könnte eine Partei, die mit dem Stempel islamistisch versehen wird und sich zu einer pluralistischen Demokratie bekennt, bereit ist Minderheiten zu schützen und demokratische Reformen voranbringt, auch das Schwarz-Weiss-Denken im Westen etwas aufweichen und die Angstmacher zur Differenzierung zwingen.
Die Entscheidung der Tunesier zwingt nun alle zu einem klaren Positionsbezug. Ziehen wir einen nicht-gewählten Diktator, der mit krimineller Energie das Land zur eigenen Bereicherung missbrauchte, einen Polizeistaat errichtet und die Menschenrechte mit Füssen trat, einer demokratisch gewählten Regierung mit moderater islamistischer Beteiligung vor? Eine dritte Möglichkeit hat das tunesische Volk im Moment nicht vorgesehen. Für mich ist der Fall klar. Nun müssen die echten Demokraten Farbe bekennen und wer nur Sorge heuchelte soll zugeben, dass er oder sie andersdenkenden keine Demokratie zugestehen will.
Frühere Einträge zu Tunesien:
Strassenproteste in Tunesien, 12. Januar 2011
Tunesien: Jasminrevolution oder Theatercoup, 14. Januar 2011
Tunesien: Sicherheitslage und Übergangsregierung, 17. Januar 2011
Tunesien ist nicht Ägypten, 31. Januar 2011
Die Muslimbrüder kommen (vielleicht), 15. Februar 2011
Arabischer Frühling und westliche Wahrnehmung, 4. Juli 2011
Wahlen in Tunesien: Ein Frühling macht noch keinen Sommer, 12. August 2011
Post-Revolutionäre Eindrücke aus Tunesien, 11. Oktober 2011
Proteste in Tunesien gegen den Film “Persepolis”, 15. Oktober 2011
SVP und die Islamisten – Eine Geschichte aus zwei Wahlkämpfen, 23. Oktober 2011
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