Die Forderung nach Volksbefragungen ist populär. Sie kommt in der Regel immer dann, wenn die Fordernden überzeugt sind, auf der “richtigen” Seite der erwarteten Antwort zu stehen. Gerade populistische Parteien schreiben sie sich gerne in ihre Manifeste. So spricht man dem Volke nach dem Munde. Als marginale Partei riskiert man meist auch nicht, effektiv mit einer Umsetzung der Forderung zu regieren.
In der Schweiz ist es im politischen Diskurs gar zum argumentativen Totschläger mutiert: Die Mehrheit hat immer Recht! Das Volk hat gesprochen und basta! Das Dogma darf nicht angezweifelt werden. Blasphemie wird nicht geduldet.
Regelmässige Leser_innen hier wissen, dass es ein Pet Peeve (gibt es da einen deutschen Ausdruck dafür?) von mir ist: Demokratie ist mehr als 50% plus eine Stimme. Und selbst ein ursprünglich so radikales Projekt wie die Schweizer direkte Demokratie strotzt nur so von offiziellen und inoffiziellen Quoten, Bremsen, Minderheitenschutzklauseln, Ausnahmen usw. Systeme die gar nicht um Volksentscheide herum konstruiert wurden, sind daher noch viel grösseren Risiken ausgesetzt, durch einfache Mehrheiten das Demokratie-Kind mit dem Referendum-Bad auszuschütten. Aktuell kommt mir da das Vereinigte Königreich in den Sinn. Cameron steckt nach den überraschend gewonnen Wahlen nun mit dem von einem britischen Komiker treffend als das “Nigel Farage Memorial Referendum” bezeichneten Problem fest.
Um so mehr hat es mich gefreut, dass der Staatsrechtler und langjährige Parlamentarier für meinen Geburtskanton René Rhinow bei der Neuen Zürcher Zeitung einen Gastkommentar zum Thema verfasst hat, der vieles sagt, das man in der Schweiz sonst öffentlich selten und in der Politik fast gar nie hört. Die Kommentare unter dem Artikel muss man hingegen nicht lesen. Es handelt sich bei den meisten um das Äquivalent von “ICH HABE TROTZDEM RECHT, ALLES WAS DU SAGST TAUSEND MAL AUF DICH ZURÜCK, NICHTS GEHT MEHR! [Finger in die Ohren] LA-LA-LA-LA”.
Hier ein paar Zitate von Rhinows Kommentar, aber am besten liest man den ganzen Artikel.
Demokratie und Rechtsstaat sind eng miteinander verwoben und bedingen sich gegenseitig. Es geht um die Bindung aller Staatsgewalt an das Recht, die Geltung der Menschenrechte, die Teilung und Kooperation der Gewalten sowie die Unabhängigkeit der Justiz. (…)
Denn es kann und darf nicht davon ausgegangen werden, dass mit einer singulären und punktuellen Verfassungsänderung die Grundwerte unseres Gemeinwesens ausgehebelt worden sind. Diese Problematik ist vor allem bei jüngeren Volksinitiativen relevant geworden.(…)
In der Schweiz gehört auch das Völkerrecht, welches vor allem Vertragsrecht (wie zum Beispiel die EMRK) darstellt, zu unserem Recht, wenn es allgemeingültig oder von der Schweiz nach den festgelegten Regeln unserer Verfassungsordnung übernommen worden ist. Dieses ist somit demokratisch legitimiert, ob nun beim Vertragsschluss eine Referendumsmöglichkeit vorgesehen war oder nicht. Es ist folglich kein fremdes Recht, und die Richter der EMRK sind auch keine fremden Richter.(…)
[E]s gibt mindestens fünf Dimensionen des Volkes: die Bevölkerung (alle sich in der Schweiz aufhaltenden Menschen), das Schweizervolk (alle Menschen mit Schweizer Bürgerrecht), die Stimmberechtigten, die Teilnehmenden an einer Abstimmung sowie schliesslich die obsiegende Mehrheit. (…)
Wer für diese Offenheit der Reversibilität eintritt, respektiert unsere Demokratie. Wer einzelne Entscheide verabsolutiert und sakralisiert, missachtet sie letztlich. Eigentlich ist also die Frage, ob die Mehrheit immer recht hat, falsch gestellt. (…)
Recht zu haben, ist keine staatsrechtliche oder staatspolitische Kategorie.
Dem habe ich im Moment nicht viel beizufügen, ausser vielleicht für die mitlesenden aus Deutschland zu betonen, dass Rhinow nicht irgendeine dahergelaufene Linke Socke ist, die sich den Frust von regelmässigen Referenda-Niederlagen vom Herzen schreibt.
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