“Die spinnen, die Römer!” An dieses Bonmot des dicken, Verzeihung, stark gebauten Galliers musste ich denken, als ich letztes Woche den Kommentar von John Cassidy im New Yorker Magazin gelesen habe. Unter dem Titel “Is America Crazy?” (Spinnt Amerika?) denkt er über die Schiesserei von letzter Woche nach und dem offenbar unbeirrbaren Glauben weiter Teile der Bevölkerung, dass eine Änderung der Waffengesetz nicht zur Diskussion stehen darf.
Als Ausgangspunkt dient ihm ein Zitat aus einem anderen Artikel zum Thema von seinem Kollegen Adam Gopnik.
Every country has, along with its core civilities and traditions, some kind of inner madness, a belief so irrational that even death and destruction cannot alter it.
Jedes Land hat, zusammen mit seinen Kern-Umgangsformen und Traditionen, eine Art inneren Wahnsinn, ein Glaube so irrational, dass nicht einmal Tod und Zerstörung diesen zu ändern mag.
Cassidy argumentiert, dass es seines Erachtens mehr als nur einen solchen Glauben gibt. Er könne eine ganze Liste davon erstellen. Er bietet dann auch eine Liste von 10 solche Glaubensätzen, die seines Erachtens typisch für die US Bevölkerung sind. Er rückt, so scheint mir, ein wenig vom Hintergrund von “Tod und Zerstörung” ab. Es sind eher Aussagen die vermutlich von einer klaren Mehrheit der Bevölkerung als unverrückbare Wahrheiten empfunden werden. Einige davon, so glaube ich, sind universell und nicht wirklich US spezifisch (wir alle kennen eine zumindest schwächere Form des US-amerikanischen exceptionalism zum Beispiel).
Der Eintrag hat mich das dazu angeregt, darüber nachzudenken, was solche “Polit-Dogmen” für die Schweiz wären. Hier ein paar Vorschläge, wo man solche Glaubensätze finden könnte (einige davon sind vermutlich nicht nur helvetisch):
- Ein Volks-Mehrheitsentscheid ist immer richtig und darf in keinem Fall in Frage gestellt werden
- Unsere Form der Demokratie ist die beste.
- Der Volksentscheid ist absolut. Keine andere Gewalt darf einen solchen ändern.
- Jede Reduktion von direkten Volksrechten ist per Definition eine Verschlechterung.
- Nur eine Milizarmee kann Garantin für innere und äussere Sicherheit sein.
- Menschenrechtsverletzungen sind das, was andere tun. Wenn der Schweiz solche vorgeworfen werden, handelt es sich um politisierte äussere Einmischung und muss gegenstandslos sein.
- Eine Abgabe von Souveränität ist immer etwas negatives.
- Neutralität ist ein unabänderliches, absolutes Konzept.
- Die Schweiz ist ein leuchtendes Beispiel für das friedliche Zusammenleben verschiedener Kulturen. Dies gilt nicht mehr, wenn es um Zuwanderung geht.
- Machtpolitik ist der Schweiz fremd (jeglicher Druck aus dem Ausland gegen die Schweiz ist hingegen solche und darum doppelt unfair).
- Landwirtschaft ist in jedem Fall schützenswert (dazu gehören Mythen von Naturnähe und Erdverbundenheit, unverdorben vom “schlechten” Stadtleben).
- Es ist eng in der Schweiz und wir sind an der Kapazitätsgrenze.
- Echte Schweizerin, echter Schweizer kann man (fast) nicht werden. Man muss als solche/solcher geboren sein.
Wie Cassidy schreibt, geht es nicht darum ob diese Aussagen “wahr” sind oder nicht (einige davon können es durchaus sein), sondern der unverrückbare Glaube, dass sie es sind, den keine Form von Gegenbeleg erschüttern kann oder ein zaghaftes Zweifeln in Gang setzen könnte. Es ist in gewisser Weise ein Verweigerung einer grossen Gruppe sich überhaupt auf eine Diskussion darüber einzulassen.
Was gibt es da anzufügen oder gehört nicht auf die Liste? Was würdet ihr auf eine solche für Deutschland oder Österreich setzen?
Bildquelle: Daniel Schwen, wikimedia commons
Kommentare (23)