Gestern hielt der französische Professor Olivier Roy in Genf eine Gastvorlesung unter diesem Titel. Der Autor von Globalized Islam und La Sainte Ignorance (The Holy Ignorance) lieferte dabei eine erfrischende andere Perspektive zur Fragen rund um das Phänomen des erstarkten religiösen Fundamentalismus und der vermeintlichen Rückkehr des Religiösen.
Der Saal war überraschenderweise nicht einmal halb voll und ich war zweifelsohne bei den jüngeren 10% des Publikums. Ob dies an Roys ganz in einer französischen Tradition stehenden allgemeinen abstrakten Ansatz liegt oder an seinen kaum provokativen Thesen, ist schwer zu sagen. In der Vergangenheit war das Thema “Islam” in Verbindung mit einem bekannten Namen ein Raumfüller. Er hat auf jeden Fall eine interessanten Blickwinkel auf das vermeintliche Erstarken des Religiösen zu bieten. Ich möchte darum hier kurz seine Ideen aus dem Vortrag skizzieren (was folgt sind Olivier Roys These und nicht meine eigenen Gedanken):
Die allgemein akzeptierte Theorie war bis vor Kurzem, dass die Moderne, die Rolle der Religion immer weiter zurücktrennt und es im Zuge von Fortschritt zu einer immer stärkeren Säkularisierung der Gesellschaft kommt. Dies haben selbst religiöse Menschen (das Beispiel des Protestantismus kommt einem vor allem in den Sinn) zu grossen Teilen auch verinnerlicht, in ihre Praxis integriert und oft als Entwicklung begrüsst. Seit den 70er Jahren beobachtet man nun aber eine Art neuen religiösen Exhibitionismus. Vor allem islamistische und protestantische Gruppierungen traten vermehrt mit ihren Ideen ins Rampenlicht. Dies wird oft als eine Rückkher zu einer älteren, anarchischeren Form der Religion wahrgenommen.
Dank dieser Wahrnehmung fielen die Thesen zum Zusammenprall der Kulturen von Huntington auf einen fruchtbaren Boden, da er genau diese Beurteilung bestätigte. Huntington nahm Religion als eine Abkürzung für Kultur und akzeptierte die als Deckungsgleich. Dies ist auch die Annahme, die hinter der besonders von Rechtspopulisten heutzutage öfters reklamierten christliche-jüdischem Kultur Europas steht. Genau diese Annahme hält Roy aber für falsch und sieht in den neuen Fundamentalismen genau das Gegenteil einer Rückkehr zu altbekannen und traditionellen Werten.
Roy sieht im Fundamentalismus einen Bruch mit der religiösen Tradition. Die Säkularisierung der Gesellschaft, die auch fast unmerkbar die Religionen selber säkularisierte, kreierte den Fundamentalismus als Gegenbewegung. In diesem Sinne ist der Fundamentalismus immer ein Bruch mit der herrschenden religiösen Tradition. Man will zurück zu einer wörtlichen Auslegung und verlangt eine Rückbesinnung auf “die Wurzeln” der religiösen Tradition. Insofern ist es immer eine neue und rekonstruierte religiöse Kultur die gefordert wird und eben keine Rückkehr.
Vor ein paar Jahrzehnten war die religiöse Praxis in den meisten Ländern ein gemeinsames Fundament, welches nicht im Widerspruch zu den vorherrschenden Wertvorstellungen stand. Kaum jemand hätte zum Beispiel Homosexuellen-Ehen aufs politische Parkett gebracht und auch über die Rolle von Frau und Familie existierte ein weit verbreiteter Wertekanon (Roy sprach bei diesem Beispiel spezifische von Frankreich). Eine Individualisierung und die damit einhergehende Säkularisierung der Gesellschaft löste dieses gemeinsame Wertefundament auf. Eine Konsequenz davon war nicht ein plötzliches Auftauchen von Fundamentalismus, sondern dies machte den Fundamentalismus als solchen erst sichtbar. Ein religiöses Festhalten oder betonen dieser Werte wurde zur kulturellen Gegenbewegung.
Roy glaubt deshalb, dass was häufig als “Rückkehr des Religiösen” wahrgenommen wird, eigentlich nur das Symptom einer Übergangsphase der Säkularisierung ist. Das Problem des Fundamentalisten sind die Nicht-Gläubigen und es gibt für sie nur wenige Strategien, im Umgang mit diesen: Gewalt, Missionierung oder man zwingt die Ungläubigen dazu, so zu tun als ob sie die eigenen Werte akzeptieren (z.B. Karrikaturenstreit oder die jüngsten Proteste gegen die Theateraufführung Gólgota Picnic). In einer Zeit in der Konversionen in alle Richtungen häufiger werden, versuchen sich die verschiedenen verunsicherten Gruppierungen entsprechend neu zu positionieren.
Nun werden einige den Einwand bringen, der auch aus dem Publikum geäussert wurde: Ist die Säkularisierung der Gesellschaft nicht primär ein Phänomen in Europa und Nordamerika. Gemäss Roy basiert diese Wahrnehmung auf einer wenig nützlichen Definition von Säkularisierung. Diese stützt sich primär auf die Verbreitung des Praktizierens einer Religion. Somit wäre Europa zwar im Begriff der Säkularisierung aber schon für die USA trifft dies dann nicht mehr zu. Für Roy ist Säkularisierung an der gelebten religiösen Kultur erkennbar und dies ist eine nützlicher Definition (aber auch schwerer objektiv messbar, möchte ich hier anfügen). In der Publikumsfrage wurde explizit Malaysia als ein Land angesprochen, welches nach wie vor stark islamisch geprägt ist. Roy argumentierte, dass es sich um ein ausgezeichnetes Beispiel handelt. Vor ein paar Jahrzehnten hätten man kaum Kopftücher oder gar verhüllte Frauen in malaysischen Strassen gesehen. Heute ist das Gegenteil der Fall. An der religiösen Selbstwahrnehmung hat sich über diese Zeit aber wenig geändert. Dies ist die Gegenbewegung die im Namen der Religion stattfindet und sich eigentlich gegen die herrschende säkularere religiöse Tradition richtet.
Roy hat in seinem Vortrag für seine These viele Beispiele angebracht und sprang in professoraler Art von Thema zu Thema. Er hat auch viele andere Themen gestreift, von Menschenrechten, Kommunismus bis zum Verhältnis der Religionsgemeinschaften mit der neuen Rechten in Europa, vom Islam in der französischen Armee bis zum politischen Hinduismus. Dieser Eintrag war ein Versuch den Vortrag strukturiert wiederzugeben. Ich hoffe in den Kommentaren auf eine Diskussion, in der es auch möglich sein wird, das eine oder andere Beispiel einzubringen um Roys wie ich finde bedenkswerte Thesen zu verdeutlichen.
Kommentare (13)