Wieder einmal wollte ich eigentlich über etwas ganz anderes bloggen, aber die aktuellen Ereignisse haben mir dann doch eine anderen Artikel in die Tasten gelegt.

Viel wird im Moment geschrieben über die möglichen dschihadistischen Verbindungen, die der mutmassliche Täter von Toulouse eventuell gehabt hat: Seinen allfälligen Aufenthalt im Afghanisch-Pakistanischen Grenzgebiet oder seine Zeit im Gefängnis in Kandahar (hier ein Porträt auf Französisch aus Le Monde und hier eines von SPON). Als ich diesen Eintrag zu schreiben begann, tauchte auch ein unbestätigtes Bekennerschreiben einer Nordafrikanischen Organisation “mit Verbindungen zu Al-Kaida” auf. Im Moment ist noch so wenig bekannt, dass man kaum von den vielen Qualifizierungen wie “vielleicht”, “eventuell” und “mutmasslich” wegkommen kann. Vieles wird wohl erst in den nächsten Tagen bestätigt werden.

Darum schreibe ich jetzt über einen Film. Einen Film, den ich vor ein paar Wochen gesehen habe und der drüben bei Georg im Dezember Thema war: Die Dschihad-Komödie “Four Lions”. Der Film ist absolut sehenswert, da er nicht nur wunderbar die Gratwanderung zwischen Tragik und Komik des Themas schafft, sondern vermutlich auch eine ziemlich realistische Darstellung der möchtegerne und tatsächlichen Gotteskrieger in Europa oder Nordamerika darstellt.

Die Protagonisten manövrieren sich in ein Anschlag-Projekt, das offensichtlich logistisch und technisch weit über ihren Fähigkeiten steht. Ihr Ausbildungslager in Pakistan kann ihnen dabei auch nicht über ihre offensichtlichen intellektuellen Unzulänglichkeiten hinweghelfen. Von ihrer taktischen und strategischen Ahnungslosigkeit gar nicht erst zu sprechen (sie diskutieren zum Beispiel eine Weile eine Moschee in die Luft zu sprengen um die britischen Muslime aufzurütteln). Auch was das religiöse anbelangt, sind die Hauptcharaktere im Film kaum die grossen Denker. Ihre krude Theologie dient vor allem dazu um in ihren Augen knackige Rechtfertigungen zu basteln, welche ein einfaches “uns” gegen “die anderen” zu konstruieren erlaubt. In einer der für mich besten Szenen wird ein (nicht gewalttätiger) Fundamenalist mit der Wasserpistole aus der Wohnung des weniger fundamenalistischen Dschihadisten vertrieben, weil er dessen Frau nicht im gleichen Raum haben will, wogegen sich wiederum der selbsternannte Gotteskämpfer und seine Frau sich wehren.

Ich bin überzeugt, dass man sich “Terroristen” oft so vorstellen muss. Dschihad als eine Selbstlegitimierung und einfache Rechtfertigung, nicht als Teil durchdachter Arm eines grossen Terrorismuskraken. Es handelt sich wohl oft um überforderte junge Männer und wäre ihr Vorhaben nicht so todernst, wären sie schlicht nur lächerlich.

Da sehe ich auch den Zusammenhang mit den Vorgängen in Toulouse. Der vermutliche Täter hat schreckliche Taten begangen und das darf nicht vergessen werden. Die Suche nach Verbindungen zu einem terroristischen Netzwerk, nach einer ideologischen Triebfeder, vernebelt aber vielleicht mehr, als das sie Zusammenhänge erstellt. Am Ende lenkt sie vielleicht sogar von der persönlichen Verantwortung seiner Taten ab. Erst das herstellen der Verbindungen, ob nun existent oder nicht, machen Terrorismus schlussendlich zu dem was es in der kollektiven Wahrnehmung ist. “Four Lions” ist ein guter Beitrag zur Demystifizierung von Terrorismus und es kommt wohl nicht von ungefähr, dass ich beim Verfolgen der Nachrichten heute mich an diesen Film erinnert sah.


Noch ein P.S. in eigener Sache: Ich bin heute als totaler Aussenseiter in einer Twittergegnüberstellung gegen Princeton Professorin Anne-Marie Slaughter und bin darum auf jede Stimme angewiesen. Also, wenn ihr es bis hier geschafft habt, bitte hier eine Stimme für zoonpolitikon abgeben. Ziel ist es, nicht ganz platt aus der Geschichte heraus zu kommen.

Kommentare (26)

  1. #1 Wolf
    März 22, 2012

    Kenn mich mit Twitter nicht aus, sorry.

    Nach dem was in Frankreich heute passiert ist, und was der kleine Franzose so verkündet, mache ich mir wieder Sorgen, welche Eingriffe in unsere Persönlichkeitsrechte wir mit der Begründung “Terrorabwehr” wieder hinnehmen müssen.

  2. #2 ali
    März 22, 2012

    Kenn mich mit Twitter nicht aus, sorry.

    Musst du auch nicht. Nur für mich eine Stimme abgeben.

    Ich kann mir vorstellen, dass Sarkozy die Sache gar nicht ungelegen kommt. Hat sein nationaler Aufstieg doch auch mit einer Geiselnahme die “er” beendet hat, ihren Anfang genommen. Insofern sind deine Befürchtungen nicht unbegründet.

  3. #3 Sigmund
    März 22, 2012

    Hab keine Ahnung was diese Twitterschlachten sollen, aber wenn der Gegner “Slaughter” heißt, kriegst du natürlich Unterstützung…

    Und zum Thema:
    Die Suche nach “Netzwerken” dienst wohl mehr der Feindbildschaffung als irgendetwas anderem…

  4. #4 BreitSide
    März 22, 2012

    xxx

  5. #5 BreitSide
    März 22, 2012

    Aha, die prüfen immerhin, wer schon mal abgestimt hat. Maschaun, ob das bei Neustart nochmal geht…

  6. #6 walim
    März 22, 2012

    Ich hätte ja gern für Dich irgendwas angeklickt, aber es war wohl schon zu spät.

    Zum Thema selbst: Kann es sein, das sich da eine Kulturtechnik entwickelt hat und dummerweise immer weiter entwickelt, mit der man ein normalerweise nach den allgemeinen Begriffen komplett verkorkstes Leben medienträchtig in die Nachrichten und in die Wikipedia bringen kann? Geht das irgendwie so weiter? Das kann ja heiter werden…

  7. #7 Markus
    März 22, 2012

    “Die Suche nach Verbindungen zu einem terroristischen Netzwerk, nach einer ideologischen Triebfeder, vernebelt aber vielleicht mehr, als dass sie Zusammenhänge erstellt. Am Ende lenkt sie vielleicht sogar von der persönlichen Verantwortung seiner Taten ab.”

    Vielen Dank für diesen Eintrag; vielleicht der bisher wichtigste hier auf diesem Blog (zumindest seit ich mitlese). Ich habe in den letzten Stunden und Tagen auch sehr oft an “Four Lions” denken müssen; der Film ersetzt mMn viele Stunden Bruce Hoffman-Lektüre und sollte in PolWiss-Seminaren über “homegrown terrorism” auf jeden Fall zum Pflichtprogramm gehören.

  8. #8 BreitSide
    März 22, 2012

    Nee, geht nich…

  9. #9 Holzsteffl
    März 22, 2012

    Ich glaub auch das sich, Terroristen von Ihrer Persönlichkeit her zumindest ähnlich Verhalten. Das sind diese jungen Männer noch in der Selbstfindungsphase die in Ihrem Leben keine Perspektive sehen, und sich selbst einen fundamentalen Idealismus aufbauen. Dafür müssen dann sämtliche Gründe herhalten um ihre Einstellung zu rechtfertigen.
    Wenn man bedenkt das der Islam eigentlich sehr friedlich ist.
    Ihr Hass auf Juden ist allerdings allgemein sehr Stark. Ich weiß von jemanden der in Riad gearbeitet hat das sie an Hitlers Geburtstag auf Ihn trinken.

    Den Punkt hast du übrigens von mir.

    Holzstefan.blog.com

  10. #10 walim
    März 22, 2012

    Meine Stimme hast Du jetzt. Möge sie irgendwie nutzen für irgendwas

  11. #11 doublemoth
    März 22, 2012

    Ich fand diesen Film sehr gut und ich hatte sogar ein wenig Mitleid mit den, nennen wir sie mal Terrorismusamateuren. Wobei ich die Idee von dem einzelnen Täter bzw. Tätern nicht voll unterstützen kann. Dies mag vllt. für einige kleinere Amokläufe oder Sprengfallen gelten, aber sollte trotzdem untersucht werden, ob ein Netzwerk dahinter steht. Selbst wenn kein Terrornetzwerk dahinter steckt, kann man vllt. den Ort oder die Personen ausfindig machen, die zur Radikalisierung beigetragen haben.

  12. #12 ali
    März 22, 2012

    @doublemoth

    Ich bin auch gar nicht der Meinung, dass das nicht untersucht werden soll. Es ist auch nicht so, dass es sich immer um relativ isolierte Täter handelt (zum Beispiel die Anschläge vom 11. September 2001 oder auf die US Botschaft in Kenya oder das US Schiff in Yemen fallen klar nicht in diese Kategorie).

    Es ist mehr diese krampfhafte mediale Suche, solche Anschläge in ein grösseres Ganzes stellen zu wollen, die ich für problematisch halte. Auf BBC sprachen sie heute zum Beispiel von “Kaida inspirierten” Attacken. Damit wird der Organisation zumindest indirekt die Urheberschaft zugesprochen (was sie oft gerne annehmen). Oft heisst es auch “mit Verbindungen zum Terrornetzwerk Al-Kaida”. Das ist ein ähnlich unklare Umschreibung.

    Schaut man sich zum Beispiel die Terrornetzwerk der 70er Jahre an, findet man auch überall Verbindungen, trotzdem zählt man die Roten Brigaden, die RAF und die Voksfront zur Befreiung Palästinas zu einem einheitlichen Netzwerk. So viel Ehr hat Kaida halt einfach nicht verdient, wie ihr zu Teil wird.

  13. #13 Wilhelm Leonhard Schuster
    März 23, 2012

    Es gibt verquere” Persönlichkeiten “von Kindesbeinen an.(Überall)
    Mir ist ein junger Türke als äußerst aggressiv aufgefallen.
    Ich wandte mich daraufhin an Landsleute die hier hart gearbeitet,haben
    sie möchten sich des Buben annehmen.Die sagten mir sie kennten den und der sei schon als Kleinkind aggressiv und nicht zu bändigen gewesen,hoffnungsloser Fall , wie auch sie meinten.
    Solche Kinder geraten wahrscheinlich automatisch in die Fänge “Des Alten vom Berge”.
    Diese muslimische Tradition dürfte, trotz aller friedlichen Argumentationen ,
    bei derartigen Persönlichkeiten” natürlicherweise” größte gefährliche Anziehungskraft ausüben und sie entsprechend handeln lassen.
    (Der “Alte vom Berge” berühmt berüchtigter Kreuzzugsgegner der die christl. Ritter in einer Art Partisanenkrieg ” einzeln” überfallen ließ)

  14. #14 MJ
    März 23, 2012

    Da war auch der andere Artikel über den Attentäter heute in “Le Monde” : “Mohamed Merah, l’homme aux cent visages”. Von dem her zu urteilen scheint er weniger als “Islamist”, sondern eher als Gescheiterter, dessen Radikalisierung (über die wir wohl noch einiges mehr erfahren werden) sich in “dschihadistischem” Gewand manifestiert hat, und den seine Religion davor noch nicht einmal sonderlich interessiert hat.

    Sarkozy hat heute, aber nur scheinbar, fast so etwas wie Rückrat gezeigt (wenn man bedenkt, dass er erst vor ein paar Tagen mit der Aussetzung des Schengen-Abkommens gedroht hat):”Nos compatriotes musulmans n’ont rien à voir avec les motivations folles d’un terroriste. Il ne faut procéder à aucun amalgame.” Aber dann verwechselt er wohl wieder Ursache und Wirkung:”La République doit être implacable pour défendre ses valeurs. Elle ne tolérera ni embrigadement ni conditionnement idéologiques sur son propre sol.” Da ist sie doch wieder, die “Nationale Werte”-Diskussion. Weiter:”Je viens de réunir le Premier ministre et les ministres concernés pour tirer les conclusions de ces événement tragiques. Désormais, toute personne qui conultera de manière habituelle des sites Internet qui font l’apologie du terrorisme ou qui appellent à la haine et à la violence sera punie pénalement. Toute personne se rendant à l’étranger pour y suivre des travaux d’endoctrinement à des idéologies conduisant au terrorisme sera punie pénalement. La propagation et l’apologie d’idiologie(s) extrémiste(s) seront réprimées par un délit figurant dans le code pénal avec les moyens qui sont déjà ceux de la lutte anti-terroriste. Enfin, avec le Premier ministre, j’ai demandé au garde de Sceaux de conduire une réfléxion approfondie sur la propagation de ces idéologies dans le milieu carcéral. Nous ne pouvons accepter que nos prisons deviennent des terreaux d’endoctrinement à des idéologies de haine et de terrorisme.” (Das ist nicht die ganze Rede; ich habe auch kein Transkript gefunden, und meine Orthographie ist eine Katastrophe, also Entschuldigung schon einmal) Es läuft also wieder auf eine Ideologie-Diskussion hinaus: Frankreich muss zusammenhalten; weil Menschen indoktriniert werden – aber warum? Warum Mohammed Merah, und offenbar weitere aus seiner Familie? Werden wir darüber sprechen? Oder dürfen wir angesichts der Ideologie-Diskussion, die Sarkozy angesprochen hat, davon ausgehen, dass es sich bei der Exklusion des “Islam” als Sündenbock um ein reines Ablenkungsmanöver handelt, um eine Diskussion zu vermeiden, die sehr nahe liegt und – wenn auch nicht mit ihr identisch – medial gerne mit einer Islam-Diskussion vermengt wird und die das nationale Selbstverständnis Frankreichs berühren würde?

    “La ségrégation résidentielle : un facteur de chômage ?” lautet der Titel eines Artikels (2011, aus der mehrteiligen Serie “Regards croisés sur l’économie”), die auf ein (wenn auch nicht spezifisch) französisches Phänomen hindeutet – der de-facto Segregation (sozial und räumlich) eines Soziotops, zu einem beträchtlichen Teil bestehend aus den Nachkommen x-ter Generation von Einwanderern aus dem Maghreb (in der 2. Generation nach Eigennennung “Beurs” genannt, wie auch heute noch in einmal mehr, einmal weniger herablassender Konnotation) und anderen, zumeist “sichtbaren”, ethnischen Minderheiten. Immer wieder kommt es zu Lippenbekenntnissen da etwas zu unternehmen, wenn es das Thema wieder einmal in die Medien schafft, meist aufgrund von kriminellen Problemen die aus den Problemvierteln nach Rest-Frankreich überschwappen. Aber Lippenbekenntnisse mit abnehmender Zielsetzung, scheint es – Chirac gab noch ein paar Millionen und beförderte Harry Roselmack – Problem gelöst; Sarkozy wollte sie schon wegkärchern, hat aber auch Rachida Dati in die Regierung geholt und spricht gerne mit Thierry Henry – Problem gelöst; jetzt will er nur noch verhindern, dass sie im Gefängnis indoktriniert werden: Die Niederlage ist eingestanden, es geht nur noch um Schadensbegrenzung?

    Ein paar Stellen aus oben genannter Studie, über die “Problemviertel” (fr. ZUS = zones urbaines sensibles):

    “Ces quartiers occupent souvent une position au sein des agglomérations urbaines françaises qui reflète le choix, dans les années cinquante et soixante, de construire massivement des immeubles bon marché affectés au logement social dans les zones périphériques des grandes villes. Dans ces quartiers, la main d’œuvre immigrée peu qualifiée est souvent sur-représentée et les emplois y sont souvent relativement moins nombreux qu’ailleurs.”

    “Dans les quartiers ségrégués, les individus en âge d’être scolarisés sont souvent confrontés à l’image d’échec social donnée par les générations antérieures, qui peut les décourager de poursuivre leurs études. Ce phénomène tend à se propager car ces individus ont eux-mêmes moins de chances de trouver un emploi et participent à leur tour à la perception négative que les générations futures auront de l’éducation et du travail. Ce mécanisme est renforcé par le fait que les chances de réussite des élèves dépendent de la composition socio-économique de leur classe ou de leur quartier : la concentration d’élèves en difficulté peut mener à une augmentation de l’échec scolaire des autres élèves.”

    “Certains employeurs considèrent que les habitants de ces zones sont inemployables et les accusent d’un « délit de sale adresse ». Il peut exister plusieurs raisons à cette discrimination territoriale. Les employeurs peuvent ne pas apprécier les manifestations d’ordre culturel (langage, code vestimentaire ou comportement) propres aux habitants de ces quartiers ; on dit alors qu’ils discriminent par le « goût ». Des employeurs, même exempts de tels préjugés, peuvent chercher à éviter d’embaucher les travailleurs de certains quartiers lorsque leur propre clientèle est soucieuse de ne pas entrer en contact avec les habitants de quartiers défavorisés. On parle alors de discrimination par la clientèle.”

    Der Artikel ist hier: https://www.cairn.info/article.php?ID_ARTICLE=RCE_009_0272

    Es wäre mein großer Wunsch, dass Sarkozy heute Nacht gleichzeitig mit mir die im Artikel referenzierte, ein paar hundert Seiten starke Studie (2004) “Ségrégation urbaine et intégration sociale” liest (Zip-File, 2 PDFs):

    https://www.cae.gouv.fr/Segregation-urbaine-et-integration-sociale.html?lang=fr

    Vielleicht irre ich mich, und das alles ist gar nicht wichtig bei der Bewertung Merahs. Vielleicht tauchen noch ideologische Schriften auf, die auf einen stark religiösen Hintergrund hinweisen. Bisher allerdings hat man nur Plattitüden gehört – seine relativ harmlosen Begründungen (“la loi interdisant le port du voile islamique et de la participation de la France à la guerre en Afghanistan”; “venger nos petits frères et nos petites sœurs palestiniens”) stehen in keiner Relation zur Extremität seiner Taten und würden, etwas anders formuliert (aber nur im letzten Fall), im alltäglichen politischen Diskurs kein großes Aufsehen erregen (und den ersten beiden werden wohl gar nicht wenige zustimmen!). Vor allem wenn man sich ansieht, was etwa Marine le Pen so permanent von sich gibt. Dahingegen ist Merah in “Les Izards” aufgewachsen, einer “ZUS” Marke Toulouse, hier die Zahlen:

    https://sig.ville.gouv.fr/zone/7301070

    Islamismus, islamistischer Terrorismus, Terror-Camps und Hass-Prediger? – Große Popcorn-Unterhaltung für die Quatschköpfe von Achgut und PI. Und Wahlkampfmunition für die, die die Bevölkerung vor den spitzen Scherben bewahren, die entstehen, wenn man ein paar Generationen ehemaliger Einwanderer gegen die Wand fahren lässt. Und damit wohl leider Fragen, deren enthousiastische Besprechung den Diskurs der nächsten Wochen bestimmen werden. Dann ist da auch diese Video von Merah im Auto, wo er lacht – und wenn man sich das mit gruseliger Musik untermalt anschaut (alles schon auf youtube!), kann man sich so richtig vor dem Bösen im Menschen fürchten und zur Beruhigung sein Kreuzchen beim Kandidaten machen, der am meisten Sicherheit verspricht (vermutlich bei gleichzeitiger Beschneidung der Bürgerrechte, aber nicht weitersagen!). Wen interessieren da schon Zonen in Frankreich, in denen sich die Exekutive nur in Mannschaftsstärke und schwerbewaffnet wagt, wenn überhaupt? Oder dass mitten in Europa Generation nach Generation eines Bevölkerungsteil vor die Hunde geht? Oder dass wir anno 2012 damit nicht nur ein massives soziales Problem haben, sondern dass sich der betroffene Bevölkerungsteil sozusagen ethnisch identifizieren lässt?

    P.S.: Und das soll natürlich keine “Rechtfertigung” Merahs oder generell von Verbrechen sein. Viele andere haben denselben Hintergrund und begehen keine Serienmorde. Doch andererseits wäre auch er wohl keiner geworden, wäre er der Sohn des Präsidenten gewesen (außer man glaubt an Vorherbestimmung). Will sagen: Der soziale Hintergrund spielt in die persönliche Entwicklung rein; man mag streiten, wie sehr. Aber wer eine Diskussion dieses Hintergrunds an sich und prinzipiell für eine Verteidigung von Verbrechen oder eine Vertauschung der Täter-Opfer-Rolle hält, ist mental schon ziemlich flach ausgestattet.

    P.P.S.: Und Hollande? “aucune religion n’a à être suspectée et encore moins stigmatisée”; “islame”, “monstre”, “terrorisme”, “laïcité”, “fou”, “fou est irresponsable” (ein wichtiger Unterschied zu Sarkozy in der Bewertung:”Ces crimes ne sont pas ceux d’un fou. Un fou est irresponsable [sic!]. Ces crimes sont ceux d’un fanatique et d’un monstre”, man bemerke auch den Unterschied zur vorherigen Rede über “les motivations folles d’un terroriste”; da ist Intellekt pur am Werk, mit präzisester Wortwahl!). Was für eine Auswahl an Geistesriesen! Merah weg, Problem gelöst! Oder nein, Hollande weiter: “une faille” – – – aber er meinte die Überwachung. Also: Merah weg, mehr Überwachung, Problem gelöst, jetzt aber wirklich! Ist es nicht herzlich egal, wer gewählt wird?

    @ Ali: Viel Glück, meine Stimme hast Du; ich hoffe, Slaughter beißt Dir nicht den Kopf ab, solltest Du gewinnen!

  15. #15 MJ
    März 23, 2012

    *idiologie, haha! (aber wäre das nicht vielleicht die bessere Schreibweise?)

  16. #16 ali
    März 23, 2012

    @MJ

    Was mir ins Auge stach:

    Désormais, toute personne qui conultera de manière habituelle des sites Internet qui font l’apologie du terrorisme ou qui appellent à la haine et à la violence sera punie pénalement.

    Zum Glück forsche ich nicht zum Thema Terrorismus. Ich nehme an dafür wird man dann in Zukunft eine Sondergenehmigung benötigen um sich theoretisch zumindest frei zugängliche Quellen im Netz anschauen zu dürfen.

  17. #17 Sigmund
    März 23, 2012

    Leicht Off-Topic:

    Wirst du vielleicht noch etwas zu dem Ahmadinedschad-Interview im ZDF schreiben.
    (Falls du es nicht kennst: Das ZDF ist so ein Rentner-Sender im nördlichen Ausland.)

  18. #18 MJ
    März 23, 2012

    @ Ali

    Ja, das stimmt schon, und Sarkozy hat ja leider schon gezeigt, dass er mit so etwas ernst macht. Allerdings bin ich, was die Kandidaten betrifft, frei von jedweder positiven Erwartung – vor allem wenn der Herausforderer so eine schwache Persönlichkeit wie Hollande ist: bei Sarkozy weiß man wenigstens, woran man ist. Aber was zum Teufel meint Hollande, da kommt einem ja das Fürchten:

    “La lutte contre le terrorisme doit être totale”
    “la sécurité est la première des libertés”

    https://www.lemonde.fr/election-presidentielle-2012/article/2012/03/23/a-m-hollande-le-sens-de-l-etat-au-ps-le-doute-sur-l-action-de-la-police_1674662_1471069.html

    Und dann kristallisiert sich offenbar heraus, dass die Radikalisierung Merahs in relativer Isolation geschehen ist und nicht über eine Indoktrination durch andere. Auch psychologische Probleme haben eventuell eine größere Rolle gespielt als bisher kolporiert:

    https://www.lemonde.fr/societe/article/2012/03/23/toulouse-les-revelations-du-patron-du-renseignement_1674664_3224.html

    Aber ich wette es ist völlig unwichtig, was sich noch herausstellt, für beide Kandidaten gehört der Fall in die Rubrik “Kampf gegen den Terrorismus: Überwachung, Überwachung, Überwachung!!”.

    Hollande hat Sarkozy und der Rechten im allgemeinen nichts entgegenzusetzen, außer Ihre Standpunkte zu übernehmen und dabei darauf zu achten, dass er sie möglichst rechts überholt. Irgendwie scheint das eine Wahl zwischen Pest und Cholera zu werden.

    Ich lese nun auch, dass die “algerische Herkunft” Merahs langsam eine gewisse Polemik hervorruft, in algerischen Medien, nämlich. Wie groß ist die Hoffnung, dass die Erkenntnis durchsickert, dass Merah kein “islamisches”, kein “arabisches”, sondern ein rein französisches Produkt ist – hervorgegangen aus einer zutiefst französischen Problematik? Le Monde bringt diesen Beitrag:”De son côté, El Khabar (arabophone, deuxième tirage du pays) estime que le sujet n’est pas “l’origine algérienne” de Merah, mais la “discrimination raciste qui monte en France et ses liens avec les problèmes d’intégration des immigrés et de leurs enfants dans le tissu social français”.

  19. #19 ali
    März 23, 2012

    Off-topic (betreffend PS):

    Erste Runde gewonnen. Danke für die Stimmen. Ich habe sie sogar fast in der Abstimmung geschlagen!

  20. #20 MJ
    März 23, 2012

    Das habe ich glatt übersehen – sagte gestern Sarkozy:

    “Lui chercher la plus petite excuse serait une faute morale impardonnable. Mettre en cause la société, montrer du doigt la France, la politique, les institutions, c’est indigne”.

    “Non, il n’y a pas en France un climat qui puisse expliquer ces crimes”

    Über Ursachen wird wohl wirklich nicht gesprochen werden, das wäre würdelos, als Täter-Rechtfertigung ein unverzeihlicher, moralischer Fehler – Frankreich, Frankreich über alles!!

    https://elysee.blog.lemonde.fr/2012/03/22/a-strasbourg-le-candidat-sarkozy-engrange-les-succes-du-president/

  21. #21 MJ
    März 23, 2012

    @ Ali: Gratuliere zum Sieg!

    Im übrigen hier der erste Artikel, den ich gefunden habe, der sich die Frage nach dem originär Französischen an Merah stellt:

    https://www.liberation.fr/societe/01012397681-mohamed-merah-a-grandi-en-banlieue

    Meanwhile, in der New York Times:”France, with its significant Algerian population […]”

    https://www.nytimes.com/2012/03/22/world/europe/mohammed-merah-france-shooting-suspect-seen-as-home-grown-militant.html

  22. #22 MJ
    März 24, 2012

    Wenn es darum geht nachzuweisen, dass irgendwo Antisemitismus ein überbordendes Problem ist, dann vertraut Jeffrey Goldberg (“The Atlantic”) schon einmal blind einem glasklaren Rassisten:

    https://crookedtimber.org/2011/07/20/21012/

    Als er darauf aufmerksam gemacht wurde, hat er sich zwar irgendwie entschuldigt, ist aber nicht von seiner prinzipiellen Aussage, deren einzige Quelle besagter Rassist war, abgerückt…

    Und dann war da auch das:

    https://www.theatlantic.com/international/archive/2011/07/worlds-worst-ad-holocaust-division/242244/

    Und auch dieses Mal schafft Goldberg den Turing-Test leider nicht – aus Twitter:

    Jeffrey Goldberg:”Brilliant piece by Michael C. Moynihan on how the Jewishness of the Toulouse child-murder victims is downplayed”
    Allison Good:”To be fair, tho, conditions in French suburbs play a part to an extent.”
    Jeffrey Goldberg:”Conditions in French suburbs don’t force people to shoot small Jewish children in the head. Come on, seriously.”

    Aus “spielt in einem (gewissen) Ausmaß eine Rolle” wird “zwingen”. Wie gesagt, Turing-Test-Fail, wortwörtlich.

    Kann alles (auch der von Goldberg angesprochene Artikel) auch über Alis Twitter-Account gefunden werden. So, wie auch das da:

    https://www.nytimes.com/2012/03/24/opinion/loner-loser-killer.html

    Das ist der Unterschied zwischen Autoren, die jeden erdenklichen Anlass zum Vorwand nehmen, ihre Lieblingsthemen zum x-ten Mal zu wiederholen, und solchen, die an einer Besprechung des vorliegenden Falles interessiert sind…

  23. #23 ali
    März 25, 2012

    @MJ

    Der Jeffrey Goldberg hat so seine Phasen scheint es mir. Als “moderater Konservativer” (was heute in den US leider oft eine Chiffre für “not batshit crazy” ist) vertritt er meines Erachtens manchmal durchaus Positionen, die mich mit guten Argumenten etwas aus meiner Blase holen. Manchmal liegt er aber auch total daneben. Das passiert besonders oft, wenn er offensichtlich nur bedingt Ahnung, aber trotzdem eine spitze Meinung hat. Der Moynihan Artikel war wieder so ein Fall wo Goldberg mit seinem Lob in einen ziemlich grossen Hundehaufen getreten ist. Moynihans “Argument” baut auf einem Strohmann auf und lebt primär von seinen vermutlich sehr bescheidenen Kenntnisse rund um Frankreich. Es scheint mir mehr auf einem Reflex als auf Sachkenntnis zu basieren.

    P.S. Du bist auf Twitter? Wie kann ich dir folgen (oder tue ich das schon)?

    @alle

    Ich empfehle wärmstens den von MJ verlinkten Kommentar von Olivier Roy in der New York Times. Man mag mit ihm einverstanden sein oder nicht aber zumindest an seinem “Expertentum” gibt es keinen Zweifel und er ist alleine deswegen eine wichtige Stimme die gehört werden muss.

  24. #24 MJ
    März 26, 2012

    @ Ali

    Ja, Goldberg könnte aber langsam einmal auffallen, dass er bei bestimmten Themen zu Schnellschüssen neigt und seine Phantasie überhand nehmen lässt: mir ist da auch die Episode eingefallen, wo er zu denen gehörte, die das Breivik-Attentat für einen “dschihadistischen” Anschlag hielten – Begründung, warum das passieren konnte inklusive – und dann ein ziemlich peinliches Rückzugsgefecht antreten musste. Es wäre ja angesichts solcher offensichtlichen Fehlleistungen nicht zu viel verlangt, dass er sich bei Vorliegen einer anderslautenden Meinung einmal fragt, ob ER vielleicht falsch liegt. Oder, wenn er die anderslautende Meinung schon nicht versteht, zumindest keine Misscharakterisierung vornimmt – ich meine, bei dem Twitter-Austausch ist er an Grundschul-Reading Comprehension gescheitert. Oder dass er, seiner vergangenen Fehlleistungen eingedenk, zumindest kein präpotentes “Come on, seriously.” anhängt, als wäre ein Irrtum seinerseits völlig ausgeschlossen. Aber nichts, gar nichts, völlig lernresistent…

    Nein, ich bin nicht bei Twitter, ich folge völlig unauffällig.

  25. #25 MJ
    März 26, 2012

    Ahaha! :

    https://www.lemonde.fr/politique/video/2012/03/26/sur-france-info-sarkozy-evoque-les-musulmans-d-apparence_1675983_823448.html

    Ich frage mich: Was hatte er im Kopf, das er da NICHT sagen konnte? “Keubla”? “Rebeu”? “Wesh wesh salope, c’è lui avec le gros zob”?

    Nein, nein, nein, nur keine Realitäten ansprechen, der Islam ist es!!!!!!!!!!!!!

  26. #26 MJ
    März 27, 2012

    Vor einem Jahr ist es in einer Schule in Rio de Janeiro zu einem Massaker in einer Schule durch einen ehemaligen 23jährigen Schüler gekommen, 12 Schüler sind dabei ums Leben gekommen, darunter der Mörder selbst, der sich nach einem Bauchschuss durch die Einsatzkräfte selbst das Leben nahm. Der Attentäter war als Zeuge Jehovas erzogen worden, hat sich aber im Vorfeld intensiv, aber völlig isoliert mit dem Islam beschäftigt (d.h. keine Moscheenbesuche, keine Kontakte zu anderen Muslimen, keine Reisen…) und hat Sympathie für verschiedene Anschläge, die nominell auf das Konto von Al-Kaida gehen, bekundet. Er hinterließ einen Brief, in dem er seine Bestattungswünsche kundtat – laut der “Nationalen Vereinigung Islamischer Körperschaften” Brasiliens sind diese Wünsche in Einklang mit islamischen Ritualen. Andere Theologen wiederum haben darauf hingewiesen, dass sich im Brief auch Elemente anderer Religionen finden, und dass der Brief letztendlich ein Mischmasch aus Elementen von verschiedenen Religionen ist. Man kann sich vorstellen, das dieses Thema plus Terrorismus in vielen der folgenden Diskussionen bestimmend war. Der Psychiater Daniel Martins de Barros hat kurz danach (der Brief war bereits bekannt) auf seinem Blog im “Estado de S. Paulo” einen Artikel über die psychiatrischen Hintergründe des Attentäters geschrieben. Obwohl eher auf ein Falschverständnis psychischer Erkrankungen aus, ist es erstaunlich, dass das Thema “Religion” als treibende Kraft hinter dem Attentat (was das ja bei “islamischem Terrorismus” Ausgangspunkt ist) darin nicht vorkommt. Außerdem zeigt er, warum es eine denkbar schlechte Idee wäre, aufgrund einer (angeblichen) psychischer Erkrankung jemanden eines zukünftigen Verbrechens zu verdächtigen. Ich habe einige Gedanken, was (bei allen offensichtlichen Unterschieden) eventuelle Parallelen zum Fall Merah anbelangt, bin aber natürlich diesbezüglich Laie – und da ich mir nicht sicher bin, ob ich da nicht einfach etwas hineininterpretiere, will ich diese jetzt gar nicht vorbringen, sondern wäre interessiert, ob eventuell Mitlesende auch welche sehen – und welche das wären. Im folgenden habe ich den gesamten Blogeintrag übersetzt, das Original (portugiesisch), findet sich im Link; wo ich gröbere Nicht-Standard-Paraphrasierungen vorgenommen habe, habe ich die “lineare” Übersetzung in eckigen Klammern angegeben:

    https://blogs.estadao.com.br/daniel-martins-de-barros/o-massacre-de-wellington-e-a-psiquatria-forense/

    “Das Massaker von Wellington und Forensische Psychiatrie”

    Nach vielen Interviews, glaube ich, ist die Zeit gekommen zu versuchen, meine Ideen und Eindrücke zum Massenmord zusammenzufassen, das sich in der Munizipal-Schule Tasso de Silveira, in Realengo, in Rio de Janeiro, zugetragen hat. Fernsehen, Printmedien, und Radio editieren letztendlich immer das Material und kürzen stark Interviews stark und folglich, wenn Sie wirklich eine tiefgründigere Analyse des Verbrechens von Wellington Menezes de Oliveira kennen wollen, schlage ich vor, dass Sie ein wenig Geduld aufbringen und den ganzen Artikel lesen.

    Was wir an Konkretem haben

    Er war sehr introvertiert, in einem Ausmaß das aufmerksam machte: er hatte keine Freunde, offenbar hatte er nie eine Freundin, Bekannte sagen, dass wenige im Leben seine Stimme gehört haben. Anders gesagt: das Muster seiner sozialen Interaktion entsprach zweifelsohne nicht der Norm [ war verschieden vom normalen]. Es lässt sich mit einiger Sicherheit folgern, dass dieses exzentrische Verhalten schädlich war, da wir wissen, dass er tatsächlich Opfer von Spott, Erniedrigungen und Ausgrenzung in der Schule war, laut Aussagen von ehemaligen Klassenkollegen. Diese Charakteristika zeigen einen dysfunktionalen Standard persönliche Beziehungen aufzubauen.

    Seine Schwester erzählt, dass sein Verhalten einen Hang zum religiösen Fanatismus zeigte [dass er Verhaltensweisen hatte mit einem Hang zum religiösen Fanatismus]. Wie es scheint wurde er als Zeuge Jehovas erzogen, und nach dem Tod der Adoptivmutter hat er sich dem Islam angeschlossen. Unabhängig von der religiösen Ausrichtung und vom Inhalt seines Glaubens, was aufmerksam machte war die Tatsache, dass er Stunden über Stunden vor dem Computer mit religiöser [mystischer] Lektüre verbrachte, Tag und Nacht.

    Schließlich gibt es den Brief. Obwohl der Inhalt, der konfus religiöse Elemente und Fragen familiären Auseinandersetzung vermengt, seltsam ist, ist der Text grammatikalisch in Ordnung [grammatikalisch gerettet], von verständlicher Sprache, formell kohärent, und ist augenscheinlich nicht der Diskurs einer völlig von der Realität abgekoppelten Person. Man kann von daher auch bestätigen, dass er wusste was er tun würde, auch dass er sterben würde, wenn er sich darauf bezieht wie er seine Bestattung möchte und dass er will, dass jemand um Verzeihung bittet dafür, was er tat.

    Was sich über ihn sagen lässt

    Von den Anhaltspunkten aus, die wir konkret kennen, ist es nicht unmöglich zu schließen, dass Wellington eine mentale Störung aufwies. Warum? Weil mentale Störungen (negative) Veränderungen im Verhalten, im Denken, in Affekt oder einem anderen Aspekt des mentalen (Er)lebens sind, die klar schädlich sind, aber die sich der Kontrolle des Individuums entziehen. Es ist wichtig zu sagen, dass ich dies ohne dem Verbrechen Rechnung zu tragen folgere. Ein Verbrecher, selbst ein sehr grausamer, kann nicht einfach in Anbetracht seines Verhaltens krank genannt werden, denn bis das Gegenteil bewiesen ist, ist dieses seine Wahl, es entzieht sich nicht seiner Kontrolle. Ich sage dies um zu bekräftigen, dass ich auf Basis der _Geschichte_ Welligtons spekuliere – und nicht des Verbrechens – dass er eine mentale Störung hatte. Dies ist fundamental, da die absolute Mehrheit von Patienten mit mentalen Störungen keine Verbrechen begeht – wenn sie in gewalttätige Situationen verwickelt sind, haben Sie eher ein Risiko Opfer als Täter [Schuft; Anm.: im Original eine stilistische Figur mit ‘vítima’ und ‘vilão’] zu sein. So bizarr der Akt auch sein mag, ein Verbrechen ist keine Diagnose [macht keine Diagnose].

    Obwohl wir in ihm ein gewisses Ungleichgewicht sehen und obwohl der Inhalt seines Textes [seiner Rede; Anm.: gemeint ist der Brief] entrückt erscheint, glaube ich nicht, dass er eindeutig psychotisch war, beziehungsweise dass er komplett seinen Verstand verloren hat, (dabei) völlig unfähig Realität und Einbildung auseinander zu halten. Und irgendeine Diagnose abzugeben ohne ihn gründlich untersucht zu haben (und ohne genügend Anhaltspunkte zu haben) wäre Raten.

    Was wir über diesen Typ Verbrechen wissen

    Massenmorde waren normalerweise ein an die Kultur gebundenes Phänomen, weit häufiger in den USA als an irgendeinem anderen Ort der Welt. In den letzten Jahren, jedoch passierten sie mehr und mehr in anderen Ländern.

    Ein Review der Literatur über Fälle von Massenmorden zeigt, das diese von Jugendlichen gegen Jugendliche verübten Verbrechen innerhalb von Schulen relativ rezent sind. Sie beginnen Mitte der 90er des vergangenen Jahrhunderts, dabei sind die 14 Verbrechen mit den meisten Toten im letzten Jahrzehnt aufgetreten, 8 davon in den USA. Man weiß auch, dass die Opfer zumeist Frauen und in praktisch 100% der Fälle Männer die Mörder sind, die selbst sterben, sei es weil sie sich umbringen, sei es weil sie sich in Situationen bringen, aus denen sie nicht mehr entkommen können [in ‘unenkommbare’ Situationen bringen]. Daher sind sie sogar schon als eine Form von Mord-Selbsmort [Homizid-Suizid] bekannt.

    Man weiß auch, dass diese Fälle in der Mehrzahl als Rache-Verbrechen klassifiziert werden können, wobei die Ausführenden Personen sind, die isoliert waren, ausgeschlossen und anonym in der Schule, nicht selten Opfer des so genannten Bullying. Es sind ziemlich gut geplante Verbrechen, mit spezifischen Zielen, umso detaillierter studiert je stärker auf Rache fokalisiert. Allerdings gibt es noch kein besser definiertes Profil wer diese Personen sind.

    Schließlich ist hinreichend bekannt, dass bei Massenmördern das Subjekt, das prädisponierende Faktoren aufweist, normalweise nach einem auslösenden Faktor zur Tat schreitet: es ist der beleidigte Beamte, der die Kollegen nach einer traumatischen Kündigung umbringt, oder der Familienvater, der nach einer Trennung alle im Haus tötet, zum Beispiel. Man kann sich vorstellen [stellt sich vor], dass die soziale Isolierung ebenfalls als Auslöser fungiert, den Mördern von Grenzen und Zügeln zu befreien, die man durch Interaktion mit Mitmenschen erlangt.

    Was man über das Verbrechen in Rio sagen kann

    Kohärent mit internationalen Daten folgt das Massaker von Realengo einigen Mustern: es war ein Massenmord in einer Schule, ausgeführt von einem Ex-Schüler, der Erniedrigungen durch einen Teil seiner Kollegen erlitt. Es war offensichtlich gut geplant, mit Voraussicht und Genauigkeit, und hatte den Ort, an dem der Ausführende ausgegrenzt [ein Ausgegrenzter] war, als klares Ziel.

    Die Tatsache, dass er eher Mädchen umgebracht und Buben verschont hat, die er ebenfalls als Opfer von Zurückweisung identifizieren hätte können (wie in seinem Ausspruch:”Sei ruhig, Fetter, damit ich dich nicht umbringe.”), gibt Spielraum für Interpretationen im selben Sinne – Rache gegen die, die zurückwiesen, dabei die Zurückgewiesenen verschonend.

    Das andere Muster, in das sich das Massaker von Rio einfügt, ist das Vorhandensein prädisponierender Faktoren, gefolgt von einem sehr allgemeinen Auslöser – Isolation – denn nach dem Tod der Mutter isolierte sich Wellington ein für alle Mal.

    Man kann auch schließen, dass sich diese Form von Mord, früher auf die nordamerikanische Kultur beschränkt, zur Zeit auf die Welt ausdehnt – der Fall von Rio reiht sich schon in die schwersten ein und hebt den Anteil der Länder außerhalb der USA, die Bühne solcher Morde sind.

    Was die Psychiatrie nicht erklärt

    Vor diesem Szenario und mit meinen Folgerungen, können wir sagen was der Grund für dieses Massaker war? War es die psychische Störung? War es das Bullying? Der Tod der Mutter?

    Ich habe keine Angst negativ auf alle diese Alternativen zu antworten. Eine psychische Störung verwandelt die Patienten nicht in Massenmörder. Wenn Ihr Kind mit einem Kollegen in die Schule geht, dessen Mutter schizophren ist, ist es nicht nötig, dass Sie sich ängstigen – eine solche Angst hebt nur die Vorurteile gegen die Psychiatrie und verstärkt den schädlichen Teufelskreis von Ausgrenzung. Dementsprechend ist es (zwar) traumatisierend, Opfer von Bullying zu sein, aber das alleine für sich transformiert ein Subjekt nicht in einen Kriminellen, dasselbe gilt für den Verlust von Vater oder Mutter.

    Obwohl die Gesellschaft begierig nach einer Erklärung sucht, müssen wir einfache Erklärungen vermeiden, die den Eindruck erwecken, dass die Angelegenheit einfach [ruhig] gelöst werden kann, wenn wir an diesem oder jenem Schräubchen drehen [wenn wir behandeln (subj.) mit dieser oder jener Variabel]. So angsteinflößend es sein mag, wir müssen der Tatsache ins Gesicht sehen, dass es sich um ein extremes Verbrechen handelt, resultierend aus einer Kombination aus kulturellem Einfluss, sozialer Misere, mentaler Prädisposition und anderer Faktoren, die wir uns nicht einmal vorstellen (können), wodurch es unter dem beängstigendem Schleier [Umhang] der Unvorhersehbarkeit bleibt.

    Was die Psychiatrie erklärt?

    1912 erfand der schweizer Psychiater Hans W. Maier einen Begriff, der bis heute in der Psychiatrie verbleibt: die Katathymie, was soviel bedeutet wie “im Einklang mit den Emotionen”. Seine These war dass unbewusste Konflikte, mit großer emotionaler Last, zu Störungen der Wahrnehmung der Realität führen könnten. Der deutsche Psychiater Fredric Wertham hat das Konzept 1937 wieder aufgegriffen, um das Verhalten von Individuen zu beschreiben, die sehr gewaltsame Akte begangen haben, die aber nicht Folgen von mentalen Erkrankungen oder psychopathischen Persönlichkeiten waren. Seine Intention war die Motivationen zu verstehen, die mentale Dynamik hinter diesen Akten, und zu diesem Zweck griff er den Begriff des katathymischen Zustandes wieder auf: er glaubte nicht, dass der emotionale Zustand allein für sich zum kriminellen Akt führt, sondern dass sehr intensive Emotionen zu affektiv geladenen und entrückten Ideen führen, üblicherweise ein starkes Verlangen, große Angst oder ambivalente Spannung, und dies verzerrt schließlich den Gedankenfluss. Die “katathymische Krise” würde auftreten, wenn “das Gleichgewicht zwischen Logik und Affektivität gestört sei”, in seinen Worten. Die Intensität der Affekte der Person in Bezug auf ein gegebenes Thema seien derartig intensiv, dass sie das Urteilsvermögen, Denken, die gesamte Psyche verzerren.

    Zu Beginn dieses Phänomens kreiert eine traumatische Erfahrung einen intensiven Konflikt ohne Lösung im Verstand der Person, was sie zur Schlussfolgerung führt, dass “ein Gewaltakt gegen jemand anderen oder gegen sich selbst der einzige Ausweg ist”. Diese Schlussfolgerung wird vom Gefühl begleitet, bald zur Tat schreiten zu müssen, aber die Person kämpft gegen den Wunsch, und benachrichtig/konsultiert dabei oft Freunde, Lehrer oder Therapeuten (heutzutage Texte und Videos im Internet veröffentlichend, wie wir uns vorstellen können), und schiebt die Gewalt auf einen variablen Zeitpunkt auf, bis der Konflikt unerträglich wird und das Verbrechen – das normalerweise symbolischen Charakter hat und irgendeine Art von Beziehungsproblem beinhaltet – geschieht schließlich. Selbstmordgedanken, die sich den Mordgedanken normalerweise beimengen, führen schließlich auch zum Tod des Kriminellen.

    Zusammenfassend

    Zusammenfassend haben wir es mit einem Jungen zu tun, der, unter etwas leidend, das seine sozialen Interaktionen erschwert, in einen Teufelskreis von Erniedrigung gelangt, was zu mehr Isolation führt, was wiederum zu mehr Ausgrenzung führt, und so weiter und so fort. Die wachsende Abneigung, die er akkumuliert, trifft auf günstiges Terrain, um in seinen Gedanken zu gedeihen, die sich schon auf prekäre Art eingependelt haben. Der Konflikt stellt sich ein und wächst bis zu einem Punkt, an dem dieser emotionale Zustand sein Geistesleben bestimmt. Die Katathymie führt dazu, dass “das Denken des Patienten wahnsinnige Züge annimmt, mit markanter Starrheit und dem logischen Urteilsvermögen unzugänglich”, wie es in der Original-Beschreibung Werthams steht. Der Racheplan wird zwingend, und wenn ein neuer Stressfaktor auftaucht (der Tod der Mutter oder die totale Isolierung), äußert sich die katathymischer Krise im Massaker.

    Ohne exakt den psychischen Zustand des Mörders zu kennen, versucht man ihn zu verstehen, indem man bekanntere mentale Störungen anführt, wie Schizophrenie, was sich in der Mehrheit der Fälle von katathymischer Krise als falsch herausstellt.

    Das ist es, was ich bisher zusammengetragen habe. Neue Informationen können Teile dieser Ideen umstoßen, oder sogar ihren gesamten Aufbau. Das ist kein Problem, so ist Wissenschaft.”