Die Sorgen der Bevölkerung müssen ernst genommen werden. Kaum eine Politikerin oder ein Politiker will dem widersprechen. Schliesslich stehen die ernst genommen Sorgen der Bevölkerung zwischen ihnen und der Arbeitslosigkeit. Es ist auch ein beliebter Zusatz um Positionen zu vertreten, bei denen es einem vielleicht doch nicht ganz geheuer ist, sich voll dahinter zu stellen. Ganz paternalistisch versteckt man sich dann hinter dem titelgebenden Satz. Ich teile zwar die Meinung dieser Leute nicht, aber man sollte ihre Sorgen ernst nehmen.
Hier eine Erklärung, warum man die Sorgen der Bevölkerung manchmal nicht ernst nehmen sollte.
Zuerst ein kleiner Vorbehalt. Der Satz kann natürlich auf zwei verschiedene Arten verstanden werden. Wenn es beispielsweise möglich ist, so viele Leute hinter einem Pegida Banner zu mobilisieren und für Anliegen zu marschieren, die sonst von extremen Parteien gefordert werden, gibt es auch in meinen Augen gute Gründe, die Bewegung ernst zu nehmen. Jedoch aus der Anerkennung, dass da ein Unbehagen besteht folgt nicht, dass dieses Unbehagen auch gerechtfertigt ist. Dies Annahme steht hinter der zweiten möglichen Bedeutung des Satzes (und wohl jene, wie er meist verwendet wird). Wenn dieses Verständnis darauf hinausläuft, auf Forderungen einzugehen, dann ist die Konsequenz meist das, was man in der ersten Interpretation verhindern möchte: Dass extreme Positionen im politischen System durchgesetzt werden.1
Ich gehe für diesen Eintrag von der zweiten Interpreation aus (d.h. der Inhalt soll ernst genommen werden). Ich möchte in diesem Eintrag darlegen, warum das problematisch sein kann. Was ist nämlich, wenn die geformte Meinung dieses schwammigen Kollektivs (“die Sorgen der Menschen”) auf falschen Annahmen beruht? Wenn so politische Massnahmen ergriffen werden, dann sind diese im harmlosesten Fall ineffektiv und eine Resourcenverschwendung. Im schlimmsten Fall wird die Demokratie untergraben und/oder unbeteiligten Leid zugefügt.
Das Phänomen ist in der Politikwissenschaften bekannt. Zum Beispiel zeigen die meisten Umfragen, dass ein grosser Teil der Menschen in den OECD Staaten, den Prozentsatz des Staatshaushaltes der für Entwicklungshilfe ausgeben wird, massiv überschätzt. Fallenden Kriminalitätsraten stehen im Widerspruch zu einem steigenden Unsicherheitsgefühl. Häufig steht der Fremdenfeindlichkeit in einem umgekehrten Verhältnis zur effektiven Grösse der ausländischen Wohnbevölkerung.
Ein sehr gutes Beispiel für eine solche Lücke zwischen Fakten und Wahrnehmung ist mir nun in einem Blogpost bei Duck of Minerva begegnet. Die Angst vor der “Islamisierung Europas” ist nämlich ein ausgezeichnetes aktuelles Beispiel für eine Meinung auf der Basis von inkorrekten Annahmen. Zuerst eine Infografik aus dem Economist:
Quelle: The Economist, Daily Chart
Wie man sieht, wird der Anteil der muslimischen Bevölkerung konsequent überschätzt. Es ist wohl plausibel anzunehmen, dass auch somit ein allfälliges Bedrohungspotential, wenn man an ein solches glaubt, überschätzt wird. Wenn man hingegen die Frage des Terrorismus auf dem europäischen Kontinent anschaut (oben rechts), sieht man ebenfalls, dass der religiöse Terrorismus, eigentlich das kleinere Problem ist, will man aus den sowieso tiefen Zahlen unbedingt eine Bedrohung herauslesen).
Saideman hatte Zahlen aus einer Vorlesung von ihm ausgegraben, die zeigen, dass dies ein allgemeines Phänomen ist (leider konnte er die Quelle dafür nicht mehr finden). Die Tabelle zeigt, wie die verschiedenen Gruppen in den USA jeweils die Grösse der anderen einschätzt.2 Wie man sieht, werden Minderheiten systematisch überschätzt und die Mehrheit wird systematisch unterschätzt. Dies hat wohl mit der Wahrnehmung des “andern” und des “fremden” zu tun. Die Angst, der Schritt zur Xenophobie ist da nicht mehr weit. Vielleicht ist diese Fehleinschätzung sogar schon eine Konsequenz davon. Dies ist auf jeden Fall eine gefährliche politische Nährlösung.
Quelle: Steve Saideman auf Duck of Minverva
Wenn wir also aufgefordert werden, die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen, dann muss man nachfragen, inwiefern diese Sorgen eine Basis in der Realität haben (auch dafür braucht es übrigens die Sozialwissenschaften). Masse ist nicht gleich Rechthaben und darum ist nicht jeder Mehrheitsentscheid auch per Definition gut. Die Fähigkeit solche “schlechten” Mehrheitsentscheide zu verhindern, zeichnen eine funktionierende Demokratie aus. Die von populistischer Seite oft geforderte direkte Demokratie, meint in daher eine radikale Variante davon, die wohl besser als Mehrheitsdiktatur bezeichnet werden sollte. Diese mag man spätestens dann nicht mehr, wenn man selber Opfer eines Willkürentscheides wird.
1Wenn die Empathiefähigkeit beim Pegida-Beispiel streikt, kann man sich auch vorstellen, man hätte Ende 60er den Springer-Verlag verstaatlicht. Gleiche Logik, andere Seite.
2Die Zahlen stammen aus den 80ern. Ich nehme an, dass besonders in Bezug auf die asiatische Minderheiten und wohl auch die Hispanics sich die Wahrnehmung inzwischen verschoben hat. Die effektiven Zahlen sowieso.
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